Am 1. Juli 1990 wurde in der noch bestehenden Deutschen Demokratischen Republik (DDR) die D-Mark der Bundesrepublik Deutschland (BRD) als Zahlungsmittel eingeführt. Damit begann die bereits im Januar des Jahres von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen Beratern beschlossene Währungs- und Wirtschaftsunion zwischen beiden deutschen Staaten.
In vielen Orten der DDR warteten Menschen schon in den späten Abendstunden des 30. Juni 1990 vor Banken und Sparkassen, um ab Mitternacht die ersten D-Mark-Scheine und -Münzen in den Händen halten zu können. Was damals zu zum Teil ekstatischen Freudeausbrüchen bei Einzelnen führte, während andere eher entsetzt waren über diesen „Sieg des Kapitalismus“, hatte eine interessante Vorgeschichte und lange nachwirkende Folgen.
Zu letzteren gehörte, dass die DDR damit bereits am 1. Juli 1990 aufhörte, ein eigenständiger und souveräner Staat zu sein. Der Weg hin zur Währungsunion und die Analysen der nachfolgenden Entwicklung sind in zahlreichen Büchern nachzulesen. Sputnik hat zum einen darin geblättert und zum anderen Historiker und Wirtschaftswissenschaftler gefragt, wie sie das Ereignis vor 30 Jahren einschätzen.
Fehlende Folgenabschätzung
Der Bremer Ökonom Rudolf Hickel hatte gemeinsam mit dem Darmstädter Fachkollegen Jan Priewe in dem bereits 1991 veröffentlichten Buch „Der Preis der Einheit“ das Ereignis analysiert. Beide stellten fest, dass auf Seiten der Bundesregierung eine „dilettantische Politik unter dem Regime dieses ‚monetären Urknalls‘“ umgesetzt wurde. Dabei seien die Folgen ignoriert worden, vor allem was die ökonomische Transformation Ostdeutschlands betraf, für die es keinerlei Planungen gegeben habe.
„Nicht einmal gröbste Abschätzungen der Wirkungen dieser D-Mark-Transplantation sind angestellt worden. Kritiker, die früh auf die schwere Transformationskrise hinwiesen und ein langjähriges Konzept der deutschen Integration einklagten, hat die Bundesregierung, jetzt wieder mit Unterstützung des beratenden wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstands zu verdrängen versucht. Mahner wurden als Miesmacher der deutschen Einheit diffamiert.“
In der Folge hätten aber jene, die den „monetären Urknall“ und den fehlenden Blick auf dessen Wirkungen kritisierten, recht behalten. Innerhalb weniger Monate sei „die Illusion von den Einigungsmachern ‚Mark und Markt‘, ergänzt durch eine spärliche öffentliche Finanzierung aus der staatlichen Kreditaufnahme“, zusammengebrochen. Die westdeutsche Politik habe das Ausmaß der Transformationskrise systematisch unterschätzt, schrieben Hickel und Priewe 1991.
Zerstörerischer „Aufwertungsschock“
Am 1. Juli vor 30 Jahren wurde das, was die DDR-Bürger an Bargeld besaßen, im Verhältnis 1 zu 1 in D-Mark umgetauscht, ihre Spareinlagen prinzipiell im Verhältnis 2 zu 1. Die Preise für den privaten Konsum und die sonstigen Produktionskosten sowie Kredite der Betriebe wurden 1 zu 1 umgetauscht, während die Löhne und Gehälter erst nach massiven Protesten in der Noch-DDR ebenfalls in diesem Verhältnis in D-Mark ausgewiesen wurden.
Was zu Jubel bei vielen Menschen führte, erzeugte in den Betrieben und Einrichtungen, in denen sie arbeiteten, zu einem „Aufwertungsschock“, der sie oftmals in den Ruin trieb. „Dieser Aufwertungsschock hätte auch jedes andere Land in die Knie gezwungen“, so Hickel und Priewe.
„Die beschlossenen Umtauschsätze waren zwar ökonomisch katastrophal, nur diese ließen sich jedoch politisch durchsetzen.“
Wie das auf Seiten der Regierenden gesehen wurde, ist seit 1994 in einem Buch nachzulesen, das den Weg zur Währungsunion beschreibt: „Tage, die Deutschland und die Welt veränderten“, herausgegeben vom Journalist Manfred Schell und dem damaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU). Darin erinnerten sich verschieden Verantwortliche auf bundesdeutscher Seite daran, wie die Währungsunion entschieden und umgesetzt wurde, so unter anderem Waigel selbst, Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, der damalige Finanzstaatssekretär und spätere Bundespräsident Horst Köhler sowie dessen damals verantwortlicher Mitarbeiter Thilo Sarrazin.
