MH17: Prozess im Stillstand und wenig Interesse an Aufklärung

298 Menschen haben ihr Leben verloren, als am 17. Juli 2014 ein malaysisches Passagierflugzeug über der Ostukraine abgestürzt ist. Schnell haben Kiewer und westliche Politiker und Medien die angeblichen Schuldigen ausgemacht. Gerichtsfeste Beweise dafür fehlen bis heute. Das zeigt sich seit März auch beim MH17-Strafprozess gegen vier Angeklagte.

Am 17. Juli 2014 stürzte ein Passagierflugzeug der Fluggesellschaft Malaysia Airlines vom Typ Boeing 777 über der Ostukraine ab. Alle 298 Flugzeuginsassen der Maschine mit der Kennung MH17 kamen dabei ums Leben. Schnell wurde der Verdacht geäußert, ostukrainische Rebellen hätten das Flugzeug mit einer Luftabwehr-Rakete vom Typ Buk abgeschossen. Die Rakete soll aus Russland gekommen sein. Dafür gibt es bis heute keine gerichtsfesten Beweise, aber niederländische Sicherheitsbehörden und internationale Ermittler legten sich auf diese Version fest. Auf dieser Grundlage wurde Anfang März in Amsterdam ein Strafprozess gegen vier Angeklagte begonnen, der derzeit mit Unterbrechungen weiterläuft.

Die Niederlande sind die führende Kraft in den internationalen Ermittlungen und beim Versuch, den Vorgang juristisch aufzuarbeiten, da die meisten MH17-Passagiere von dort stammten. Von den bundesdeutschen tonangebenden Medien berichtet fast niemand von dem Prozess. Nur zu Beginn, am 9. März, gab es eine Reihe von Beiträgen, die vor allem die behauptete Schuld Russlands an der Katastrophe betonten. Das Online-Magazin Telepolis ist weitgehend das einzige deutsche Medium, das über den Prozess regelmäßig berichtet, während von der Nachrichtenagentur DPA immer mal wieder kurze Meldungen kommen.

Corona-Krise beeinträchtigt Prozess

Angeklagt sind die drei russischen Staatsbürger Igor Girkin, Sergej Dubinski und Oleg Pulatow sowie der Ukrainer Leonid Chartschenko. Ihnen wird vorgeworfen, als Teil der Befehlskette am angeblichen Transport des Buk-Systems aus Russland zum Abschussort und zurück beteiligt gewesen zu sein. Zugleich sind sie des Mordes an den 298 MH17-Insassen angeklagt. Sie bleiben der Gerichtsverhandlung fern und werden auch von ihren Heimatländern nicht ausgeliefert. Pulatow wird von einer Gruppe aus zwei niederländischen und einem russischen Anwalt vertreten, die aber den Meldungen nach bisher keinen direkten Kontakten zu ihrem Mandanten hatten.

Nach den ersten Verhandlungstagen im März wurde der Prozess in Folge der Corona-Krise verschoben und erst am 8. Juni wieder fortgesetzt. Das hatte nicht nur eine lange Pause zur Folge, sondern auch den weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien von dem Prozess. Nur einige Journalisten bekommen Zugang in den Gerichtssaal, in dem Abstandsregeln gelten. Zwar kann der Prozess per Live-Stream an den Verhandlungstagen verfolgt werden, doch die Aufnahmen werden nicht online archiviert. Auf der Webseite des Gerichtes gibt es jeweils nur Zusammenfassungen der Verhandlungen.

Die Medienagentur Ruptly überträgt die Verhandlungen jeweils live und lässt die Aufzeichnungen in ihrem Youtube-Kanal online zum Nachschauen stehen. Der seit 1989 in Russland lebende und arbeitende unabhängige US-Journalist John Helmer verfolgt den Prozess ebenfalls und schreibt darüber auf seiner Webseite.

Zweifel an offiziellen Ermittlungen

Das Online-Magazin Telepolis berichtete kurz vor Prozessbeginn von erneuten Leaks zu den Ermittlungen des Joint Investigation Team (JIT), die die beiden Journalisten Yana Yerlashova und Max van der Werff von „Bonanza Media“ veröffentlichten. Zuvor hatten beide schon berichtet, dass es nach einem Dokument des niederländischen Geheimdienstes in der Nähe der angeblichen Abschussstelle in der Ostukraine kein russisches oder ukrainisches Buk-System mit ausreichender Reichweite gegeben hat. „Ein Buk-System wurde bei den Separatisten ausgemacht, aber als funktionsunfähig bezeichnet und mit Fotos dokumentiert“, gab Telepolis die Erkenntnisse wieder.

„Weder dieser Bericht noch Zeugenaussagen, die auch gegenüber niederländischen Ermittlern von der Anwesenheit von Militärmaschinen zur Zeit des Abschusses sprachen, wurden in den JIT-Veröffentlichungen  erwähnt.“

Vor Prozessbeginn hätten die beiden Journalisten weitere Leaks und ein Video mit einem bereits vom JIT vernommenen Zeugen vorgelegt, der seine Aussage noch einmal bekräftigt habe, zwei Flugzeuge gesehen zu haben. Yerlashova und van der Werff hätten ihn noch einmal befragt.

