Die Öffnung der Grenze der DDR zur BRD und zu West-Berlin vor 30 Jahren hat viele überrascht. Das Ereignis an der Nahtstelle zwischen Warschauer Vertrag und Nato hat aber zu keinerlei militärischen Reaktionen geführt. Wer auf östlicher Seite dafür gesorgt hat, dass es friedlich von statten ging, scheint bis heute nicht vollends klar.
SED-Politbüromitglied Günter Schabowski sorgte am 9. November 1989 wie ausversehen dafür, dass die Grenze der DDR zu West-Berlin und zur BRD geöffnet wurde. Nach seiner eigenen Schilderung fragte er sich dabei kurz, ob das mit Moskau und den westlichen Alliierten abgesprochen war, was er da vorlas.
Den bisher bekannten Dokumenten und Berichten zufolge war Moskau zwar über die Pläne der neuen SED- und DDR-Führung informiert, das Problem der Reisefreiheit schnell klären zu wollen. Aber zum einen wird unterschiedlich dargestellt, was Moskau vorher erfuhr. Zum anderen sind die Reaktionen der sowjetischen Führung auf die Meldungen über die Grenzöffnung bis heute erstaunlich und führen zu Vermutungen über die Gründe dafür.
Der Historiker Hans-Herrmann Hertle meint in seiner aktuellen Ausgabe der „Chronik des Mauerfalls“, die Moskauer Führung sei „vom Fall der Mauer völlig überrascht“ gewesen. Als Beleg führt er an, dass der sowjetische Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow am Morgen des 10. November 1989 SED-Chef Egon Krenz anrief, um mehr über die „beunruhigende Lage an der Berliner Mauer“ zu erfahren. In der „Chronik“ gibt Hertle das Gespräch wieder. Darin sagte der Botschafter, die zuvor angekündigte Reiseverordnung habe sich nur auf die Grenzübergänge zur BRD und nicht auf die nach West-Berlin bezogen. Letztere berühre die Interessen der Alliierten.
Verschwiegene Tatsachen
In seinem Buch „Wir und die Russen“ schreibt der letzte SED-Generalsekretär dazu: „Kotschemassow konfrontierte mich in diesem Moment mit einer Frage, die in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR in den letzten Jahren praktisch kaum noch eine Rolle gespielt hatte. Aus unserer Sicht galt das Vierseitige Abkommen nur für Westberlin, nicht aber für die Hauptstadt der DDR. Nun wurde plötzlich der Vier-Mächte-Status ins Spiel gebracht.“
Er habe daraufhin ein Telegramm an KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow geschickt, in dem er versuchte, die Situation zu erklären. Entgegen der Tatsachen gab er die Grenzöffnung als bewusste Entscheidung der SED-Führung aus. Später habe der sowjetische Botschafter zurückgerufen: „Sein Ton hatte sich geändert. ‚Genosse Krenz«, sagte er, ‚im Namen von Michail Gorbatschow, im Namen der sowjetischen Führung beglückwünsche ich Sie und alle deutschen Freunde, die die Grenze geöffnet haben, zu ihrem mutigen Schritt.‘“
Gorbatschow schrieb dazu im Buch „Wie es war – Die deutsche Wiedervereinigung“ aus dem Jahr 1999: „Als ich am frühen Morgen vom sowjetischen Botschafter erfuhr, dass die Behörden der DDR alle Grenzübergänge geöffnet hatten und die Menschen ungehindert passieren ließen, sagte ich, dass sie richtig handelten“.
Wartender Gorbatschow
Er habe zwar Krenz bei dessen Besuch in Moskau am 1. November 1989 noch zugestimmt, dass die deutsche Wiedervereinigung „historisch nicht auf der Tagesordnung stand“. Doch die Geschichte „riss uns mit sich fort“, begründete Gorbatschow seinen Sinneswandel. „Das Schicksal der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands wurde bereits vom Willen von Millionen entscheiden, vor allem von den Ostdeutschen“, schrieb er zehn Jahre danach.
