„Skripal-Fall hat große Löcher“ – Politologin Erler widerspricht offizieller Version

Am 4. März 2018 hat jemand den russischen Ex-Doppel-Agenten Sergej Skripal und dessen Tochter Julia im englischen Salisbury mutmaßlich vergiftet. Die britische Regierung macht dafür bis heute Moskau verantwortlich. Auch die Bundesregierung hat das übernommen. Die Politologin Petra Erler widerspricht und hat gegenüber Sputniknews erklärt, warum.

An der Geschichte um den ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal, der mit seiner Tochter Julia am 4. März 2018 im englischen Salisbury vergiftet worden sein soll, „stimmt nur Eines: Dass an dem Tag Skripal und seine Tochter effektiv aus der Öffentlichkeit entfernt wurden. So viel ist völlig sicher. Die Frage ist nur: Warum und wie?“ Das hat die Politikberaterin Petra Erler gegenüber Sputniknews erklärt.

Sie widerspricht der Behauptung aus London, Moskau habe Skripal und dessen Tochter mit dem „Nowitschok“-Gift A 234 umbringen wollen. Dieser Sichtweise hatten sich ungeprüft andere westliche Staaten angeschlossen und mit dem Vorfall neue antirussische Sanktionen begründet.

Noch im Januar dieses Jahres hatte der britische Premierminister Boris Johnson in Berlin gegenüber Russlands Präsident Wladimir Putin den Skripal-Fall als „schamlosen Mordversuch an unschuldigen Menschen auf britischem Boden“ bezeichnet. „Es wird keine Normalisierung unserer bilateralen Beziehungen geben, bis Russland die destabilisierende Aktivität beendet, die Großbritannien und unsere Verbündeten bedroht“, erklärte Johnson.

Vermutungen statt Beweise

In einem Beitrag in der Zeitschrift „WeltTrends“ (Heft 160) für ein Verbot der Forschung an Chemiewaffen geht Erler im Zusammenhang mit den als Waffen entwickelten „Nowitschok“-Giftstoffen auf den Fall des vor zwei Jahren mutmaßlich vergifteten Ex-Doppelagenten Skripal ein

Im Gespräch mit Sputniknews sagte die Politikwissenschaftlerin:

„Die Briten haben sehr viel Zeit und Geld investiert, um eine Geschichte zu erzählen.“

Sie habe sich von Anfang an den offiziellen Erklärungen aus Großbritannien zu dem Fall gestört. Das habe zunächst daran gelegen, wie schnell London „in einer schwerwiegenden internationalen Angelegenheit“ anstatt Beweise vorzulegen nur Schlussfolgerungen aus Vermutungen zog. „Die Briten behaupteten damals auch nicht, die Wahrheit zu kennen“, betonte Erler. „Sie beschuldigten – und behaupteten: Gegenwehr sei das Schuldgeständnis.“

Die Politikwissenschaftlerin und -beraterin hatte sich bereits im März 2018 in einem Beitrag für das Onlinemagazin „Euractiv“ dazu geäußert. Darin schrieb sie, der Fall Skripal sei „vor allem eine Angelegenheit der politischen Propaganda“. Und: „Wer vor Vorverurteilung warnt, wird sofort in die pro-russische Schublade geschoben.“ Das ist bis heute der Fall, wie Erler weiß. Sie hat sich seit dem Vorfall vor zwei Jahren intensiv mit den dazu vorliegenden Informationen beschäftigt.

Falsche Erklärung aus London

Das reicht nach ihren Worten vom Ablauf des 4. März 2018 über die Reaktionen der Mediziner, die die Skripals behandelten, und die britische Kommunikation zum Vorfall bis hin zu den medialen Berichten in Großbritannien und der Arbeit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Sie habe sich in dem Zusammenhang ausführlich mit Chemiewaffen und im Speziellen mit den „Nowitschok“-Giften auseinandergesetzt. Erler ist zu dem Schluss gekommen, dass die offizielle britische Erklärung, die von der Bundesregierung übernommen wurde, falsch ist.

„Nichts ist so, wie es scheint“, so die Politikberaterin.

