Killt Coronavirus Demokratie und fördert Polizeistaat? – Anwalt kritisiert Politik

Berlin, April 2020

Vor den Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen für die bundesdeutsche Gesellschaft warnt der  Rechtsanwalt Rolf Gössner. Er macht auf die drastischen Einschnitte in Grundrechte und demokratische Möglichkeiten aufmerksam. Gesundheitsminister Jens Spahn hat laut Gössner Ermächtigungen bekommen, die die verfassungsmäßige Ordnung aushebeln.

Das Infektionsschutzgesetz, das der Bundestag am 25. März im Eilverfahren geändert hat, liest sich „streckenweise wie ein Polizeigesetz“. So sieht es der Rechtsanwalt und langjährige Menschenrechtsaktivist Rolf Gössner. Das Gesetz, das wegen der Corona-Pandemie überarbeitet wurde, ermächtige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Ausnah­men von geltenden Gesetzen und Verordnungen zu verfügen.

„Mit solchen Regelungen wird die verfassungsrechtliche Bindung der Regierung an Gesetze unterlaufen“, warnt Gössner. „Solche Blan­ko-Ermäch­tigun­gen der Bundes-Exeku­tive ohne parlamentarische Kontrolle und Ländermitwir­kung (Bundesrat) unterminieren die Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung und des Föderalismus“, schreibt er in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag für die Zeitschrift „Ossietzky“. Die Ermächtigungsnormen seien nach Auffassung etlicher Verfassungsrechts-Experten verfassungs­widrig.

Der Anwalt hat in dem Text seine kritischen Sichten auf den „Corona-Ausnahmezustand“ in 15 Thesen zusammengefasst. Der Schutz vor dem Virus Sars-Cov 2 und der von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelösten Krankheit sei „absolut sinnvoll“, betont Gössner.  Aber „die gegenwärtige alptraumhafte Situation“ müsse kritisch hinterfragt werden.

Ausgrenzung statt Debatte

Die einschneidenden Maßnahmen, die das gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik beschränken, seien „letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage verhängt worden“, hebt Gössner hervor. Die Debatte darum leide „noch immer unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung“.

„Bei so viel Angst und seltener Eintracht sind Skepsis und kritisches Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten und autoritären Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich gehört das zu einer lebendigen Demokratie – nicht nur in Schön­wetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern.“

Das neue Virus gefährdet aus Gössners Sicht „nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch verbriefte Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie“. Die politisch gewollten Beschränkungen würden „schwerwiegende gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen“.

Gesundheit statt Freiheit

Der gesundheitspolitische Notstand habe dazu geführt, dass „wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik“ elementare Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt und teilweise vollkommen unterdrückt würden. Die Liste ist lang: Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit sowie Schutz von Ehe, Familie und Kindern, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbe- und Reisefreiheit.

Der Anwalt macht darauf aufmerksam, dass im Namen des Schutzes von Gesundheit und Leben „das gesamte private, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Bewohnern“ weitgehend zum Erliegen gebracht worden sei.

Dabei werde diesen Schutzgütern „ansonsten nicht immer so viel Wertschätzung zuteil“, so Gössner mit Blick auf „Agrargifte, Umweltbelastung, Verkehrstote durch Raserei, etwa 25.000 Tote pro Jahr durch multiresistente Krankenhaus-Keime, Zigtausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, zahllose Tote und Verletzte durch Waffenexporte in Krisengebiete und an Diktaturen, verheerende Wirt­schaftssanktionen oder Kriegs­beteiligun­gen“.

Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes sei „jede organisierte Gegenwehr und kollektive Meinungsäußerung im öffentlichen Raum weitgehend tabu“. So würden nicht nur politische und soziale Proteste ausgebremst, sondern auch die demokratische Teilhabe der Bürger verhindert. Versammlungsfreiheit und Streikrecht würden per Allgemeinverfügung und Polizeigewalt ausgehebelt – „zeitweise selbst dann, wenn die Aktivisten Sicherheits- und Abstandsregeln beachten“.

Willkür statt Verfassungsrecht

Der bürgerrechtsorientierte Anwalt warnt: „Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.“ Die Behörden dürften nur die „mildesten Mittel“ benutzen, um Gesetze und Verordnungen durchzusetzen. Aber das werde durch die Allgemein­verfügun­gen und Verordnungen des Bundes und der Länder nicht mehr umgesetzt. Er verweist auf Beispiele aus Sachsen und Bayern, die drastische Ausgangsbeschränkungen erlassen haben.