Doch alternative Erklärungen für die MH17-Katastrophe spielen den Berichten nach in dem Prozess bisher keine Rolle, für die Ankläger sowieso nicht, aber bisher auch kaum für die Richter. Alles scheint auf die vorher festgelegte Schuld russischer Verantwortlicher ausgerichtet zu sein. Der niederländische Politikwissenschaftler Kees van der Pijl, Autor des Buches „Der Abschuss – Flug MH17, die Ukraine und der neue Kalte Krieg“ hatte wegen dieser vorab deutlich gewordenen Linie vor einem „Schauprozess“ gewarnt, der nur die angebliche russische Schuld beweisen wolle.

Fehlende Daten aus den USA

Moskau hat die offizielle Version des Unglücks, die auch von fast allen westlichen Medien übernommen wurde, stets als politisch motiviert zurückgewiesen. Überdies seien die Ermittlungen von Anfang an in rechtsstaatlich unzulässiger Weise durchgeführt worden, mit dem Ziel einer Vorverurteilung Russlands. Die russische Regierung war nicht die einzige, die den Erklärungen und Ermittlungsergebnissen des JIT widersprach und widerspricht.

Unabhängige Ermittler, Experten und Journalisten, aber auch die malaysische Regierung äußerten erhebliche Kritik und legten umfangreiches Material vor, dass begründete Zweifel an der JIT-Version dokumentierte und den Verdacht nährte, dass die Ermittlungen mit Vorurteilen und politischen Zielen geführt worden waren und schwere rechtsstaatliche Mängel aufweisen.

Für kurze Aufmerksamkeit sorgte laut Telepolis, dass der Vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis bereits im März von der Staatsanwaltschaft wissen wollte, ob sie die angeblich vorhandenen US-Satellitenbilder von der MH17-Katastrophe vorlegen wird.

„Der Richter bezog sich auf den Satellitenexperten Marco Langbroek, nach dem die USA Satellitenbilder haben soll, die den Abschuss der Rakete zeigen sollen und die dem niederländischen Geheimdienst bekannt seien. Langbroek trat in der Anhörung des Ausschusses auf. Interessanterweise sagte er auch, dass auch Frankreich und Deutschland die Fähigkeit hätten, Raketenstarts in der Ukraine festzustellen.“

Doch bis heute bekam niemand die angeblichen US-Satellitenaufnahmen zu Gesicht, von denen der damalige US-Außenminister John Kerry kurz nach der Katastrophe sprach, wie Telepolis ebenfalls berichtete. Auch mögliche Aufnahmen oder Radardaten anderer Länder würden entweder nicht vorliegen oder seien unvollständig, so die Daten aus der Ukraine. Als einziges Land habe Russland bisher seine entsprechenden Radardaten zur Verfügung gestellt, doch die würden keine Rakete, aber ebenso keine anderen Flugzeuge bei der MH17-Maschine zeigen.

Unbeachtetes Angebot von Privatermittler Resch

Der niederländische Anwalt Baudewein van Eyck, der die Angeklagten mit vertritt, hatte laut RIA Novosti bei der Verhandlung am 22. Juni erklärt, die Nato müsse Aufnahmen ihrer Awacs-Überwachungsflugzeuge von dem Unglück haben, die zu dem Zeitpunkt in der Nähe waren. Die Nato habe zwar dem niederländischen Militärgeheimdienst keine entsprechenden Informationen bereitgestellt, „aber dies bedeutet nicht, dass die Nato nicht über solche Daten verfügt“, sagte van Eyck. Von den wegen des Konflikts in der Ukraine über den Nato-Staaten Polen und Rumänien patrouillierenden Awacs-Aufklärungsflugzeugen befanden sich nach Angaben der Nato zum Zeitpunkt des Absturzes zwei Maschinen in der Luft, hatte die Nachrichtenagentur AFP am 18. Juli 2014 gemeldet.

Bis heute bleibt auch das Angebot des Privatermittler Josef Resch unberücksichtigt, ihm vorliegende Informationen zur MH17-Katastrophe dem Gericht öffentlich und im Beisein der Medien zu übergeben. Resch hat 2014 für einen anonymen Auftraggeber mit Hilfe einer Millionen-Prämie nach Informationen gesucht, die den Absturz aufklären helfen. Im Juni 2015 informierte der Privatermittler, dass der Auftrag erfüllt sei.

Resch hatte sich vor einem Jahr an das JIT sowie dessen Leiter, Staatsanwalt Fred Westerbeke, gewandt. Er bot seine Hilfe an, die Katastrophe endgültig aufzuklären – durch die Fakten, die ihm 2014 der Informant übergab. Die ihm vorliegenden Beweismittel wollte er im Rahmen einer öffentlichen Aussage an das JIT komplett übergeben: „Aus Gründen unserer eigenen Sicherheit halten wir es dabei für erforderlich, dass bei unserer Aussage und Offenlegung der Beweismittel auch internationale Medien sowie Vertreter der betroffenen Staaten mit anwesend sind“, heißt es in dem Brief von Resch an das JIT. Das Schreiben und die Anhänge sind inzwischen auf der Website des Privatermittlers online einzusehen.