„Die ganze Skripal-Geschichte hat Löcher, so groß wie ein Schweizer Käse. Zudem wurde bewusst gelogen. Allerdings haben die Macher der Geschichte den Kardinalfehler begangen, die Wissenschaft zu ignorieren. Wenn man dort sucht, wird man fündig. Denn ‚Nowitschok‘ ist  weder so exotisch, wie es dargestellt wurde, noch unbekannt.“

Sie erinnert in ihrem „WeltTrends“-Beitrag daran, dass Experten wie der einstige sowjetische Wissenschaftler Wladimir Uglew im März 2018 erklärten, dass es gegen „Nowitschoks“ kein Gegenmittel gäbe. Gleichlautend habe sich der Leiter des zuständigen britischen Labors von Porton Down Anfang April 2018 geäußert. „Ich habe mich gefragt, warum er das gesagt hat“, so Erler. Denn es gebe gegen Nervengifte Gegenmittel, die erfolgreich seien, wenn sie schnell verabreicht würden.

„Nowitschok“ längst nicht unbekannt

Bereits am 4. Februar 1997 zitierte die US-Zeitung „The Washington Times“ ein Geheimdokument des Pentagon, das sich mit dem „Nowitschok“-Stoff  A 234 beschäftigte. Der Verfasser, der US-amerikanische Chemiker James W. Poarch, charakterisierte dieses Gift als so tödlich wie VX [ein Nervengas – Anmerk. d. Red.] und so therapieresistent wie Soman, ein in Deutschland entwickeltes Nervengift.

Letzteres sei der Schlüssel:  Soman sei therapieresistent, weil es blitzartig  im menschlichen Körper „altert“, erklärte Erler. Damit werde beschrieben,  wie schnell sich ein Nervengift unumkehrbar im menschlichen Körper einnistet, ohne dass noch ein Gegenmittel etwas dagegen ausrichten kann. „Bei Soman reden wir von maximal sechs Minuten. Laut Poarch gilt das auch für die ‚Nowitschoks‘.“

Im Gespräch fügte Erler hinzu: „Das war der Grund, warum der Leiter des britischen Chemiewaffen-Labors sagte, gegen ‚Nowitschok‘  gibt es keine Gegenmittel.“ In ihrem „WeltTrends“-Beitrag erinnert sie an den sowjetischen Chemiewaffenforscher und Whistleblower Andrei Schelesnjakow. Der hatte bei einem Laborunfall 1987 eine geringe Dosis „Nowitschok“ eingeatmet. „Er verstarb, schwer geschädigt, fünf Jahre später.“

Haltlose Vorwürfe gegen Russland

Erler fragt:

„Wenn ein ‚Nowitschok‘ derartig schnell altert, wie konnten dann die Skripals, die angeblich einer tödlichen oder nahezu tödlichen Dosis ‚Nowitschok‘ A 234 ausgesetzt waren, völlig genesen? Überhaupt, bei  einer solchen hohen Vergiftungsdosis läuft man weder mehr als zwei Stunden durch die Stadt Salisbury, man geht nicht Entenfüttern, Essen und Trinken. Man bricht sehr schnell zusammen. Und selbst, wenn man dann gleich behandelt worden wäre, wären unabweisbar Dauerschäden geblieben.“

Der öffentliche Auftritt von Julia Skripal im Mai 2018 zeige aber zweifelsfrei, dass diese gesund und munter gewesen sei.

Sie habe bisher bei ihren Recherchen keine Stimmen oder Dokumente gefunden, die die Therapieresistenz eines „Nowitschok“ A 234 widerlegen würden, sagte die Politikwissenschaftlerin. Sofort nach dem Skripal-Vorfall sei in der Öffentlichkeit die Legende aufgebaut wurde, dass nur Russland über „Nowitschok“-Gifte verfüge und deshalb für das Geschehen verantwortlich sei.

„Das erwies sich schnell als haltlos“, betonte die Politikberaterin.

„Tatsächlich wusste auch der Westen alles über diese Giftstoffe und betrieb eigene Forschungen. Aber im Fall Skripal wurde nie öffentlich über alle Eigenschaften des angeblich eingesetzten Giftstoffes aus der ‚Nowitschok‘-Gruppe geredet.“

Es sei immer nur darüber gesprochen und geschrieben worden, wie groß eine tödliche Dosis sei.  

„Stümperhafte Erzählung“ statt Wahrheit

Zum Geschehen am 4. März 2018 sagte Erler:

„Das hat meiner persönlichen Meinung nach die Briten kalt erwischt. Ich versuche auch nicht zu spekulieren. Das ist nichts, was über Monate vorbereitet worden ist. Da ist real was passiert, am wahrscheinlichsten ist, dass zwei Geheimdienstoperationen zusammengestoßen sind. Denke ich.“