„Solche Verbote sind weder aus epi­demio­logischer Sicht notwendig, noch sind sie verhältnismäßig. Sie grenzen an Schikane und Willkür und sind deshalb unverzüglich aufzuheben.“

Die Kontakt- und Versammlungsverbote von Bund und Ländern seien „womöglich ohnehin nicht verfassungsgemäß“, schreibt Gössner. Er verweist auf die Staatsrechtlerin Andrea Edenharter, aus deren Sicht das Infektionsschutzgesetz individuell, zeitlich und räumlich nur „eng eingegrenzte Beschränkungen“ erlaubt.

Unterordnung statt Opposition

Ebenso leide die parlamentarische Demokratie unter den Anti-Corona-Maßnahmen, hebt der Anwalt hervor.

„Die Opposition scheint lahmgelegt, die demokratische Kontrolle ist ausgehebelt. Die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, auf das u.a. die Versammlungs- und Kontaktverbotsmaßnahmen gestützt werden, erfolgte im Schnellverfahren – ohne Experten-An­hörun­gen, ohne Politikfolgenabschätzung, obwohl es sich doch um Maßnahmen von großer Tragweite handelt.“

Ein Beispiel dafür, wie sich die politische Opposition selbst lahm legt, lieferte Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch am 19. März. Er erklärte zur TV-Ansprache von Kanzlerin Angela Merkel am Vorabend:

„Die Linksfraktion wird alle Maßnahmen unterstützen, die Solidarität befördern, Schaden von unserem Land, den Menschen und der Wirtschaft abwenden. Der Aufruf zu Solidarität ist Auftrag an die Politik. Nach der Krise sind grundsätzliche Fragen zu stellen.“

Überwachung statt Datenschutz

Gössner macht auf die Folgen aufmerksam: Weitreichende Macht- und Entscheidungsbefugnisse seien vom Parlament auf den Bundesgesundheitsminister übertragen worden, als der Bundestag am 25. März den Gesundheitsnotstand ausrief. Der solle nur befristet gelten, aber die Kriterien, wann er aufgehoben werden kann, seien nicht klar, warnt der Anwalt.

Mit dem geänderten Infektionsschutzgesetz würden die ärztliche Schweigepflicht und der Datenschutz ausgehebelt. Das geschehe nicht nur, in dem das Bundesgesundheitsministerium (BMG) Meldepflichten, Quarantäne und Versorgungsvorschriften für Medikamente und Schutzausrüstung anordnen könne. Es dürfe außerdem „Einschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheit sowie Aufenthalts- und Kontaktverbote verfügen, ebenso Tätigkeitsverbote für bestimmte Berufsgruppen, Verbote von Veranstaltungen bis hin zur Schließung öffentlicher und privater Einrichtungen etc.“

Die Verbote der Bundes- und Landesbehörden sind mit Polizeigewalt durchsetzbar und  Zuwiderhandlungen werden laut dem Anwalt mit zuweilen drastischen Bußgeldern und Strafen bedroht. Er warnt vor der Gefahr, dass die bereits seit Jahren zu beobachtende Militarisierung der „Inneren Sicherheit“ ebenso wie die staatliche Überwachung der Bürger ausgebaut würden.

Gehorsam statt Kritik

Dazu könnte unter anderem die von Spahn gewünscht Handy-Ortung von Infizierten durch eine „Corona-App“ beitragen. Gössner verweist darauf, dass die Telekom bereits anonymisierte Telekommunikationsdaten an das Robert-Koch-Institut weitergibt.

„Von einigen Gesundheitsbehörden, wie etwa in Niedersachsen, werden bereits illegal persönliche Daten von Corona-Infizierten und Kontaktpersonen an die Polizei gemeldet. Inzwischen fliegen auch Polizei-Drohnen, so in Hessen und NRW, um die Corona-Kontaktregeln aus der Luft zu überwachen und Menschen im öffentlichen Raum per Lautsprecher von oben zu ermahnen.“

Zu den Gefahren in Folge der „Corona-Krise zählt der Anwalt weiterhin den zunehmenden Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Das geschieht nicht nur, um das Gesundheitswesen zu unterstützen. Die Bundeswehr bereitet sich Berichten zufolge darauf vor, die Polizei zu unterstützen, so mit Militärpolizisten der Feldjäger für „Ordnungsdienste“ und zum Schutz kritischer Infrastrukturen. „Doch polizeiähnliche Exekutivbefugnisse des Militärs im Inland sind verfassungsrechtlich höchst umstritten“, kommentiert das Gössner.