Aussichtsloser Widerspruch
Der Finanzminister betonte in dem Buch im Vorwort:
„Versuche, sich gegen diese Entwicklung zu stemmen, waren aussichtslos“.
Das sei auch dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow bei seinem Besuch in Bonn im Februar 1990 klargemacht worden. Dabei hatte Waigel selbst noch im Januar des Jahres eine „künstlich aufgepfropfte“ Währungsunion mit der DDR auf D-Mark-Basis als „gefährlich und völlig falsches Signal“ abgelehnt, wie bei Hickel und Priewe zu lesen ist.
Köhler, der im Januar 1990 Finanzstaatssekretär unter Waigel wurde, berichtet in dem Buch, dass er Ende 1989 aus Gesprächen mit DDR-Vertretern, den Eindruck gewonnen habe, dass die Lage der DDR aussichtslos sei. So habe er sich bereits in den ersten Tagen des Jahres mit der Frage befasst, „unter welchen Bedingungen auch eine Einbeziehung der DDR in das Währungsgebiet der D-Mark zu einem Stichtag vorstellbar sei“. Waigel habe ihm Mitte Januar 1990 unter vier Augen gesagt, dass er es für möglich halte, dass die Entwicklung in der DDR zu einer Situation führe, die er mit dem Titel einer US-TV-Serie beschrieben habe: „Kobra übernehmen Sie“.
Daraufhin habe er seinen Mitarbeiter Gert Haller angewiesen, das Modell einer D-Mark-Direkteinführung in der DDR für eine Beratung im Ministerium Ende Januar vorzubereiten. Bei dieser habe Haller dann erklärt, es sei möglich, die D-Mark sofort in der DDR einzuführen. Dazu müssten nur die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Marktwirtschaft in dem zweiten deutschen Staat geschaffen werden. Er habe das unterstützt, so Köhler und seinen Referatsleiter Sarrazin als „scharfsinnigen, einsatzbereiten und loyalen Beamten“ gebeten, eine entsprechende Arbeitsgruppe zu leiten.
Vergiftetes Angebot
Am 6. Februar 1990 kündigte Kanzler Kohl dann öffentlich an, mit Modrow bei dessen Besuch eine Wirtschafts- und Währungsunion vorzuschlagen. Köhler entwickelte dazu nach eigener Aussage zusammen mit Haller und Sarrazin das entsprechende inhaltliche Konzept. Er meint im Buch, die Geschehnisse zwischen dem „Angebot“ von Kohl an Modrow und dem entsprechenden Staatsvertrag, der am 18. Mai 1990 zwischen der Bundesregierung und der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziere unterschrieben wurde, hätten sich „wie in einer Zeitmaschine in die Zukunft“ entwickelt.
„Fachliche Aufbereitungen für weitreichende politische Entscheidungen, die unter normalen Umständen auch von einer gut trainierten Ministerialbürokratie nur in vielen Monaten geleistet werden, mussten jetzt in wenigen Tagen, manchmal Stunden erledigt werden. Fehler in Einzelfragen konnten dabei nicht ausblieben. Doch niemals stieß ich in dieser Zeit bei Kollegen und Mitarbeitern auf Fahrlässigkeit oder gar Desinteresse.“
Köhler berichtet ebenso davon, dass die bundesdeutsche Seite bei den DDR-Vertretern „auf viel guten Willen und Bereitschaft zur Zusammenarbeit“ gestoßen sei. Größere Widerstände habe es vor allem auf der eigenen Seite, so von der SPD oder der Bundesbank gegeben, die Zweifel am vorgeschlagenen Kus angemeldet hätten.
Jahrzehntealte Idee
Der damals beteiligte Staatssekretär Sarrazin erinnerte sich 2010 gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ):
„Damals war für mich als zuständigen Beamten die Währungsunion ein unverzichtbarer Baustein auf dem Weg zur deutschen Einheit. Es ging in diesen Monaten darum, die DDR in einer Weise zu binden, die nicht mehr aufgehoben werden konnte. Denn es stand doch die große Gefahr eines ‚dritten Weges‘ im Raum. Die DDR als weiterer Staat deutscher Zunge. Es kam darauf an, in diesen Monaten vollendete Tatsachen zu schaffen.“
Doch Sarrazin verschweige, dass die Währungsunion über Jahrzehnte vorgedacht und vorbereitet worden sei, schrieb der ehemalige DDR-Wirtschafts-Staatssekretär Klaus Blessing in seinem Buch „Wer verkaufte die DDR?“. Der westdeutsche „Forschungsbeirat für gesamtdeutsche Fragen“ habe bereits am 28. April 1953 entsprechende Vorschläge gemacht.
