Sind die Sars-Cov 2-Infektionen hunderter Beschäftigter in Schlachthäusern Ausnahmen oder systembedingt? Wie ist die Lage der betroffenen meist osteuropäischen Arbeitsmigranten? Welche Auswege aus der Situation gibt es? Darüber hat der katholische Pfarrer Peter Kossen kürzlich Auskunft gegeben, der sich für die Betroffenen einsetzt.
Die gemeldeten Massen-Infektionen von etwa 1.500 Beschäftigten mit dem neuen Corona-Virus Sars-Cov-2 in der Tönnies-Schlachtfabrik in Rheda-Wiedenbrück sind nur die sprichwörtliche Krönung der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitsmigranten. So sieht es der katholische Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich in Nordrhein-Westfalen (NRW). Die Ausbeutung der Arbeitsmigranten aus osteuropäischen EU-Ländern in der bundesdeutschen Fleischindustrie ist für ihn die Grundursache solcher Ereignisse. Das erklärte Kossen am Freitag in einem Online-Pressegespräch mit Korrespondenten ausländischer Medien.
Der Pfarrer setzt sich seit mehreren Jahren gegen unwürdige Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, aber auch in anderen Branchen, ein und hatte bereits seit längerem vor den Folgen in der Corona-Krise gewarnt. Gemeinsam mit anderen Engagierten hat er 2019 den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet, um die Betroffenen zu unterstützen.
Aufgeschreckte Öffentlichkeit
Die Politik und Öffentlichkeit würde das jetzt wahrnehmen, weil gleich zwei Landkreise, Gütersloh und Warendorf, betroffen seien. Das sagte Kossen auf die Frage nach der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für die Probleme. Dafür würden vor allem die angeordneten Beschränkungen in Folge der Ereignisse bei Tönnies sorgen.
„Da ist in der Öffentlichkeit viel Zorn unterwegs. Jetzt fühlen sich Politiker auch getrieben, etwas anzubieten und etwas anzukündigen.“
Er wolle glauben, dass das ehrlich gemeint ist, so der engagierte Pfarrer. Er sieht aber die Gefahr, dass sich die Menschen in der Region sich die reale Lage der Arbeitsmigranten in den Schlacht-Fabriken nicht wirklich vorstellen können. „Auch in meiner bürgerlichen Umwelt kommt ja so etwas nicht vor“, fügte er hinzu. Viele Menschen würden die prekäre Lage der Arbeitsmigranten aus Osteuropa gar nicht sehen wollen. „Ich fürchte, dass sich das auch in der Politik widerspiegelt.“
Kossen sieht den Umgang mit den Arbeitsmigranten und deren Ausbeutung als moderne Sklaverei, was er im Pressegespräch noch einmal betonte.
„Aber das können wir uns in einer sozialen Marktwirtschaft so nicht vorstellen, dass das wirklich so ist. Ich fürchte, dass da, wo die Gesetze gemacht werden, viele Menschen sitzen, die sagen: Wenn wir zustimmen, dass es das gibt, müssen wir uns noch eine ganze Menge anderer Fragen stellen lassen.“
Umfangreiches Versagen
Der Pfarrer fürchtet, dass deshalb nur auf bestehende Gesetze und den Rechtsstaat verwiesen sowie den Betroffenen erklärt wird, dass sie ja gegen ihre Ausbeutung klagen könnten. Die Politik habe aber in dem Fall nicht kollektiv versagt, hob er hervor.
„Da haben viele andere auch versagt, da haben auch die Kirchen versagt. Ich habe aber die Befürchtung, dass die, die etwas zu entscheiden haben, die Realität der Lage der Menschen nicht erkennen, die darunter zu leiden haben.“
Kossen berichtete von den Erfahrungen seines Bruders, der Arzt in der Region ist. Dieser habe ihm schon vor mehr als zwei Jahren gesagt, dass es „in hohem Maße gesundheitsgefährdend“ sei, wie die Arbeitsmigranten in ihren Unterkünften hausen müssen. Deren Wohnverhältnisse seien die Ursache für zahlreiche Krankheiten, die der Arzt behandeln müsse. Dazu gehörten hartnäckige Atemwegserkrankungen un Infekte, die es schon vor Sars-Cov 2 gegeben habe.