Sie fügte hinzu: „Da ist was passiert, aber nicht das, was sie uns erzählt haben. Und die Erzählung ist auch noch stümperhaft.“ Das belegte sie mit den unterschiedlichen Versionen zur Erkrankungsursache der Skripals, die das Krankenhaus in Salisbury veröffentlichte. „Erst hieß es, es habe sich um eine Vergiftung mit Fenthanyl gehandelt, am 5. März wurde von einer ‚unbekannten Substanz‘ gesprochen.“ Eine Nervengiftvergiftung sei keine Vergiftung durch eine „unbekannte Substanz“, kommentierte Erler. „Es ist eine organische Phosphatvergiftung. Es ist das gleiche Krankheitsbild wie bei Unfällen oder Selbsttötungsversuche mit bestimmten Insektiziden. Die sind meldepflichtig.“  

Erler betonte, dass das Krankenhaus in Salisbury zudem regelmäßig an Übungen zum Schutz vor Chemiewaffen teilnehme. Etwa zehn Kilometer entfernt befindet sich das britische Chemiewaffen-Labor Porton Down.

„Das Krankenhaus hätte es erkennen müssen,  wenn es eine organische Phosphat-Vergiftung gewesen wäre. Die Skripals wiesen auch nicht die typischen Anzeichen einer solchen Vergiftung auf.“

Armee-Sanitäterin als Erste bei Skripal?

Die Politologin wies dazu auf ein Interview der britischen Zeitung „The Guardian“ vom 14. Dezember 2018 hin, dass diese mit Tracey Holloway geführt hatte. Das war die Polizistin, die angeblich zusammen mit ihrem Kollegen Alex Collins als Erste bei den Skripals auf einer Parkbank in Salisbury eintraf. Laut Holloway war Sergej Skripal „ganz starr“ gewesen, als er gefunden wurde und auch noch, als er in den Krankenwagen gebracht wurde.

„Jede schwere Nervengift-Vergiftung, jede schwere organische Phosphat-Vergiftung kann zu einer Lähmung führen“, erläuterte Erler, „aber zu einer schlaffen. Alle Muskeln werden wie zu Gelee. Kein ‚Nowitschok‘ produziert einen starren Skripal.“ Inzwischen gebe es überdies mindestens sieben Versionen, wie die Skripals gefunden wurden und wer ihnen half.

„In einer spielt der Polizist Nick Bailey eine Rolle, der als Ersthelfer galt und sich dabei vergiftete. Das ist inzwischen durch Nick Bailey selbst widerlegt.“ Am wahrscheinlichsten ist laut Erler, dass die Skripals durch die damals ranghöchste Sanitätsoffizierin der britischen Armee, Oberst Alison McCourt, und deren Tochter Abigail aufgefunden wurden. Beide hatten das im Januar 2019 selbst öffentlich gemacht. „Diese erfahrene Frau hätte niemals ihre Tochter in die Nähe mutmaßlicher Nervengiftopfer gelassen, sie wäre niemals  nach der Hilfeleistung unbesorgt nach Hause gefahren“, betonte Erler.

Britische Lügen nicht hinterfragt

Die Briten haben ihre Nato-Verbündeten belogen, so die Politikwissenschaftlerin. Für sie war die Lüge des damaligen britischen Außenministers und heutigen Premier Johnson in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ am 20. März 2018 der entscheidende Punkt, warum sich die EU  der britischen Sichtweise zum Skripal-Fall anschloss. Johnson hatte kurz vor dem EU-Gipfel wahrheitswidrig erklärt, die britischen Chemiewaffenspezialisten seien sicher, dass die Probe aus Russland stamme.  

„Da konnte oder wollte kein westlicher Politiker mehr fragen, ob das alles wirklich stimmt“, meinte Erler. Erst Anfang April 2019 erklärte dann der Leiter des Chemiewaffen-Labors  Porton Down, Gary Aitkenhead, die präzise Herkunft des Nervengifts, mit dem die Skripals vergiftet worden seien, könne nicht nachgewiesen werden. „Da waren politisch die Messen längst gesungen“, so die Politikberaterin.

„Zumal die Briten inzwischen auch das angebliche russische Mordprogramm mit Nervengiften in die Welt gesetzt hatten, mit einem Traininggsschwerpunkt ‚Nowitschok auf Türklinke‘. Jeder, der seine fünf Sinne beisammen hat, kann erkennen, dass der angebliche Tatvorgang nicht stimmt. Nach der britischen Erzählung vergiften sich zunächst zwei Menschen nacheinander und nahezu tödlich an einer Türklinke. Später folgt noch eine dritte schwere Vergiftung. Das stellt doch die Frage, welche Giftmenge sich auf der Türklinke befunden haben müsste, bevor der erste Mensch sie berührte.“

Versagen der OPCW

Diese Menge wäre mehr als das Doppelte einer nahezu tödlichen Dosis gewesen, hob Erler hervor, mit der Folge, dass der erste Mensch die volle Ladung abbekommen hätte und umgehend gestorben wäre. „Offenbar haben die Briten darauf gesetzt, dass wir in der Empörung über einen behaupteten Nervengiftanschlag auf einen Doppelagenten durch russische Geheimdienstler die Fähigkeit zu kühlem Denken verlieren“, sagte Erler.

