9. November 1989: Von der langweiligen Pressekonferenz zur turbulenten Maueröffnung

Der Journalist Peter Brinkmann hat auf der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski gefragt, ab wann die zuvor verkündete Reiseregelung für DDR-Bürger gilt. Er hat als Antwort bekommen: „Ab sofort“ und „unverzüglich“. Im Interview beschreibt er, wie das ablief und was er danach erlebte.

Peter Brinkmann im Oktober 2019

Herr Brinkmann, Sie haben auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 SED-Politbüromitglied Günter Schabowski gefragt, ab wann die von ihm verkündete Reisereglung für DDR-Bürger gilt. Darauf kam dann die Antwort „Ab sofort“ bzw. „unverzüglich“. Haben Sie damit die Mauer geöffnet?

Nein, aber erst einmal eine kleine Korrektur: Ich habe zwar auch mitgefragt „Ab wann?“, aber die entscheidende Frage war „Ab sofort?“ – und die kam von mir. Daraufhin hat er geantwortet: „Ab sofort.“ Ich habe noch zwei Fragen nachgeschoben, was deutlich in der TV-Aufzeichnung zu hören ist, so: „Gilt das auch für West-Berlin?“ Das war ja eine wichtige Frage, denn eigentlich hätten sie das gegenüber West-Berlin nicht tun können. Da hätten sie die Sowjets fragen müssen, was sie aber nicht gemacht haben.
Die Mauer wurde geöffnet von Demonstrationen in den Tagen vorher. Der 9. November 1989 war eine Folge dessen. Durch die immer größer werdenden Montagsdemonstrationen in Leipzig und in anderen Städten wurde der Druck der Straße so groß. Deshalb hat Egon Krenz als SED-Generalsekretär während der Sitzung des SED-Zentralkomitees [vom 8. bis 10. November 1989 – Anm. d. Red.] am 9. November gesagt: „Was wir machen, wir machen es immer verkehrt.“ Der Druck war so groß, dass die Führung etwas machen musste. Die mussten die Mauer öffnen. Aber sie wollten sie nicht beseitigen, was ja am Ende dieses Prozesses stand, der in der Nacht mit diesem „Ab sofort“ begann. „Ab sofort“ hatte nur die Funktion, dass die Leute dachten: Jetzt können sie sofort in den Westen gehen. Was geschah war aber nicht beabsichtigt, das ergab sich durch die Situation des Abends.

Was ist auf der Pressekonferenz genau geschehen?

Schabowski hat eine Neuheit eingeführt, nämlich immer nach den ZK-Sitzungen eine Pressekonferenz zu geben. Das gab es früher nicht. Die erste war am 8. November und war schlecht besucht. Am 9. November hieß es, das Reisegesetz wird im Zentralkomitee beraten. Das war kein Geheimnis im damaligen DDR-Pressezentrum. Es war allen Journalisten bekannt, dass das Reisegesetz Thema sein wird. Aber niemand wusste, was in dieser Vorlage des DDR-Innenministeriums steht. Ich war da schon seit 15 Uhr, deshalb saß ich da in der ersten Reihe.

Fragen und unklare Antworten

Es war eine der furchtbarsten und langweiligsten Pressekonferenzen, die ich je erlebt habe. Das ging nicht nur mir so. Auf den Fernsehbildern davon ist zu sehen, wie einige Kollegen neben ihrer Kamera eingenickt sind. Und die Kameras liefen nicht, bis auf die vom DDR-Fernsehen und des sowjetischen Fernsehens. Das sind die beiden einzigen Stationen, die die komplette Pressekonferenz, auch mit dem was vorher und nachher passierte, aufgenommen haben. Gesendet wurde aber nur der offizielle Teil.
Ich fragte nach der Pressezensur. Schabowski sagte: „Ich kenne Sie gar nicht. Stellen Sie ich erstmal vor.“ Ich stell mich vor: „Brinkmann, Bild-Zeitung.“ Ich frage dann, er antwortet. Das ging dann weiter, ich hob wieder die Hand, kam aber nicht dran. Dann meldete sich der italienische Journalist Ricardo Ehrmann. Der saß vor mir, etwa einen Meter, auf dem Podest. Er fragte, ob über das Reisegesetz geredet wurde und was damit ist. Der hat nicht gefragt, ab wann das in Kraft tritt, sondern nur, ob darüber geredet wurde. Dan blättert Schabowski in seinen Papieren und findet das Blatt und sagt: „Eigentlich müsst Ihr das auch haben.“ Hatten wir aber nicht. Dann sagte er, dass etwas beschlossen wurde, und las das vor – und keiner versteht das.
Dann kommen die Zwischenrufe. Wir riefen alle im Pulk. Wir haben gerufen: „Ab wann?“ Das ging durcheinander. Da habe ich im scharfen Ton dazwischen gerufen: „Ab sofort?“ – das war der entscheidende Punkt. Dann guckt Schabowski. Da sieht er auf dem Blatt, dass da „Ab sofort“ steht. Das meinte aber was Anderes. Das ging also so: Erst kam die Frage nach dem Reisegesetz, „Ab sofort?“, „West-Berlin?“ und dann war es unklar. Dann war nämlich die Pressekonferenz zu Ende. Da hat er auch keine Erklärung mehr abgegeben, obwohl er noch von einem englischen Journalisten gefragt wurde: „Was wird denn jetzt mit der Mauer?“ Und dann fährt er nach Hause. Wir alle standen da und fragten uns: „Was heißt das denn jetzt?“