„In diesem Material werden fünf Modelle einer möglichen Währungsunion mit ihren Vor- und Nachteilen untersucht, solche mit weicher und harter ‚Landung‘ für die DDR. Realisiert wurde die harte Landung.“
Hoher Preis
Die Ökonomen Hickel und Priewe haben in ihrem Buch auf Alternativvorschläge für eine stufenweise Währungsunion hingewiesen, deren reale Chancen aber schlecht gestanden hätten. „Die Entscheidung für den schnellen D-Mark-Import ist ohne grundlegende Vorbereitung im Klima eines hektischen tagespolitischen Opportunismus getroffen worden“, ist bei ihnen zu lesen.
Die Bundesregierung habe aber wenig Zeit für eine Entscheidung gehabt, so Hickel und Priewe, da der Druck der DDR-Bevölkerung wuchs, die offen die D-Mark verlangte: „Kommt die DM bleiben wir kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!“, drohten Transparente auf den Montagsdemonstrationen im untergehenden Land. Die beiden Ökonomen sahen weniger die beschlossene Währungsunion kritisch als die „völlig unzureichende Abschätzung der Folgen dieses Kurses“.
„Ignoranz und Verdrängung gewannen, je mehr diese Grundsatzentscheidung kritisiert wurde, an Boden.“
Das habe sich in einer „völlig unzureichenden Strategie einer begleitenden Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik“ gezeigt. Hickel und Priewe weiter:
„Im Widerspruch zu den mit der Währungsunion ausgelösten Herausforderungen bestimmte wirtschaftspolitischer Dilettantismus das Einigungsmanagement.“
Damit sei der Preis der Einheit, den alle in Ost und West zahlen mussten, in die Höhe getrieben worden.
Deutliche Warnungen
Der aus der DDR stammende Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler erinnerte im Gespräch daran, „dass prominente Wirtschaftswissenschaftler aus der Bundesrepublik im ersten Halbjahr 1990 ein ökonomisches Desaster für die DDR-Wirtschaft für den Fall vorausgesagt haben, dass des Kanzlers Pläne für eine rasche deutsche Einheit und eine frühe Währungsunion in einem Schritt zu einem Umtauschkurs 1 zu 1 beziehungsweise 2 zu 1 verwirklicht werden sollten“. Das werde bei heutigen Rückblicken auf die Vorgänge vor 30 Jahren meist verschwiegen.
„Der prominenteste von ihnen war zweifellos Günter Storch. Der bekannte Finanzwissenschaftler, Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank, hatte im Dezember 1989, als die öffentliche Diskussion um eine Wirtschaftsreform in der DDR mit Ausblick auf die Vereinigung beider deutscher Staaten begann, eine Denkschrift verfasst: ‚Ansätze für eine Wirtschaftsreform in der DDR und begleitende Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik‘. Der Finanzwissenschaftler lehnte darin eine ‚vollständige Liberalisierung der DDR-Wirtschaft in einem Schritt‘ ab. Die sei ‚vom Konzept her zwar bestechend, doch dürften mit einer schockartigen Anpassung beträchtliche Übergangsprobleme wie Arbeitslosigkeit und Unternehmenszusammenbrüche verbunden sein‘.“
Damit habe Storch damals nicht allein gestanden, selbst der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl habe vor Eile gewarnt. Kanzler Kohl habe die warnenden Fachstimmen aber ignoriert, aus rein politischen Gründen: „Im Spätherbst 1990 standen in der Bundesrepublik Wahlen an, die er nur gewinnen konnte, wenn er bis dahin zum ‚Kanzler der Einheit‘ avancierte“, so Roesler zu den Motiven.
