EU-Spitzenpolitiker ohne einheitliche Strategie für Digitalisierung – Studie

Die Digitalisierung der gesellschaftlichen Bereiche gilt als eine der Antworten auf die Corona-Krise. Das ist in der Bundesrepublik ebenso zu vernehmen wie in den Ländern der Europäischen Union (EU) und anderswo auf der Welt. Doch wie sieht es bisher damit aus, nachdem schon seit Jahren davon gesprochen wird, dass das der Weg in die Zukunft sei?

Die Staaten der Europäischen Union (EU) liegen in Sachen Digitalisierung hinter den USA und China zurück. Das zeigt sich nicht nur an Daten aus der Wirtschaft, sondern auch an den Aktivitäten der führenden Politiker der EU-Mitgliedsländer. Darauf machte Philip Meissner vom „European Center for Digital Competitiveness“ (ECDC) am Mittwoch in Berlin aufmerksam. Er ist Professor an der ECSP Business School in Berlin und präsentierte gemeinsam mit seinem Kollegen Christian Poensgen den „Digital Engagement Report 2020“.

„Digitalisierung ist mehr als 5G und Netzausbau“, betonte Meissner. Doch der Report zeigt, dass Politiker in der EU wie Bundeskanzlerin Angela Merkel aber genau diese eingeschränkte Sicht darauf haben. Das wird anhand der öffentlichen Aktivitäten von Merkel und den anderen Staats- und Regierungschefs der EU-Länder zum Thema deutlich, wie Poensgen und Meissner erklärten. Ebenso zeige sich, dass es bei den jeweiligen nationalen Führungskräften sehr unterschiedliche Schwerpunkte und Perspektiven in Fragen der Digitalisierung gibt.

Estlands Premier an der Spitze

Für den Report wurden alle digitalen Aktivitäten der EU-Staats- und Regierungschefs im Jahr 2019 ausgewertet. Grundlage waren den Angaben nach alle öffentlich zugänglichen Informationen von den Regierungen selbst, aus der Presse und persönlichen Berichten von Politikern auf der Social-Media-Plattform Twitter. Diese wurden dann nach dem inhaltlichen Schwerpunkt dieser Aktivitäten (5G, Künstliche Intelligenz, Blockchain, Cloud Computer, Cybersicherheit, digitale Bildung, E-Government, Entrepreneurship, Gaming/E-Sports, Industrie 4.0, Mobilität, Quantencomputer und Robotik) bewertet.

An der Spitze liegen dabei nicht Kanzlerin Merkel oder Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, sondern der Ministerpräsident des kleinen Estland, Jüri Ratas. Er liegt mit 60 Aktivitäten im Vorjahr zu digitalen Themen vor Merkel (50) und Macron (42), vor allem durch Konferenzteilnahmen und politische Treffen zum Thema. Ratas und die bundesdeutsche Kanzlerin trafen dabei laut dem Report weniger mit Unternehmensvertretern zusammen als der französische Präsident. In den Aktivitäten folgten Niederlands Premier Mark Rutte (41) und Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (40).

Schwerpunktthemen für Spitzenreiter Ratas waren das elektronische Regieren und Verwalten, das E-Governement, sowie die künstliche Intelligenz. E-Government spiele ansonsten in der EU nur eine vernachlässigte Rolle. Merkel beschäftigte sich dem Report zufolge vor allem mit den Fragen der neuen Mobilfunktechnologie 5G, bei dem sie in den Aktivitäten europaweit vorn liegt. Im Bereich der Unterstützung für unternehmerische Aktivitäten (Enterepreneurship) führt der niederländische Ministerpräsident Rutte vor den Vertretern kleinerer EU-Staaten.

Digitale Bildung vernachlässigt

Für die Bundeskanzlerin sei das weniger ein Thema gewesen, so Poensgen. Für die sei neben 5G vor allem das Thema „Industrie 4.0“ wichtig gewesen, betonte er mit Blick auf die Daten. Insgesamt würden aber die Staats- und Regierungschefs wichtige Zukunftstechnologien vernachlässigen, so die Report-Autoren. Dazu zählen sie unter anderem die Entwicklung von Quantencomputern und die Robotik. Ebenso fänden die Mobilität der Zukunft und Cloud-Technologie „nur wenig Beachtung“.

Und: „Auch die digitale Bildung wurde von Spitzenpolitikern mit insgesamt nur 14 Aktivitäten aller 27 europäischen Staats- und Regierungschefs sehr wenig thematisiert“, wird mit Blick auf 2019 festgestellt. Umso mehr reden jetzt durch die Corona-Krise und den Folgen für die Bildungseinrichtungen Politiker umso mehr von der digitalen Bildung, ohne dass die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden.

Jeder verstehe unter dem weiten Begriff der Digitalisierung etwas anderes, sagte Meissner auf eine Frage zu den Ursachen. Es gebe bei den EU-Führungskräften unterschiedliche Sichten und verschiedene Prioritäten. Nur das Thema künstliche Intelligenz ist ein Schwerpunktbereich von vier Staats- und Regierungschefs, stellt der Report fest. Alle anderen Technologien würden bisher jeweils von einem sehr aktiven Politiker bevorzugt behandelt, während andere in dem jeweiligen Bereich weniger aktiv seien.

Digitale Strategie fehlt

„Zukunftspolitik in Europa ist immer noch ein Flickenteppich“, meinte er  und fügte hinzu:

„Wie gut Europa in der Lage ist, sich im Bereich der digitalen Technologien zu positionieren, wird seine zukünftige Wirtschaftskraft und geopolitische Position bestimmen.“

Meissner und Poensgen forderten „endlich einen einheitlichen und kraftvollen Ansatz, um dieses Thema in ganz Europa voranzutreiben“.

Beide sprachen sich für „eine digitale Strategie für Europa“. Sie verwiesen unter anderem auf das Vorbild USA, wo mit der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) eine zentrale Forschungsinstitution des US-Militärs wichtige Technologien entwickelte, so das Internet, und weiterhin entsprechende Entwicklungen vorantreibt.

Um aufzuholen müssten die EU-Regierungen einen einheitlichen Ansatz für die Digitalisierung entwickeln. „Angesichts des Ausmaßes der Aufgabenstellung und der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts brauchen wir europäisch einheitliche Prioritäten, um endlich groß angelegte Investitionen in Zukunftstechnologien zu ermöglichen“, erklärte Poensgen.