Da saß ja nicht nur Schabowski auf dem Podium. Welche Rolle spielten seine Begleiter?

Die waren Stichwortgeber zur angekündigten Parteikonferenz. Das nahm übrigens die meiste Zeit ein. Das interessierte uns West-Journalisten gar nicht. Wir kannten auch die Terminologie nicht. Deswegen war es so furchtbar langweilig. Vom Fernsehzuschauer aus gesehen rechts neben Schabowski saß Außenhandelsminister Gerhard Beil. Der hatte eine wichtige Funktion und war mit in der ZK-Sitzung. Als Schabowski „Sofort“ sagte, flüsterte Beil ihm zu, das sei noch nicht beschlossen. Das heißt: Was er da erzählte, war noch gar nicht Fakt.

Der geheimnisvolle Zettel

Es gibt die Geschichte um einen angeblichen Zettel von Schabowski, mit dem Fahrplan für die Pressekonferenz. Der Historiker Hans-Herrmann Hertle sagt, dass es den vorher gar nicht gab, dass Schabowski nur das offizielle Papier aus der ZK-Tagung mit der Reiseregelung hatte.

Ich teile diese Ansicht. Ich habe das Schabowski oft genug selber gefragt. Wir haben uns am Ende geduzt. Ich habe zu ihm gesagt: „Das kannst Du doch gar nicht geschrieben haben. Du konntest doch gar nicht wissen, wie das abläuft. Das hast Du geschrieben, als Du zu Hause warst und die Fernsehbilder gesehen hast, damit Du eine Rechtfertigung hast.“ Es hätte ja sein können, dass ich zuerst nach dem Reisegesetz frage, nicht nach der Zensur. Auf seinem Zettel steht das aber am Schluss. Das hätte er nur wissen können, wenn er vorher gewusst hätte, wie es wirklich ablief. Er hat darauf gesagt: „Das stimmt alles nicht.“ Er habe sich das vorher zurechtgelegt.

Woher hatte er die Reiseregelung, wenn er an dem Punkt bei der ZK-Sitzung nicht dabei war?

Da gibt es zwei Versionen. Die, die Krenz erzählt und die ich ein bisschen anzweifle, ist die: Schabowski war nicht da. Er wusste also nicht, was besprochen wurde und was Krenz vorgelesen hat. Dann kam er gegen 17 Uhr. Die Pressekonferenz begann um 18 Uhr. Und Krenz gibt ihm den handschriftlich korrigierten Beschlussentwurf vom Ministerrat und sagt ihm: „Verkünde das. Das ist eine Weltnachricht.“ Dann nimmt Schabowski den Zettel, fährt damit rüber und liest ihn vorher aber nicht. Den hat er erst gelesen, als er auf dem Podium saß.
Die Frage ist: Wo war er während der ZK-Sitzung? Kann ich nicht beantworten. Es gibt Personen, die sagen, dass Schabowski den Zettel mit der Verordnung nicht direkt bekam, sondern, dass er ihm übergeben wurde. Aber wir wissen es nicht.

Warum waren Sie als Wirtschaftsredakteur bei der Bild-Zeitung in Hamburg bei der Pressekonferenz? Woher wussten Sie, dass da etwas kommt? Sie schreiben in Ihrem Buch „Zeuge vor Ort – Korrespondent in der DDR ’89/90“, Sie hätten von Staatssekretär Jörg Rommerskirchen im Berliner Senat eine Information bekommen. Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von Berlin (West), schrieb, Rommerskirchen hätte ihm von einem Hinweis von einem befreundeten Journalisten auf die Vorgänge im Osten erzählt.

