Seit dem 16. März ist das bundesdeutsche Gesundheitswesen auf den Schwerpunkt Covid-19 ausgerichtet: Krankenhäuser haben neue Intensivbetten eingerichtet, Abteilungen freigeräumt und auch Behandlungen und Operationen abgesagt. Die Folgen: Nichtausgelastete Kliniken melden Kurzarbeit – und Patienten gehen trotz Erkrankung weniger zum Arzt.
Eine langsame Rückkehr zum Regelbetrieb in bundesdeutschen Krankenhäusern, Kliniken und Arztpraxen hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) unter Jens Spahn (CDU) angekündigt. Am Montag legte Spahn seinen Amtskollegen in den Bundesländern ein entsprechendes Konzept unter dem Titel „Ein neuer Alltag auch für den Klinikbetrieb in Deutschland“ vor.
Damit sollen die seit dem 16. März erfolgten massiven Maßnahmen in den medizinischen Einrichtungen, wie verschobene Operationen und Behandlungen sowie freigeräumte Krankenhausbetten schrittweise zurückgefahren werden. Die Maßnahmen sollen zum einen helfen, dass sich das Virus Sars-Cov 2 und die von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelöste Krankheit Covid-19 nicht zu schnell ausbreiten. Zum anderen sollten sich die Kliniken damit auf den befürchteten Ansturm an Erkrankten vorbereiten.
„Rückstau von notwendigen Operationen“
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) meldete dazu am 15. April: „Viele Krankenhäuser haben planbare, nicht lebensnotwendige Operationen aufgeschoben. Das betrifft beispielsweise Operationen an der Hüfte oder an Kniegelenken. Viele Kliniken melden inzwischen Belegungsrückgänge von 30 Prozent und mehr. Somit haben wir rund 150.000 freie Krankenhausbetten und ca. 10.000 freie Intensivplätze.“
Es gebe einen „einen erheblichen Rückstau von notwendigen Operationen und Behandlungen“, so die DKG. Das Gesundheitsministerium gesteht in seinem Papier ein, dass die Kapazitäten der Einrichtungen „aktuell nicht vollständig genutzt“ werden. Minister Spahn hatte noch am 26. März von der „Ruhe vor dem Sturm“, einer möglichen Überlastung der Intensivstationen, gesprochen.
Nun sei es aber möglich, „auch für die Kliniken schrittweise einen neuen Alltag zu entwickeln und ab Mai einen Teil der Krankenhauskapazitäten auch wieder für planbare Operationen zu nutzen“, heißt es im dem BMG-Konzept. Dennoch sollen die Krankenhäuser weiterhin Kapazitäten für Covid-19-Patienten vorhalten. Die Kapazitäten für planbare Operationen sollen weiter begrenzt bleiben.
Gesundheitsministerium: Weniger Arztbesuche
Laut BMG muss weiterhin ein Viertel (etwa 7.500) der derzeit vorhandenen etwa 30.000 Intensiv-Betten in den Kliniken für Covid-19-Fälle freigehalten werden. Aktuell sind nach Angaben des Fachverbandes der bundesdeutschen Intensiv- und Notfallmedizin Divi über 12.000 der Intensiv-Betten unbelegt.
Im BMG-Papier ist außerdem zu lesen: „Darüber hinaus wird empfohlen, vor Aufnahme im Krankenhaus jede Patientin und jeden Patienten auf das Corona-Virus zu testen und diese auch auf das mögliche Infektionsrisiko im Krankenhaus hinzuweisen.“ Damit wird auch die rechtliche Verantwortung für die Entscheidung an die Patienten übertragen, was im BMG-Konzept aber nicht erwähnt wird.
In dem Konzept des Ministeriums wird festgestellt, es gebe „Anzeichen, dass Patientinnen und Patienten in Corona-Zeiten Notfälle wie Herzinfarkte und Schlaganfälle aber auch Beschwerden aufgrund ihrer bestehenden chronischen Erkrankungen weniger zum Anlass nehmen, ärztliche Hilfe zu beanspruchen“.
Schwerkranke verzichten auf Gang zum Arzt
Die Tageszeitung „Die Welt“ beschrieb am 22. April diesen „beunruhigenden Trend“. „Wohl aus Angst vor einer Infektion kommen sehr viel weniger Patienten mit akutem Behandlungsbedarf in die Kliniken.“ Diese Angst wird geschürt, von Politikern wie Kanzlerin Angela Merkel und Minister Spahn sowie medial unter anderem von Virologen wie Christian Drosten. Sie verwenden eine Rhetorik, die in einem öffentlich gemachten Strategiepapier aus dem Bundesinnenministerium zum Umgang mit Covid-19 beschrieben wird. „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen“, solle die Urangst vor dem Erstickungstod aktiviert sowie bei Kindern Angst um ihre Großeltern erzeugt werden, heißt es in dem Material unter anderem.