Verfehltes Ziel
Die Ergebnisse beschrieb der Wirtschaftshistoriker so:
„Das Ergebnis war statt des versprochenen raschen Aufholens der ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Wirtschaft eine schwere Krise der DDR-Wirtschaft, die das prophezeite rasche Aufholen unmöglich machte. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf sank infolge der durch die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 bewirkte Krise der ostdeutschen Wirtschaft deren Wirtschaftskraft von 55 Prozent des bundesdeutschen Niveaus am Ende der 1980er Jahre auf 33 Prozent. Sie stieg – ungeachtet von beträchtlichen finanziellen Stützungen seitens der Bundesregierung in den folgenden Jahren nur langsam an.“
Das wirtschaftliche Ziel der Wiedervereinigung, die von Kanzler Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ für Ostdeutschland, sei bis heute nicht erreicht worden, „da der propagierte Aufholprozess mit einem Fehlstart, der Währungsunion vom 1. Juli 1990, begann“. Diese sei ein „Danaergeschenk“ gewesen, sagte der Historiker Siegfried Prokop dazu. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie und erinnert an das hölzerne Pferd, mit dessen Hilfe die Griechen (die Danaer) Troja eroberten.
Prokop, der ebenfalls aus der DDR stammt, verwies darauf, dass die Stimmung in der DDR-Bevölkerung Ende 1989/Anfang 1990 aus der Bundesrepublik in die gewünschte Richtung beeinflusst wurde:
„Schon auf dem Höhepunkt der Montagsdemonstrationen hatten gut präparierte Gruppen der hessischen ‚Jungen Union‘ Transparente mit der Aufschrift ‚Entweder die D-Mark kommt zu uns oder wir kommen zur D-Mark‘ verteilt.“
Kohl habe sich in den DDR-Wahlkampf für die Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit dem Versprechen „blühender Landschaften“ eingemischt.
Verhängnisvolle Entscheidung
Die Propaganda habe bei vielen DDR-Bürgern gewirkt: „Zu verführerisch erschien es, Bananen, Orangensaft und modische Produkte kaufen zu können oder auch eben endlich selbst mal nach Mallorca zu fliegen.“ Prokop erinnerte an Aussagen des ehemaligen Bundesbankpräsidenten Pöhl aus dem Jahr 2004 über die Währungsunion von 1990:
„Es kann heute keinen Zweifel mehr geben, dass dies eine ökonomisch verhängnisvolle Entscheidung war. Alle Betriebe der DDR mussten von einem Tag auf den anderen ihre Löhne und Verpflichtungen in D-Mark bezahlen, die sie nicht hatten und auch nicht verdienten. So wurden damals alle Betriebe schlagartig zahlungsunfähig.“
Die Ostdeutschen seien beim Umbau und Verkauf der ehemaligen DDR-Betriebe größtenteils leer ausgegangen, betonte der Historiker. Der Preis für die Einheit, den sie zahlten, fiel noch höher aus:
„Für viele Ostdeutsche folgte auf die Mallorca-Reise die Arbeitslosigkeit und vielleicht auch noch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM), bevor es in die mickrige Frührente ging. Schon vierten Quartal 1991 waren eine Million Ostdeutsche, etwa 12 Prozent, arbeitslos. Von 1990 bis 1997 gingen 3,2 Millionen der ursprünglich 9,7 Millionen Arbeitsplätze verloren.“
Anhaltende Spaltung
Ökonom Blessing fasste das in seinem Buch so zusammen:
„Die DDR-Bürger wurden um 60 Milliarden Mark Sparguthaben betrogen, die DDR-Betriebe gingen der Pleite entgegen. Ausländische Medien vergleichen die Währungsunion zu den Bedingungen von Kanzler Kohl mit einer ökonomischen Atombombe, der keine Volkswirtschaft der Welt gewachsen wäre.“
Historiker Prokop machte die Folgen bis heute deutlich:
„Ostdeutsche haben in der Bundesrepublik einen Bevölkerungsanteil von 20 Prozent. Der Anteil der Ostdeutschen am Führungspersonal in der Justiz und beim Militär beträgt 0 Prozent, in der Wirtschaft 0,4 Prozent, in der Verwaltung 2,5 Prozent, in der Wissenschaft 7,3 Prozent, in den Medien 11,8 Prozent und in den Gewerkschaften 12,4 Prozent. Selbst in Ostdeutschland ist die knappe Hälfte der Führungspositionen nicht mehr von Einwohnern der Region besetzt.“
Jeder zweite Ostdeutsche beklage heute, dass die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Bundesrepublik nicht gewährleistet ist. „Das Problem der inneren Einheit ist keineswegs nur ein kulturell-mentales Problem“, hob der Historiker hervor.
„Die Vereinigungspolitik hat die historisch entstandene kulturelle Differenz nicht beseitigt.“
Auch die übereilte Währungsunion von 1990 habe dazu beigetragen, dass die Spaltung sich gerade dort vertiefte, wo Abbau geboten war.