In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, veröffentlicht am 3. November dieses Jahres, erklärte Gorbatschow, er sei von der Nachricht von der Grenzöffnung nicht überrascht gewesen. „Eigentlich habe ich darauf gewartet, dass so etwas geschieht. Schon vorher, am Vorabend dieser Ereignisse, hatte ich die sowjetischen Truppen vor einem Eingreifen gewarnt: ‚Keinen Schritt. Sie bleiben, wo Sie sind.‘ Das sollten die Deutschen selbst entscheiden. Und sie haben es getan.“ Das sei „geschichtlich unvermeidlich“ gewesen, „auch wenn nicht alle dieser Auffassung waren“. Er fügte hinzu: „Es ist so gekommen, wie ich es mir gewünscht habe, und ich glaube, darauf darf ich stolz sein.“
Historiker Hertle meldet in seinem neuen Buch „Skepsis gegenüber diesem allzu schnellen Happy End“ zwischen Ost-Berlin und Moskau an. Dabei stützt er sich auf die Archivdokumente und Gespräche mit Zeitzeugen. Danach sei Botschafter Kotschemassow angesichts der Entwicklung „verzweifelt“ gewesen und habe mehr als zweimal bei Krenz angerufen.
Verstimmter Botschafter
Doch Moskaus Vertreter habe meist nur Generaloberst Fritz Streletz, Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, am Telefon gehabt. Beim dritten Mal habe Kotschemassow „in schneidendem Ton“ mitgeteilt, „Moskau sei über die Öffnung der Berliner Grenze verstimmt. ‚Im Interesse der Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR‘, fuhr der Botschafter in seiner zwischen befreundeten Staaten beispiellos scharfen Tonart fort, ‚wäre es zweckmäßig, sofort ein Telegramm von Egon Krenz an Michail Gorbatschow zu schicken und das Vorgehen zu begründen.‘“
Botschafter Kotschemassow schrieb in seinen Erinnerungen „Meine letzte Mission“, veröffentlicht 1994, er sei von Krenz nicht vorher über die Grenzöffnung auch zu West-Berlin informiert worden. Es habe nur „eine Abstimmung zwischen Krenz und mir zur Öffnung einiger Übergänge an der südwestlichen Grenze mit der BRD“ gegeben. Und: „Wir hatten dagegen keine Einwände.“
Der Historiker Hertle schreibt dazu: „Der Kern der von Krenz wiedergegebenen Einlassung des Sowjet-Diplomaten, nur die Öffnung von Grenzübergängen zur BRD sei mit ihm abgestimmt gewesen, ist nicht anders zu verstehen, als dass die vom Politbüro, dem Zentralkomitee und vom Ministerrat letztendlich beschlossene Reiseregelung den Sowjets ganz offensichtlich nicht vorgelegt worden war.“
Widersprüchliche Angaben
Laut dem Historiker informierte DDR-Außenminister Oskar Fischer den sowjetischen Botschafter am 7. November 1989 über die geplante Ausreiseregelung für DDR-Bürger. Hertle zitiert Vizebotschafter Igor Maximytschew, Fischer habe laut Kotschemassow lediglich von der Einrichtung eines Sondergrenzüberganges für Ausreisewillige im Süden der DDR gesprochen. Nur dafür habe die SED-Führung die Zustimmung der sowjetischen Führung bis spätestens zum Morgen des 9. November erbeten. Die Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft hätten das dann als „Projekt Loch-in-der-Grenze“ bezeichnet.
Doch auch hier sind die Angaben der Beteiligten widersprüchlich. Ex-DDR-Außenminister Fischer erklärte gegenüber den beiden Historikern Eberhard Czichon und Heinz Marohn, es sei im Gespräch mit Kotschemassow nicht um eine „Loch-Lösung“, sondern ein grundlegende Ausreiseregelung gegangen. Das habe der sowjetische Diplomat ihnen gegenüber bestätigt, schrieben die beiden Historiker in ihrem Buch „Das Geschenk – Die DDR im Perestroika-Ausverkauf“ von 2009. Kotschemassow habe das Anliegen der SED-Führung richtig verstanden, allerdings sei Fischer nicht extra auf den Fall West-Berlin eingegangen.
Interessant bleibt die Frage, warum sich Moskau erst in den späten Morgenstunden des 10. November bei der SED-Spitze nachfragte. Noch am 9. November 1989 hatte es laut Hertle intensive Kommunikation gegeben, weil Ost-Berlin die sowjetische Meinung zu den Plänen mit der Reiseverordnung wissen wollte.
