Warum ARD und ZDF nicht politikfern sind – Kommunikationswissenschaftler über Ursachen

Die öffentlich-rechtlichen Sender von ARD und ZDF sind nicht staats- und parteifern. Das stellt der renommierte Kommunikationswissenschaftler Michael Haller fest. Die Sender werden ihrem eigentlichen Auftrag nicht gerecht, finanziell unabhängig von Staat und Werbewirtschaft zu informieren und zu unterhalten, so Haller.

ARD und ZDF fehlt es zunehmend an Glaubwürdigkeit. Diese wird von zahlreichen Zuschauern und Zahlern des Rundfunkbeitrages in Frage gestellt, wie auch dessen Erhöhung. Das schreibt der Kommunikationswissenschaftler Michael Haller in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift „Cicero“. Die öffentlich-rechtlichen Sender hätten sich seit langem von der Unabhängigkeit von Politik und Wirtschaft verabschiedet, die ihre Gründer eigentlich vorgesehen hatten.

Haller war bis 2010 Professor für Journalistik an der Universität Leipzig und ist heute am Europäische Institut für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) tätig. Er kritisiert seit einiger Zeit die bundesdeutschen Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen. Deren Krise zeige sich in Umfragen über die Einstellungen des Publikums zu den Medien, schreibt er in „Cicero“.

Zum einen würden zwei Drittel der Erwachsenen den Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Sender ganz oder überwiegend vertrauen. Zugleich aber würden zwei Drittel der Erwachsenen meinen, dass Journalisten von den Eliten und den Mächtigen abhängig seien. Sie würden nur berichten, was ihnen die Entscheider in Politik und Wirtschaft vorgeben.

Quote statt Anspruch

Laut Haller sind diese Umfrageergebnisse bei Zuschauern von TV-Nachrichten noch ausgeprägter als bei Zeitungslesern. Für ihn ist Ausdruck der Krise ebenso die Diskussion um den erhöhten Rundfunkbeitrag, wie die Rundfunkgebühr nun heißt. Es gehe den Menschen nicht um die zusätzlichen 50 oder 70 Cent, „sondern um deren Legitimierung: Für was brauchen die Anstalten noch mehr Geld?“.

„Zeitvernichtendes Entertainment“ gebe es auf mehr als 100 Kanälen. „Was den Öffentlich-Rechtlichen indessen fehlt, ist ihre Glaubwürdigkeit, die allein aus innerer und äußerer Unabhängigkeit zurückzuholen ist“, schreibt der Kommunikationswissenschaftler. Er fügt hinzu: „Meinungsvielfalt lässt sich nicht durch Talkshowgequatsche herstellen.“

Dabei seien die öffentlich-rechtlichen Fernsehmacher stolz auf ihre Zuschauerbilanz, so Haller. ARD und ZDF hätten in den letzten Jahren ihre Marktanteile gesteigert und „die Privaten mit viel Jux, Quiz und Krimi klein gemacht“. Die gebühren- beziehungsweise beitragsfinanzierten Sender hätten die Programmmuster der privaten Sender übernommen, seitdem diese in den 1980er Jahren begannen, zu senden. Die Quote sei zum alleinigen Maßstab geworden. Das öffentliche-rechtliche Unterhaltungsprogramm folge längst dem Leitspruch des RTL-Gründers Helmut Thoma: „Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“

Politik gegen Konzept

Der Kommunikationswissenschaftler Haller meint, bei ARD und ZDF sei nicht mehr drin, was auf dem Firmenschild stehe. Er zitiert aus dem für sie grundlegenden Rundfunkstaatsvertrag in seiner aktuellen Fassung: „Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.“ Seit den 1950er Jahren gehöre zum Programmauftrag auch, für Information, Bildung und Unterhaltung gleichermaßen zu sorgen.

Haller erinnert an die Entstehungsgeschichte dieses Auftrages und zeigt zugleich, „wie die Politik die wichtigste Norm, das Unabhängigkeitsprinzip, nachhaltig unterwandert hat“. Der britische Journalist Hugh Carleton Greene von der BBC habe ab 1946 in Hamburg den Auftrag gehabt, den norddeutschen Rundfunk aufzubauen.

„Auf der Suche nach einer Organisationsform, die sein leitendes Prinzip Unabhängigkeit sichern sollte, erfand Greene das ‚öffentlich-rechtliche‘ Konzept: finanzielle Unabhängigkeit gegenüber Staat und Werbewirtschaft, also keine Werbung, keine Steuergelder, sondern Zuschauerbeiträge. Und politische Unabhängigkeit gegenüber dem Staat, also kein Weisungsrecht der Länderregierungen, sondern ein Rundfunkrat (damals: Hauptausschuss), der verschiedene gesellschaftliche Gruppen repräsentiert und der den Intendanten (damals: Generaldirektor) wählt.“

Einfluss statt Unabhängigkeit

Greenes sei überzeugt gewesen, „dass in einer Demokratie die Meinungsbildung der Bürger ohne staatliche Einflussnahme allein auf die Informations- und Kommentarleistung unabhängiger Journalisten abgestützt sein sollte“. Das hätten auch die US-Besatzungsbehörden in Deutschland unterstützt, so Haller rückblickend. Doch die deutschen Nachkriegspolitiker hätten das Konzept „klammheimlich bereits demoliert“, als im Frühjahr 1948 der „Nordwestdeutsche Rundfunk“ (NWDR) gegründet wurde. Dessen Sendegebiet umfasste „die damals neuen Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg“.