Ich saß zwar in Hamburg, weil wir als Bild-Zeitung kein Büro in der DDR hatten. Das bekamen wir erst später und ich wurde der erste und einzige DDR-Korrespondent der Bild-Zeitung. Das war am 9. November 1989 noch nicht so. Aber ich war in Hamburg zuständig für die DDR. Ich war seit 1980 zweimal im Jahr bei der Leipziger Messe.
Jörg Rommerskirchen kannte ich aus Hamburg, wo er vor seiner Berliner Funktion im Senat arbeitete. Den habe ich als Wirtschaftsstaatssekretär in West-Berlin immer auf der Leipziger Messe getroffen. Wir haben uns da über die Entwicklung in der DDR ausgetauscht. Er sagte 1989, da passiere etwas, da sei Bewegung drin. Er rief mich im November an und sagte, da passiere etwas und wies auf die ZK-Tagung hin. Er wusste aber nicht, was passiert. Aber er war ja damals schon zusammen mit Werner Kolhoff Leiter der Arbeitsgruppe reisen im West-Berliner Senat. Die wussten, dass die DDR etwas vorbereitet. Das hat er mir signalisiert.

Vorwissen in West-Berlin

Woher wussten die das?

Am 29. Oktober 1989 traf sich Walter Momper mit Schabowski im Ost-Berliner „Palasthotel“. Kolhoff war als Sprecher des Senats dabei, und Rommerskirchen. Schabowski erzählte denen, dass die DDR die Gruppe der Reiseberechtigten vergrößern wolle und an keine Bedingungen mehr an die Reiserlaubnis zu knüpfen. Jeder DDR-Bürger sollte einen Pass bekommen, was etwa sechs Wochen dauern würde. Das ergab die Zeit um den 10. Dezember. Das heißt: Die DDR hatte vor, allen DDR-Bürgern zu Weihnachten ein großes Reisegeschenk zu machen. Da wäre Egon Krenz der große Held geworden.
Beim Abschied habe Schabowski zu Momper gesagt: „Ich rufe Sie rechtzeitig an, wenn wir so weit sind.“ Momper und den anderen beiden war klar, dass sie sich darauf vorbereiten müssen, wenn mindestens 500.000 Menschen an einem Tag nach West-Berlin kommen. Daraufhin setzt Momper die Arbeitsgruppe Reisen ein, mit Rommerskirchen und Kolhoff als Chefs. Die haben die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) auf den Ansturm aus dem Osten vorbereitet, auch die Finanzinstitute wegen der 100 D-Mark „Begrüßungsgeld“. Auch die Betreuung der Besucher wurde geregelt, einfach alles. Deshalb wunderte sich niemand, dass am 9. November, als 900.000 Menschen aus dem Osten kamen, alles funktionierte. Das basierte auf dem Gespräch vom 29. Oktober 1989, was übrigens kein West-Berliner Journalist mitbekommen hat.

In dem Buch von Momper steht, dass Rommerskirchen am 9. November 1989 einen Anruf von Ihnen bekam, dass eine DDR-Reiseregelung zum 10. November kommt. Das muss ja vor der Pressekonferenz gewesen sein. Woher wussten Sie das?

Das kam aus den Gesprächen oben im Restaurant im DDR-Pressezentrum. Da waren SED-Betreuer, die wie in Leipzig immer um uns waren. Wir kamen ein bisschen ins Gespräch und so erfuhr ich, dass es bei der ZK-Tagung auch ums Reisen geht. Man erfuhr nichts Richtiges, aber so ein paar Schnipsel von Informationen. Das ist doch unser Beruf. Und dann muss man das zusammenfügen. Erst hinterher zeigt sich, ob man Recht hat, wenn das Ergebnis da ist. Aber hier war das so. Und Rommerskirchen hatte gesagt, ich solle anrufen, wenn ich in Ost-Berlin bin. Ich habe ihm gesagt, dass etwas passiere, wusste aber auch nicht genau, was. Über den Termin wurde viel spekuliert.

Schabowskis eigenartiges Verhalten

Wusste Schabowski, was er da tat? Sie sind ja später mit ihm bekannt geworden und haben ihn auch mehrmals danach gefragt.