„Seitdem wird Vogel Strauß-Politik betrieben, denn inzwischen hätte jeder das herausfinden können, was ich herausgefunden habe“, stellte die Politologin fest. Sie kritisierte im Gespräch wie in ihrem „WeltTrends“-Beitrag auch die Rolle der OPCW bei den Vorgängen vor zwei Jahren:

„Sie hat nicht zur Aufklärung beigetragen. Dass deren damaliger Generalsekretär im Mai 2018 Russland beschuldigte, ein geheimes militärisches Forschungsprogramm zu Nervengiften zu betreiben, legte bloß offen, dass er Partei war und nicht unabhängig agierte.“

Diese Anschuldigungen seien nie bestätigt worden, schreibt Erler in den „WeltTrends“. „Im Gegenteil! Durch die Art und Weise, wie Großbritannien die OPCW befasste, wurde ausgeschlossen, dass die OPCW der Verdächtigung durch Inspektionen nach Art. IX auf den Grund gehen könnte, obwohl Russland die Anwendung von Art. IX CWK [Chemiewaffen-Konvention – Anmerk. d. Red.] forderte.“

Martialische Kommunikation statt Prüfung

Ein mutmaßlicher Chemiewaffeneinsatz hätte laut Konvention ebenfalls die Anwendung von Artikel X möglich gemacht. „Dann wären OPCW Inspektoren innerhalb von 24 Stunden vor Ort gewesen“, so Erler. „Das wollten die Briten auch nicht. Es gab eine martialische Kommunikation, aber keine vertragskonforme Überprüfung der Anwürfe.“

Und:

„Der öffentliche OPCW-Bericht geht nicht auf die Frage ein, mit welcher Dosis die Skripals angeblich konfrontiert waren. Die Blutwerte der Skripals, die Rückschlüsse zulassen würden, sollen im nichtöffentlichen Teil fehlen.“

Inzwischen musste laut Erler das britische Verteidigungsministerium einräumen, dass es keine lückenlose Beweiskette zwischen der Blutabnahme bei den Skripals im Krankenhaus und dem Blut, das in Porton Down eintraf, gibt.

Sie habe ein Buch über die Vorgänge geschrieben, das noch nicht veröffentlicht ist, berichtete Erler. „Dieser Fall ist einfach zu wichtig, um ihn ad acta zu legen. Denn er betrifft nicht nur das Verhältnis zu Russland, er betrifft uns alle.“ Bereits vor zwei Jahren stellte sie in einem Beitrag für das Magazin „Euractiv“ fest:

„Wie wir den Fall Skripal behandeln, was wir für plausibel oder nicht plausibel halten, verrät tatsächlich jede Menge über unser Weltbild.“

Medien verbreiten Verschwörungstheorie

„Bei genauerem Hinsehen ist jedes einzelne in unseren Medien verbreitete russische Tatmotiv eine Verschwörungstheorie“, meinte sie damals. Aber Erler geht noch weiter.

„Dieser Fall hätte ebenfalls notwendig zur Folge haben müssen, dass über die moderne Chemiewaffenforschung öffentlich diskutiert wird. Das ist auch unterbunden worden. Das Chemiewaffenverbot ist nicht so lückenlos kontrolliert, wie es scheint.“

Ihr Fazit bis heute: „Lückenlose Aufklärung ist die allein angemessene Antwort. Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, Wissen durch blinde Gefolgschaft und Fakten durch Annahmen und Plausibilitätsketten zu ersetzen, denn eine solche Versuchung ist vergiftet.“

Dr. Petra Erler ist Politikwissenschaftlerin und war in der letzten DDR-Regierung 1990 als Staatssekretärin tätig, zuständig für Europafragen. Nach dem 3. Oktober 1990 arbeitete sie für die Landesregierung von Brandenburg und wechselte 1999 wechselte als Mitglied ins Kabinett von Kommissar Günter Verheugen zur Europäischen Kommission nach Brüssel. Im April 2006 wurde sie Kabinettchefin und blieb in dieser Funktion bis zum Ende der Amtszeit der EU-Kommission im Februar 2010. Im April 2010 gründete sie die Beratungsfirma „European Experience Company“ in Potsdam.