Sein Bruder habe ihm gesagt: „Seitdem ich weiß, wie die Leute wohnen, kann ich mir erklären, warum das so ist.“ Neben den Erwachsenen seien zunehmend auch Kinder betroffen, weil Familien in den Unterkünften wohnen. Die Lebens- und Wohnsituation führe zur Totalerschöpfung:
„Wirklich gesundheitsgefährlich war die Lebens- und Arbeitssituation der Menschen tatsächlich vorher schon.“
Das hätten ihm auch viele Betreuer der Arbeitsmigranten bestätigt, mit denen er gesprochen habe. „Man kann wirklich sagen: Corona ist da noch obendrauf gekommen.“
Unmenschliche Bedingungen
Die Vorgänge in der Tönnies-Schlachtfabrik seien kein Einzelfall, betonte Kossen gegenüber den Mitgliedern des Vereins der ausländischen Presse in Deutschland (VAP).
„Meine Prognose ist, dass es nicht der letzte Standort ist, wo es wirklich sehr hohe Fallzahlen gibt, weil dieses Auslaugen und Verschleißen von Menschen und diese Art von Unterbringung die Arbeitsmigranten zu einer Hochrisiko-Gruppe macht.“
Die Infektionen könnten nicht gestoppt werden, wenn diese Art von Beschäftigung, Unterkunft und Transport der Menschen weiter zugelassen werde.
Der Pfarrer bestätigte die die Aufnahmen aus den Medien von überbelegten Unterkünften und beengten Räumen, in denen die Arbeitsmigranten leben müssen, nachdem sie oft zehn Stunden und mehr in den Fabriken schuften mussten. Er widersprach jenen, die sagen, die Betroffenen würde das ja nicht anders kennen und damit zufrieden sein.
„Niemand ist damit zufrieden, in einem Dreckloch zu wohnen.“
Die Arbeitsmigranten kämen nach Deutschland, um für wenig Lohn hart zu arbeiten, könnten meist nicht die Sprache und fänden kaum bezahlbaren Wohnraum. So hätten sie oft keine andere Chance, als das anzunehmen, was ihr Subunternehmer ihnen anbiete, woran diese meist noch extra verdienen würden.
„Das sind dann oft diese Dreckslöcher, wo die Matratze bezahlt wird, nicht das Zimmer. Das sind keine Einzelzimmer. Das sind Zimmer und Wohnungen, die völlig überbelegt sind, oft mit sehr fragwürdigen sanitären Anlagen, mit Schimmelbefall an den Wänden.“
Es gebe keinen sozialen Wohnungsbau und nicht mehr wie früher Werkswohnungen für die Beschäftigten, beschrieb der Pfarrer die fehlenden Rahmenbedingungen. Die Unternehmen müssten Wohnraum für die Arbeitsmigranten schaffen, da diese keine Saisonarbeiter für einige Monate seien. Viele würden ihre Familien nachholen.
Kriminelle Strukturen
Sein Bruder behandle diese Menschen täglich und habe ihm erklärt:
„Ein Grundproblem ist, dass sie in diesen Behausungen nicht zur Ruhe kommen. Die Menschen können nicht regenerieren von dieser sehr schweren Arbeit. Es gibt keine Intimsphäre. Die Menschen sind ja in der Regel nicht miteinander verwandt, sondern sie werden dort zusammengesteckt.“
Auch Alkohol und Drogen würden mit der Zeit in der Folge zum Problem werden, ebenso Prostitution.
Die Konzerne selbst würden von den Unterkünften profitieren, da einige von ihnen als eigene Immobilienfirmen auftreten, die Unterkünfte vermieten. Sie würden an den viel zu kleinen Wohnungen für die Beschäftigten noch verdienen. Aus Sicht des engagierten Pfarrers müsse die Politik diese Situation verändern. Bei den Subunternehmen, die die Arbeitsmigranten an die Konzerne vermitteln, gebe es oft kriminelle Strukturen, bestätigte er entsprechende Berichte.
