In Thüringen hat sich fast auf den Tag genau, an dem vor 90 Jahren dort erstmals ein NSDAP-Minister ernannt wurde, ein FDP-Politiker mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Der Jenaer Historiker und Faschismusexperte Manfred Weißbecker erklärt im Interview, welche geschichtlichen Parallelen es gibt und wo die Unterscheide liegen.
Wie ist die Wahl des FDP-Landtagsabgeordneten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen, mit Hilfe von Stimmen der „Alternative für Deutschland“ (AfD), einzuschätzen?
Allen ist zuzustimmen, die von einem erschreckenden Dammbruch sprechen. Die Rechten sowie vor allem die noch Rechteren unseres Landes nutzten schamlos, im Grunde auch gewissenlos parlamentarisch-demokratische Möglichkeiten zum Schaden dieser Demokratie. Die Folgen sind noch nicht abzusehen, auf jeden Fall aber schlimm! Hoffentlich lassen Regierende und Medien ihren jetzigen Aufschrei und ihre Empörung nicht so im Sande verlaufen, wie dies bislang immer nach rechtsterroristischen Attacken und anderen Demokratie-Verletzungen der Fall gewesen ist.
Das für viele überraschende Ereignis geschah fast genau auf den Tag, an dem vor 90 Jahren im damaligen Thüringen erstmals mit Wilhelm Frick ein Mitglied der faschistischen NSDAP Minister in einer Landesregierung wurde. Sie haben als Historiker unlängst wieder in der Zeitung „Neues Deutschland“ darauf hingewiesen. Wie ist diese historische Parallele einzuschätzen? Ist Thüringen 2020 wie Thüringen 1930?
Ja, es gibt Parallelen. Die Ähnlichkeit im Vorgehen von Parteien einer sogenannten Mitte liegen auf der Hand. So allgemein wie die Frage formuliert ist, lässt sie sich Gottseidank nicht mit einem Ja beantworten. Viele Thüringer reagieren anders als sie es vor 90 Jahren taten – enttäuscht, aber auch wütend und sicher auch bereit, dies sich nicht lange gefallen zu lassen …
In Ihrem jüngsten Beitrag zu den Ereignissen vor 90 Jahren wiesen Sie daraufhin, dass sich die Faschisten damals „ihrer ‚Unentbehrlichkeit‘ für die Parteien der sogenannten Mitte und deren strikten Kurs gegen links bewusst“ waren und weitreichende Forderungen stellten, die das tatsächliche Kräfteverhältnis nicht abbildeten. Das erinnert daran, was gestern zu hören war, unter anderem von CDU-Landeschef Mike Mohring, dass sich die bürgerliche Mitte durchgesetzt habe. Was sagen Sie dazu?
Von bürgerlicher Mitte zu sprechen ergibt schon lange keinen Sinn mehr. Im Grunde erwiesen sich alle, die für Kemmerich stimmten, als ein neoliberales Parteienkartell, das einig ist im Kampf gegen alles, was auch nur ein wenig nach gerechter sozialer Politik ausschaut. Der frühere Antikommunismus ist beim „Antimarxismus“ der NSDAP angekommen. Und der richtete sich bekanntermaßen nicht nur gegen die KPD, sondern auch gegen SPD, Gewerkschaften und die organisierte Arbeiterbewegung insgesamt.
Wie ist die AfD in Thüringen einzuschätzen? Ihr Fachkollege Norbert Frei von der Universität Jena sagte am Donnerstag im Deutschlandfunk, in der Thüringer AfD geben die neuen Nationalsozialisten den Ton an.
Ja, der Neonazismus ist heute als eine Spielart des Faschismus zu bezeichnen. Allein in Björn Höcke einen Faschisten zu sehen, spekuliert allerdings mit dem Gedanken, die anderen 19 AfD-Abgeordneten seien es nicht. Das kann sich als ein fataler Irrtum erweisen.
Wie ist die AfD allgemein einzuschätzen? Ist sie vergleichbar mit der NSDAP und deren Entwicklung, die Sie in einem Buch gemeinsam mit Kurt Pätzold beschrieben haben? Sie haben ebenfalls in einem anderen Buch auf die Demagogie der deutschen Faschisten hingewiesen, unter anderem mit dem falschen „Firmenschild“ „Nationalsozialismus“. Ist das die gleiche Demagogie wie die der AfD, die sich als „Alternative“ verkauft?