Welche Ausmaße die Nichtversorgung anderer Krankheitsfälle angenommen hat, macht ein Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Deutsches Ärzteblatt“ 17/2020 vom 24. April deutlich. Darin bestätigt der Mediziner Stephan Hofmeister, „es sei schon heute so, dass sich schwer kranke Patienten aus Angst vor dem Virus nicht mehr in die Praxen und Krankenhäuser trauten“. Hofmeister ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).
KBV-Vorstandschef Andreas Gassen erklärte laut „Ärzteblatt“, dass Covid-19 zwar zurzeit das alles beherrschende Thema sei, aber: „Aus ärztlicher Sicht ist das aber nicht die Hauptkrankheitslast.“ Es gebe viele schwere Erkrankungen wie Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Krebs, deren Behandlung nicht in den Hintergrund treten dürfe, wird Gassen zitiert. Während diese unbehandelt „fast immer tödlich“ enden, verlaufe eine Infektion mit Sars-Cov 2 in 80 Prozent der Fälle glimpflich.
Nichtausgelastete Krankenhäuser mit Kurzarbeit
Gassen wies auf einer Online-Pressekonferenz der KBV am 16. April auf einen bemerkenswerten Umstand hin: Viele Krankenhäuser führen bereits Kurzarbeit ein, da sie nicht ausgelastet sind, weil der Covid-19-Ansturm ausblieb. Auch die Arztpraxen seien leer, so Gassen, der hinzufügte: „Der Regelbetrieb kann nicht dauerhaft ausgesetzt bleiben. Wir müssen allmählich wieder zum Alltag zurückzukehren.“
Die KBV stellte auf der Pressekonferenz ihr Rückkehrkonzept „Back to Life“ („Zurück zum Leben“) vor. Gassen begrüßte zu Beginn, dass am 15. April Bundes- und Landespolitik erklärten, die Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens schrittwiese zu lockern. „Das ist sicher gut und richtig, dass man daran denkt“, sagte der KBV-Chef und fügte hinzu: „So langsam hat man den Eindruck, dass neben der Bewahrung der Gesundheit der Bevölkerung auch die geistige Gesundheit nicht völlig vergessen werden sollte.“
„Wir brauchen eine schrittweise Wiederaufnahme der Regelversorgung“, hatte ebenfalls der Chef des Krankenhaus-Verbandes DKG, Gerald Gaß, in der Zeitung „B.Z.“ am 17. April gefordert. Er stellte fest, dass bei den von Bund und Ländern vereinbarten Lockerungen zwar an Autohäuser, aber nicht an die Krankenhäuser gedacht worden sei.
„Menschen sterben wegen ausbleibender Behandlungen“
Mehr als 50 Prozent aller bundesweit geplanten Operationen seien nach dem 16. März abgesagt worden, so die „B.Z.“. Es handele sich um Tausende notwendige Eingriffe. Gaß warnte laut der Zeitung:
„Es drohen Menschen zu sterben, weil sie wegen Corona nicht rechtzeitig behandelt werden.“
Nach seinen Informationen haben sich seit Mitte März beim Rettungsdienst 30 bis 40 Prozent weniger Patienten mit Herzinfarkt und Schlaganfall gemeldet: „Und zwar nicht, weil es weniger Erkrankte gibt, sondern weil viele Angst vor Corona haben.“
Der DKG-Chef machte auf einen weiteren Umstand aufmerksam: Ihn störe, dass zum Thema Sars-Cov 2 und Covid-19 zu häufig nur der Präsident des Robert-Koch-Institutes (RKI), der Tiermediziner Lothar Wieler, und Charité-Virologe Drosten gehört würden. Gaß laut „B.Z.“:
„Wir brauchen einen viel breiteren öffentlichen Diskurs“.
Mehrere Fachmediziner-Verbände hatten in den letzten Wochen auf die Folgen hingewiesen, wenn das Gesundheitswesen einseitig auf die Covid-19-Fälle ausgerichtet wird. So warnte die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, dass Diabetiker nicht mehr ausreichend versorgt würden, wie die „Ärztezeitung“ am 20. April berichtete. Es gebe einen starken Rückgang der Patientenzahlen in Praxen, Ambulanzen sowie Notambulanzen. Mancherorts seien Diabetes-Abteilungen der Krankenhäuser sogar geschlossen worden.
„Zu sehr auf Covid-19 ausgerichtet“
„Der gesundheitspolitische Fokus hat sich in den vergangenen Wochen so sehr auf die COVID-19-Patienten gerichtet, dass nun chronisch und akut Erkrankte Gefahr laufen, unter die Räder zu geraten“, mahnte DDG-Präsidentin Monika Kellerer laut der „Ärztezeitung“. Wichtige Arzttermine würden nicht mehr wahrgenommen, Patienten blieben bei akuten Beschwerden zu Hause – „aus Rücksicht auf das Gesundheitssystem, aufgrund falsch verstandener Ausgangsbeschränkungen oder aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus“.