Auf die Frage, warum er sich für die Betroffenen einsetze, berichtete er, dass ihm sein Bruder immer wieder deren Lage beschrieben habe. Als er 2011 in die Region in Niedersachsen zurückkam, in der er selbst aufwuchs, habe er das beobachtet, von dem er vorher nur hörte, und gesehen, dass das keine Einzelfälle sind. Als Kind habe er bereits mitbekommen, dass die Arbeit in der Fleisch-Industrie immer eine schwere Arbeit gewesen sei, berichtete der Pfarrer. Doch die sei damals sehr gut bezahlt worden, erinnerte er sich.
Krasse Ausbeutung
Doch in den letzten Jahrzehnten seien die Stammbelegschaften in den Fabriken größtenteils durch die osteuropäischen Arbeitsmigranten ersetzt worden. Sie seien nicht fest eingestellt, sondern über Leiharbeit, Werkverträge und andere rechtliche Konstrukte beschäftigt worden – „aber immer so, dass die Leute nicht Teil des Betriebes waren, sondern über Personaldienstleister gekommen sind“.
Er habe beobachtet, dass es da „ganz krasse Formen von Ausbeutung“ gibt, von der langen Arbeitszeit über den geringen Lohn bis hin zu starkem Druck seitens der Konzerne und schlechten Gesundheitszuständen. Dazu gehöre auch, dass die Betroffenen außerdem für „Bruchbuden und Rattenlöcher“ als Unterkünfte abgezockt werden. Er habe von Fällen gehört, wo ein Bett von drei Menschen benutzt wird, die darin entsprechend ihrer Arbeitsschichten abwechselnd schlafen.
Diese Beobachtungen und Erfahrungen hätten ihn dazu gebracht, sich zu engagieren. Dazu gehöre, die Medien auf die Lage aufmerksam zu machen, aber den Arbeitsmigranten auch Beratung und Hilfe durch den Verein anzubieten. Die bundesdeutschen Gewerkschaften würden sich zwar ebenso bemühen, sagte er auf Nachfrage dazu. Aber die Betroffenen seien keine Mitglieder und hätten oftmals aus Unwissenheit, Sprachbarrieren und schlechten Erfahrungen aus ihren Heimatländern keinen Kontakt zu den Gewerkschaften.
Neoliberale Kollateralschäden
Auf die Frage, warum solche frühkapitalistischen Zustände mit den Folgen für die ausgebeuteten Menschen in der heutigen Bundesrepublik möglich sind, verwies Kossen auf die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
„Da hat man unter dem Vorzeichen der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und des globalen Marktes solche Dinge zugelassen. Die hat man natürlich nie öffentlich gemacht.“
Die vielgepriesene Liberalisierung des Marktes habe das ermöglicht. Deshalb sei das nicht schicksalshaft oder rein zufällig. Das sei politisch damit gerechtfertigt worden, dass der Weltmarkt das erfordere. Die illegale Arbeitsmigration habe keine Ende, befürchtet der Pfarrer, der hinzufügte:
„Das wird nie ein Ende haben, wenn man es nicht reguliert.“
Jedem, der sich damit beschäftige, sei klar, so etwas dürfe es nicht im 21. Jahrhundert geben, „auch nicht in unserem System der sozialen Marktwirtschaft“.
Aber es sei kein Thema in der gespaltenen Gesellschaft, stellte Kossen fest. Er verwies auf ähnliche Probleme anderer Arbeitsmigranten aus Nicht-EU-Staaten, die nach Deutschland geschleust werden, so Vietnamesen. „Das sind gar nicht wenige, die dann nochmal mehr erpressbarer sind.“ Dabei gehe es um Zwangsarbeit und Menschenhandel, was bis in die Fleisch-Industrie hinein reiche. Der Pfarrer zeigte sich skeptisch, ob sich die Situation nach der Corona-Krise verbessere.
Die Debatte um die Fleisch-Preise, die die Verbraucher nicht bestimmen würden, und dezentrale Strukturen in der Landwirtschaft und Schlacht-Industrie sei verständlich. Aber er wisse nicht, ob das möglich sei, wenn in der Bundesrepublik nur noch fünf Discount-Ketten den Absatzmarkt beherrschen. Den Unterbietungswettbewerb in der Lebensmittelbranche sei Teil des Problems. Die großen Konzerne könnten nicht so einfach zerschlagen werden, Aber der Staat müsse wieder regulierend eingreifen, so Kossen, damit nicht alles den marktliberalen Regeln überlassen bleibt.