Geschichte wiederholt sich nicht, es gibt nur gesellschaftlich-strukturelle Übereinstimmungen, Parallelen und Ähnlichkeiten. Aber es gilt ganz sicher, was Kurt Pätzold und ich 1998 am Ende des Bandes zur Geschichte der NSDAP formulierten: „Einmal gewonnene geschichtliche Erfahrungen, Herrschaftserfahrungen zumal, gehen im Verlauf der Geschichte nicht einfach verloren. Sie verbleiben im Gedächtnis derer, die sie gemacht haben, und das über Generationen […] Das zunächst abgewiesene Erbe des Faschismus wird an anderer Stelle längst auf seine Verwendbarkeit schon durchgesehen und sortiert, und seine Teilstücke sind unter anderen Namen in der Erprobung.“
Warum wählen Menschen wie in Thüringen die AfD? Der Soziologe Wolfgang Engler sagte auf eine Frage von mir dazu, das würden viele ganz rational tun, weil sie wissen, dass sie nur so Aufmerksamkeit der Regierenden für ihre Interessen und Probleme bekommen? Wie schätzen Sie das ein, ist das alles nur eine Protestwahl und lässt sich das damit entschuldigen?
Protest mag dabei sein, ebenso Unzufriedenheit mit den Parteien, auch eine generelle Aversion gegen das Parteienwesen, das immer von Faschisten attackiert, ja sogar als jüdischen Ursprungs diskreditiert worden ist. Wichtig scheint mir zu sein, dass wir es seit mehr als 100 Jahren unter einem leider zu großen Teil der Deutschen mit durchgehenden völkisch-rassistischen Gedankengut zu tun haben, mal schwächer, mal stärker in den Vordergrund tretend, jedoch immer voller Gefahren sowohl für den inneren als auch für den äußeren Frieden.
Den Völkischen am Ende des 19. Jahrhunderts und vor dem Ersten Weltkrieg ging es nicht allein um eine Förderung des deutschen „Volkstums“ durch die „Entwelschung“, eher um eine strikte Abgrenzung von den Leitbildern der französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“, dies jedoch zumeist verbunden mit Diskriminierung des französischen Volkes. Mit so gewonnenem Feindbild verknüpfte sich ein Selbstbild, das die Grenzen des Nationalstaates Deutschland durch eben durch deutsches „Volkstum“ gesetzt und damit wesentlich ausgedehnt sehen wollte. Neben den rund 60 Millionen Deutschen im Reich und den acht Millionen Deutschen im K.u.k.-Österreich-Ungarn lebten weitere 30 bis 35 Millionen Deutsche auch in anderen Teilen Europas und der Welt. Wie vom deutschen „Platz an der Sonne“ wurde auch von einem Reich geträumt, dessen Grenzen nicht allein von der Maas bis zur Memel, vom Etsch bis zum Belt, sondern weit darüber hinaus reichen sollten. Als nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland der Schlachtruf „Zurück zu den Grenzen von 1914“ verbreitet wurde, setzten dem die Nazis als ersten Punkt ihres Parteiprogramms vom Februar 1920 entgegen: „Wir fordern den Zusammenschluss aller Deutschen […] zu einem Großdeutschland.“ Am Ende stand der Wunsch nach einem Großgermanischen Weltreich, dessen Hauptstadt im Jahre 1955 (!) das in Germania umbenannte Berlin werden sollte … Neu war dies nicht. Völkische Literatur hatte Vorarbeit geleistet. Sozialdarwinistische Orientierungen mit der Parole vom „Recht des Stärkeren“ führten rasch zur Teilung der Menschheit in hochwertige und minderwertige Völker.
Was wird jetzt weiter in Thüringen geschehen? Mit was rechnen Sie?
Neuwahlen stehen bevor. Vielleicht erinnern sich CDU und FDP ja daran, dass die großbürgerliche Deutsche Volkspartei (DVP) – ihr Vorsitzender war bis zu seinem frühen Tod der Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann – 1931 in Thüringen einem KPD-Misstrauensantrag gegen Frick zustimmte und damit dessen Rücktritt erzwang. Falls nicht, werden sie den jetzt von ihnen angerichteten Schaden nur noch vergrößern.
Prof. Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) war bis 1992 Professor für Deutsche Geschichte an der Universität Jena. Er hat zahlreiche Bücher und Zeitschriftenbeiträge zu Faschismusforschung, antifaschistischem Widerstand, deutscher Parteiengeschichte und Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung veröffentlicht.
Literaturtipps:
Manfred Weißbecker: „Noch einmal über die Bücher gehen – Texte aus einem geteilten Historikerleben“
PapyRossa Verlag 2020. 480 Seiten; ISBN 978-3-89438-723-5; 32 Euro
Weißbecker, Manfred: „Das Firmenschild: Nationaler Sozialismus – Der deutsche Faschismus und seine Partei 1919 bis 1945“
PapyRossa Verlag 2011. 218 Seiten; ISBN 978-3-89438-467-8; 14,90 Euro