Laut dem Kommunikationswissenschaftler Haller besetzten damals die Landespolitiker die Sendergremien wie den Hauptausschuss und Verwaltungsrat mit Vertretern von CDU und SPD. Das sei wie im Norden auch im Süden beim Aufbau von Radio Stuttgart, dem Vorläufer des Südwestrundfunks (SWR) geschehen. Dabei sei gegenüber den kontrollierenden und bestimmenden Besatzungsbehörden mit Tricks gearbeitet worden: „Man gaukelte den Alliierten abstrakt-allgemeine Formulierungen über die Unabhängigkeit im Gesetz vor – und sorgte bei den Ausführungsbestimmungen dafür, dass die Parteien und Regierungen den Zugriff behielten.“ Und: „Acht Jahre später, als der WDR- und NDR-Staatsvertrag neu gefasst wurden, ging das Wahlrecht für die Rundfunkräte gleich komplett an den Landtag.“

Auch beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF), das 1961 gegründet wurde, war es nicht anders als bei den Sendern der 1950 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD). Hier haben die Politiker ebenfalls, laut Haller, die im Staatsvertrag postulierte „Staatsferne“ hintergangen. Sie hätten ihren Einfluss durch die Hintertür des Fernsehrates zementiert: „Die Politiker konnten gut die Hälfte der Vertreter nach ihrem Gusto bestimmen.“ Erster Vorsitzender des ZDF-Verwaltungsrates sei mit Peter Altmeier gleich der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz geworden.

Anpassung statt Kritik

Haller führt weitere Beispiele für die bis heute anhaltende politische Einflussnahme auf die Arbeit der öffentlich-rechtlichen Sender an, auch wenn es einzelne kleine Korrekturen am Verfahren gab. Er stellt fest: „Viele kennen diese Hintergründe nicht. Doch den Wirkungszusammenhang spüren Zuschauer, sobald es um politische Konflikte und Kontroversen geht, etwa um Osteuropa, um die Nato, um die Finanzkrise Griechenlands, um die Flüchtlingspolitik.“

Zugleich erinnert er an Beispiele, „dass die Fernsehleute in Hamburg und Bremen, in Köln und Wiesbaden im Fortgang der späten 1970er und in den 1980er Jahren zur Staatsraison auf Distanz gingen und mutiger wurden“. Vor allem in der Ära von Kanzler Helmut Kohl habe es mutige und kritische Journalisten in den öffentlich-rechtlichen Sendern gegeben. Das von solchen heute kaum noch etwas zu sehen und zu hören, habe verschiedene Ursachen: Von der privaten Konkurrenz über aufgeblähte Verwaltungsapparate bis hin zum „Windkanaleffekt der Nutzungsforschung, die naturgemäß den Markt­erfolg (mehr zielgruppenaffine Reichweiten bitte!) als Benchmark nimmt und anspruchsvolle Sendungen auf Mitternacht schiebt“.

Mehr Glaubwürdigkeit sei notwendig, meint der Kommunikationswissenschaftler. Diese sei aber nicht allein mit „linearem Fernsehen“ erreichbar, sondern indem „die Öffentlich-Rechtlichen auf ihrem Weg immer tiefer ins Internet wandern“. Die im Internetzeitalter groß gewordenen Nutzer und Zuschauer würden mitbestimmen wollen, „was sie wann und wie nutzen – und was sie davon zu halten haben“.

Phrasen statt Konzept

Haller stellt sich „moderierte, untereinander vernetzte Plattformen vor, deren Inhalte überprüft, deren Geschichten relevant und deren Angebote nicht nur attraktiv, sondern auch glaubwürdig sind: Sie könnten einen virtuellen Raum erzeugen, der den öffentlichen Diskurs und so auch gesellschaftliche Verständigung ermöglicht.“ In diese Richtung würden Konzepte des „Public Service“ zielen, deren Anliegen die Gemeinwohlförderung ist. Was Haller leider nicht erwähnt: „Public Service“ gab es bereits in den USA, wurde aber ab den 1980er von der Politik zielgerichtet unterlaufen.

Der Kommunikationswissenschaftler vermisst in der aktuellen Debatte konkrete Vorschläge, wie nicht nur der Rundfunkbeitrag erhöht und das begründet werden kann. Es gehe auch darum, wie Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender zurückerlangt werden könne. Davon stehe zum Beispiel im „Leipziger Impuls“ nichts, einem gemeinsamen Konzeptpapier der Sender MDR, SRG aus der Schweiz, ORF aus Österreich, ZDF, WDR und Deutschlandradio sowie der Handelshochschule Leipzig vom Dezember 2019. Das Papier beschwöre zwar die Unabhängigkeit der Sender, erkläre aber nicht, wie diese institutionell zu erreichen und zu sichern sei, beklagt Haller. Er sieht als Ursache dafür, dass „für dieses Ziel die Rundfunkgremien neu verfasst werden müssten: eine Aufgabe, an der sich schon damals Hugh Greene die Zähne ausgebissen hat“.