Auch mediales Schweigen

Doch das JIT wollte anscheinend nichts davon wissen und ließ über die niederländische Staatsanwaltschaft wissen, dass es das Angebot zu den Bedingungen des Ermittlers nicht annehmen könne. Der Anwalt von Resch bot im November 2019 der niederländischen Staatsanwaltschaft zum zweiten Mal an, dass der Privatermittler und sein Mitarbeiter als Zeugen vor Gericht zur Verfügung stünden. „Bei einer öffentlichen Gerichtsverhandlung würden wir als Zeugen unser Beweismaterial, das wir haben, offenlegen“, erklärte Resch in einem Interview.

„Wir würden das Material nur vor den Richtern offenlegen, nicht mehr vor der Staatsanwaltschaft. Da kam auch keine Antwort mehr.“

Der Prozess bleibt weiter bisher ergebnislos und wirkliche Beweise für die Schuld der Angeklagten und die angebliche Verantwortung Russlands wurden bisher nicht vorgelegt. Das Rätselraten um die Radar- und Satellitenaufnahmen vom 17. Juli 2014 geht weiter, während die US-Regierung sich fortgesetzt weigert, ihre Daten offenzulegen.

Resch erinnerte kürzlich gegenüber unserer Redaktion daran, dass er bereit wäre, entsprechende Informationen dem Gericht öffentlich zur Verfügung zu stellen:

„Wir können die restlichen Daten vorlegen, was angeblich die USA nicht kann, im Beisein der Anwälte, der Staatsanwaltschaft und der Öffentlichkeit und zusätzlich des Informanten, der die Beweiskette und die belegbaren geheimen Dokumente, Audioaufzeichnungen, original handschriftlichen Aufzeichnungen usw. besorgt hat und dafür auch die 15,5 Millionen in Dollar, Schweizer Franken und Euro bekommen hat.“

Der Bundesgerichtshof (BGH) sowie die Generalbundesanwaltschaft seien durch seine Vernehmungen samt angedrohter Beugehaft sowie bezahltem Zwangsgeld in der Angelegenheit informiert, betonte Resch. Er habe den Eindruck, dass er medial zur „persona non grata“, zu unerwünschten Person, erklärt wurde, nachdem er im Dezember 2016 dem BGH schriftlich zu erkennen gab, dass die Bundesregierung in der Sache MH17 involviert sei.

Verteidigung mit defensiver Linie

Der Privatermittler wies ebenso daraufhin, dass er als Zeuge bereitsteht, falls es zu einem verfahren wegen einer Klage von Angehörigen deutscher MH17-Opfer vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof kommt. Die hat der auf Luftfahrtsfragen spezialisierte Rechtsanwalt Elmar Giemulla bereits 2017 eingereicht und auch bereits Resch als Zeugen benannt.

Auch in dem Fall sei er bereit, alle ihm vorliegenden Informationen vor Gericht offen zu legen, wie er gegenüber unserer Redaktion betonte.

„Auch da sind normalerweise unsere Beweise unumgänglich, um den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn es gegen die Ukraine um die Sperrung des Luftraums oder Flughöhe geht.“

Aber selbst die Verteidigung der vier Angeklagten im Strafprozess in Amsterdam hat bisher nicht die Möglichkeit genutzt, den Privatermittler als Zeugen aufzurufen, was ihr möglich wäre. Das Anwaltsteam verfolge eine „merkwürdig defensive Linie“, so der Politologe van der Pijl gegenüber Sputnik. Er befürchtet, ebenso wie Resch, politische Interessen im Hintergrund, die eine tatsächliche Aufklärung der MH17-Katastrophe verhindern wollen.

Politisch motivierter Schritt

Das einzig wirklich Neue ist, dass die niederländische Regierung Russland nun vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen seiner Rolle beim mutmaßlichen Abschuss des Passagierfluges MH17 verklagen will. Das hatte die Regierung in Den Haag am 10. Juli erklärt. „Gerechtigkeit für die 298 Opfer beim Abschuss von Flug MH17 und ihre Angehörigen ist und bleibt die höchste Priorität des Kabinetts», erklärte Außenminister Stef Blok dazu laut DPA. Mit der sogenannten Staaten-Klage wolle die Regierung die Angehörigen unterstützen.

Für Prozessbeobachter van der Pijl ist dieser Schritt unter anderem deshalb fragwürdig, da der Strafprozess noch längst nicht abgeschlossen ist. „Ich denke, das hat mit den Wahlen zu tun“, sagte er gegenüber unserer Redaktion. „Wir haben im März 2021 Wahlen.“ Das russische Außenministerium kritisierte die Entscheidung. Dies sei ein weiterer Rückschlag in den Beziehungen zwischen beiden Ländern.