Auch bei den Krebs-Erkrankten hat sich die Situation zugespitzt: „Aufgrund der Covid-19-Pandemie ist eine zunehmende Zahl von Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen besorgt, ob ihre Behandlung derzeit auf optimalem Niveau durchgeführt werden kann.“ Das erklärten die Deutsche Krebshilfe, das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) und die Deutsche Krebsgesellschaft gemeinsam bereits am 25. März. In Deutschland erkranken durchschnittlich etwa 1.400 Menschen täglich neu an einer Krebserkrankung, die oft lebensbedrohlich ist.
Einen Monat später stellten die drei Organisationen fest, Einschränkungen durch die Krisensituation seien spürbar. Es seien Abklärungs- und Früherkennungsuntersuchungen abgesetzt worden. „Auch Patienten selbst entscheiden sich häufig gegen den Arztbesuch: So kann sich eine Bugwelle an zu spät diagnostizierten Krebsfällen aufbauen.“
Warnung vor „Kollateralschäden“
Gerd Nettekoven von der Deutschen Krebshilfe berichtete am 7. April im Sender „Deutschlandfunk Kultur“ von verschobenen und abgebrochenen Therapien. Ebenso seien Rehabilitationsmaßnahmen abgesagt worden. Zwar gebe es keine „bedrohlichen Versorgungsengpässe“, aber eine Verschärfung sei erkennbar, sagte Nettekoven. Vor allem würden die Erkrankten während und nach den Behandlungen kaum noch psychisch betreut.
Martin Scherer ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (Degam). In seinem Podcast auf der Webseite der „Ärztezeitung“ beschäftigte er sich am 8. April mit der „paradoxen Situation, dass gleichzeitig Arztpraxen im Moment leer stehen, viele Menschen aber medizinisch oder pflegerisch nur schwer betreut werden können“. Scherer warnte vor den „Kollateralschäden“ der Anti-Corona-Maßnahmen.
Ungewöhnlich: Weniger Herzinfarkt-Patienten
Diese betreffen auch diejenigen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bundesdeutsche Kardiologen machen darauf aufmerksam, dass derzeit wie in Italien und den USA Herzinfarkt-Klinikeinweisungen zurückgegangen sind. Von deutlich gesunkenen Zahlen berichtete unter anderem Andreas Zeiher, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK). Er ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Nephrologie am Universitätsklinikum Frankfurt.
„An meiner Klinik in Frankfurt kommen 20 bis 25 Prozent weniger Patienten mit akutem Koronarsyndrom notfallmäßig in die Klinik als sonst“, so Zeiher in einem Interview auf der DGK-Website. Das sei ein dramatischer Rückgang, „und dies in einer Zeit, in der man eigentlich aus den Erfahrungen vergangener Influenza-Epidemien eine Zunahme an Herzinfarkten erwarten würde, deren sofortige Behandlung ohne jeden Zweifel lebensrettend ist“.
„Gut gemachte Studien zeigen, dass die Zahl an akuten Herzinfarkten innerhalb der ersten sieben Tage nach Ausbruch einer Influenza-Epidemie um das Vier- bis Fünffache zunimmt.“ Bei einem Virus wie dem Sars-Cov-2ist laut Zeiher eigentlich anzunehmen, „dass mehr Patienten mit akutem Koronarsyndrom in der Klinik vorstellig werden.“ Zum einen hätten die Kranken Angst, sich in einem Krankenhaus anzustecken, vermutet der DGK-Präsident. Zum anderen würden in den Einrichtungen die Abläufe verzögert, weil der Schwerpunkt auf Covid-19-Fälle ausgerichtet sei.
Sorge um Patienten mit dringenden Symptomen
Nach dem Bericht der Tageszeitung „Die Welt“ wird das inzwischen in allen medizinischen Bereichen beobachtet: „Wir stellen fest, dass Diagnosen wie Schlaganfallverdacht, Herzinfarkt oder Blinddarmentzündung deutlich nachgelassen haben“, wurde Siegfried Hasenbein, Geschäftsführer der Bayerischen Krankenhausgesellschaft in München, zitiert.
Laut der Zeitung registrieren Mediziner das Phänomen deutschlandweit: „Wir haben auf einmal sehr viel weniger Patienten mit dringenden Symptomen“, erklärte der Lungenkrebsspezialist Niels Reinmuth, Chefarzt für Thorakale Onkologie an der Asklepios Fachklinik in Gauting bei München, dem Blatt. „Das ist etwas, das wir alle beobachten.“
Viele Ärztinnen und Ärzte treibt der Zeitung zufolge eine Frage um: „Wir haben die Sorge, dass wir im Sommer viele Patienten bekommen werden, die besser vier Monate früher gekommen wären“, wurde der Onkologe Reinmuth zitiert. Wer den Menschen so viel Angst gemacht hat, dass sie selbst auf für sie lebensnotwendige Behandlungen verzichten, wird nicht weiter erwähnt. Bisher ist auch nicht bekannt, ob diese „Kollateralschäden“ der Corona-Krise statistisch erfasst werden.