Unvorstellbare Entscheidung
Maximytschew, Stellvertreter von Kotschemassow, hatte die Pressekonferenz von Schabowski mit der angekündigten Grenzöffnung verfolgt, wie Hertle berichtet. Er sei überrascht gewesen, dass die Reisefreiheit für DDR-Bürger weiter gehen sollte, als vorher von der SED angekündigt worden war. Doch die sowjetischen Diplomaten hätten bei den DDR-Genossen nicht weiter nachgefragt, so der Historiker. „Ihnen fehlte die Vorstellungskraft, dass die SED-Spitze die Erweiterung der Reiseregelung völlig eigenständig, ohne direkte Rückversicherung in Moskau beschlossen haben könnte.“
Auf einer Veranstaltung 1999 zum „Mauerfall“ erklärte Maximytschew Folgendes: „Also der Kreml hat überhaupt nicht über die Ereignisse in der DDR nachgedacht, weil im Kreml gefeiert wurde; es waren wie gesagt Feiertage.“ Deshalb habe Kotschemassow am 9. November nur eine Antwort vom Vizeaußenminister Iwan Aboimow bekommen, dass die DDR-Führung schon wissen müsse, was sie tut.
Bei Schabowskis Auftritt habe er sich „wie von einem Schlag hinterrücks getroffen“ gefühlt, so Maximytschew. Aber das sei nur wegen der Grenzöffnung zu West-Berlin gewesen, worüber vorher nicht geredet worden wäre. Nur die Sowjetunion als Teil des Vier-Mächte-Regimes zu Berlin hätte darüber entscheiden können. „Unser wichtigster Verbündeter hat uns einfach links liegengelassen!“, empörte sich der Diplomat vor 20 Jahren im Rückblick.
Schlafender Botschafter
Dennoch weckte Maximytschew als diensthabender Diplomat Botschafter Kotschemassow nicht, als er in der Nacht vom 9. November sah, wie vor der Botschaft Unter den Linden immer mehr Menschen in Richtung Brandenburger Tor liefen. Das erklärte er 1999 damit, es habe damals „nichts auf der Welt“ gegeben, „was die Situation hätte ändern können“.
Moskau würde zudem „über die Tatsachen ohnehin früher erfahren, als wir darüber Bericht erstatten konnten“, so Maximytschew weiter. Er habe es in der Nacht vom 9. November für „entscheiden zu früh“ gehalten, eine seriöse Analyse der Situation erstellen zu können. „Und drittens hatten wir alle eine unbestimmte Angst, dass wenn wir mitten in der Nacht in Moskau mit unseren schönen Neuigkeiten hereinplatzten, was unausweichlich als ein Hilferuf interpretiert worden wäre, subalterne Instanzen, die zu dieser nächtlichen Stunde ausschließlich erreichbar waren, Schritte einleiten könnten, die wir alle später bitter zu bereuen hätten.“
„Ich wollte nicht an die Dritte Garde geraten, die vielleicht übereilt gehandelt hätte“, erklärte Maximytschew 2006 gegenüber der Zeitung „B.Z.“. Die ernannte ihn daraufhin zum „Engel des 9. November“. Er habe verhindert, dass die sowjetischen Truppen in der DDR mit Panzern die Grenze zwischen Warschauer Vertrag und Nato auch nach West-Berlin wieder schließen.
Abgelehnte Hilfe
In seinen 2001 auf Deutsch veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen hielt Maximytschew am 10. November 1989 fest, Kotschemassow habe die Westgruppe der sowjetischen Truppen (WGT) angewiesen, „stillzuhalten“. Zuvor habe Außenminister Eduard Schewardnadse mitgeteilt: „Wir haben Informationen, die Militärs rührten sich etwas. Keine Aktionen unternehmen!“ Das angeordnet zu haben, nimmt auch Gorbatschow inzwischen für sich in Anspruch.
NVA-General Streletz erklärte dazu 1999: „Mir ist nicht klar, welche Panzer von ihm zurückgehalten wurden bzw. wer wann wo welche Panzer einsetzen wollte.“ Die verantwortlichen Militärs der DDR hätten nie entsprechende Pläne gehabt. Streletz berichtete, dass der Oberkommandierende der WGT, Armeegeneral Boris Snetkow, mehrmals Hilfe angeboten habe. Doch bereits SED-Generalsekretär Erich Honecker habe Mitte Oktober, kurz vor seinem Sturz, darum gebeten, die sowjetischen Truppen in den Kasernen zu lassen.
„Der Gruppe konnten nur zwei Personen befehlen“, stellte Streletz klar: „der sowjetische Verteidigungsminister und der Chef des Generalstabes“. Nicht einmal der Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages, Marschall Wiktor Kulikow, dessen Stellvertreter Streletz war, habe der WGT befehlen können.
Teil 2 erscheint am Dienstag. Darin wird wiedergegeben, was sowjetische Politiker und Gorbatschow-Berater nach dem „Mauerfall“ 1989 über Moskaus Motive veröffentlichten.