Spaltung statt Gemeinsamkeit

Aus seiner Sicht versucht die Bundesregierung zwar mit hunderten Milliarden an Euro, die wirtschaftlichen Folgen der verordneten Beschränkungen zu mildern. Das werde „jedoch berufliche Existenznöte und unzählige Existenzverluste nicht verhindern“. Die sozialen Folgen seien aber „besonders bedrohlich für sozial Benachteiligte, Arme, Obdachlose und Geflüchtete“.

Gössner warnt: „Die ohnehin schon starke soziale Spaltung der Gesellschaft wird sich mit Sicherheit noch weiter verschärfen.“ Und:

„Auch die gesundheitlichen Langzeitschäden werden zum gesellschaftlichen Problem: Denn das wochen-, möglicherweise monatelange Kontakt- und Versammlungsverbot kann zu Vereinsamung und sozialer Verelendung führen, zu existentiellem Stress und psychischen Störungen, zu Spiel- und Alkoholsucht, zu Depressionen und Suizidgefahr, aber auch zu Aggressionen und häuslicher Gewalt, die schon spürbar zugenommen haben soll. All das sind Risikofaktoren für Krankheitshäufigkeit und höhere Sterblichkeit.“

Der Menschenrechtsaktivist sieht eine „politisch und massenmedial stark befeuerten Unsicherheit“. Die führe dazu, dass nur wenige Bürger „nach dem hohen Preis rigider staatlicher Eingriffe fragen“. Angesichts der gesundheitlichen Sorgen sei das zwar verständlich, aber ebenso „kurzsichtig“:

„Denn langfristig könnten sich Abwehrmaßnahmen dieser Art auf die Gesellschaft zerstörerischer auswirken als die Abwehrgründe selbst.“

Zustimmung statt Zweifel

Der Großteil der Bevölkerung nehme gesellschaftliche und individuelle Einschränkungen und damit verbundene „Kollateralschäden“ offenbar zustimmend, resignierend oder aber willfährig hin – „teilweise auch in vorauseilendem Gehorsam“. Die Akzeptanz für die drastischen Einschränkungen sei „jedenfalls riesengroß“, stellt Gössner fest.

Ende März haben bei einer Umfrage 88 Prozent der Befragten sich einverstanden mit den Maßnahmen gezeigt. Jeder Dritte wünschte sich sogar noch härtere Einschränkungen. Von ähnlichen Ergebnissen einer Umfrage berichtete der Journalist Gabor Steingart vier Wochen später:

„Eine überwältigende Mehrheit der Befragten, 85 Prozent, finden die Einschränkungen der Grundrechte zur Bekämpfung der Corona-Pandemie angemessen. Nur 12 Prozent stören sich daran, dass Demonstrationsverbote gelten, die Gewerbefreiheit limitiert ist und überall im Bundesgebiet die Bewegungsfreiheit reduziert wurde.“

Gewöhnung statt Debatte

Laut Rechtsanwalt Gössner nimmt aber angesichts der Folgen der Unmut in der Bevölkerung zu.

„Tatsächlich wäre es absolut unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, die ganze Bevölkerung für Monate weitgehend einzusperren – oder gar so lange, bis ein Impfstoff gefunden und eingesetzt wird, wie es zuweilen zu vernehmen ist.“

Politik und Verwaltung müssten deshalb immer wieder prüfen, ob die Maßnahmen gelockert werden können.

Eine Debatte über „eine tragfähige, nachvollziehbare Exit-Strategie, die aus der Lähmung des öffentlichen Lebens herausführen könnte, ist noch nicht wirklich in Sicht“. Doch die sei dringend notwendig, so der Anwalt:

„Die Corona-Notstandsmaß­nah­men führen mit Sicherheit in eine scharfe Wirtschafts-, Gesellschafts-, Demokratie-, Rechtsstaats- und Verfassungskrise. Und es besteht die Gefahr, dass sie einen Beschleunigungs- und Gewöhnungseffekt auslösen in Richtung Normalisierung von Ausnahmerecht.“

Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Spahn hätten bereits den Ausnahmezustand zur „neuen Normalität“ erklärt. Der „Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, in dem wir schon seit Längerem leben, tendiert dazu, zum rechtlichen Normalzustand der Krisenverhütung und Krisenbewälti­gung zu mutieren“, warnt Gössner.

„So wie im Zuge der Antiterror-Aufrü­stungs­po­litik nach 9/11, als der ‚Ausnahmezustand‘ nach und nach verrechtlicht worden ist – mit weitgehend un­befristeten Gesetzen, die Freiheitsrechte stark beschneiden und längst schon als ‚Notstandsgesetze für den Alltag‘ qualifiziert werden können.“