Das ist wirklich schwer zu beantworten. Diese Kardinalfrage haben wir, bis er dement wurde, immer wieder diskutiert. Er kam irgendwann an einen Punkt, wo er sagte – seine Frau hat das auch wiederholt –: „Ich wollte das so.“ Ich habe ihn gefragt: „Was wollten Sie denn so? Wenn Sie das so gewollt hätten, dann hätten Sie doch eine gewisse Dramaturgie abgezogen und sich nicht so überrumpeln lassen. Da hätten Sie nicht vorher eine halbe Stunde lang über einen Parteikongress geredet. Ihr habt Euch nicht verhalten, als ob es um eine Weltnachricht gegangen sei. Ihr habt Euch verhalten, als sei es die größte Nebensächlichkeit der Welt.“ Deshalb zweifle ich das sehr an.
Da ist ja noch ein Punkt: Schabowski fährt nach der Pressekonferenz nach Hause, obwohl das ZK noch bis 22 Uhr tagt, nach Wandlitz! Und er geht nicht zu seinem Chef Egon Krenz und sagt dem, was geschehen ist. Er fährt nach Hause! Wenn er das angeblich vorher so gewollt hätte, fährt er dann nach Hause und setzt sich hin, macht eine Flasche Bier auf und den Fernseher an und sieht dann irgendwann das Ergebnis, um dann wieder reinzufahren, zur Bornholmer Straße, aber nicht ins ZK, um das zu feiern? Das wäre ja das Nächstliegende gewesen.

Wie haben Sie Schabowski erlebt, der 2015 gestorben ist? Es gibt Berichte, dass er sich damals als der große SED-Reformer ausgab.

Ich kannte ihn ja vorher nicht. Aus der Zeit davor habe ich nur von seiner Frau etwas erfahren. Da war er natürlich immer der große Held. Seine politische Sicht hat sich total verändert. Das fing damit an, dass er als Erster gesagt hat: „Wir haben Mist gebaut.“ Auch, dass er dazu stand. Deshalb wurde er von den anderen gemieden. Er versuchte, sich in den Ablauf der Geschichte, wie er dann durch seine – aus meiner Sicht – nichtgewollte Tat passierte, einzupassen. Das ist aber nicht gelungen, weil es zu spät kam. Da hätte er an dem Abend nach der Pressekonferenz anders agieren müssen. Ab 10. November ist ihnen das ja alles aus dem Ruder gelaufen. Da hat die Bundesregierung das Heft in die Hand genommen. Spätestens am 28. November, mit dem Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers Helmut Kohl, war für die DDR Schluss.

Das offenkundige Ende der DDR

Wann war klar, was die auf der Pressekonferenz verkündete Grenzöffnung bedeutet? Das hat ja den Untergang der DDR beschleunigt. Wann war Ihnen das klar?

Noch in der Nacht. Wenn ich davon erzähle, kriege ich immer Gänsehaut. Mir war das klar, als ich sah, wie die DDR-Bürger nach West-Berlin kamen. Die haben ihren Staat abgeschüttelt, wie eine Last. Alle. Es war kein Einziger dabei, der gesagt hat: Rettet die DDR! Sie sind rüber und haben gedacht: „Das war‘s!“ Das habe ich in der Nacht gemerkt. Ich war in der Nacht und auch den ganzen Tag noch unterwegs gewesen, bis in den Samstag hinein. In dieser Nacht habe ich gemerkt, dass die Menschen, mit diesem Staat und dessen System nichts mehr zu tun haben wollten. Das war offenkundig.

Hertle schreibt in der „Chronik des Mauerfalls“ unter anderem, dass weniger die Pressekonferenz von Schabowski an sich entscheidend gewesen sei, auch nicht die Live-Übertragung im DDR-Fernsehen, sondern die Berichterstattung der bundesdeutschen Medien damals darüber. Haben die Medien die Mauer umgestoßen?

Zumindest haben sie mächtig dazu beigetragen. Wenn man sich den 9. November ins Gedächtnis ruft: Alle warteten bei der Pressekonferenz auf irgendeine Erklärung. Die ist dann auch gekommen. Aber niemand hat sie sofort in der ganzen Konsequenz durchdacht, ich auch nicht. Dann kommen die westdeutschen Medien: Hanns-Joachim Friedrichs in den ARD-„Tagesthemen“, etwa 22.52 Uhr: „Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“ Dadurch, dass Friedrichs gesagt hat, dass die Grenzen ab sofort geöffnet seien, stiegen die Leute wieder aus ihren Betten, klingelten bei Freunden und gingen gucken, ob das stimmt. Das Fernsehen hat das wie eine Lawine verstärkt. Da sind dann bis zum nächsten Tag 900.000 Menschen rübergegangen – und zurückgegangen.

Gigantische Euphorie nach der Öffnung

Sie waren dann in Berlin unterwegs. Was haben Sie da nach der Pressekonferenz erlebt?

Eine große Euphorie, die auch blieb. Ich bin mit dem Taxi gefahren und habe dem Taxifahrer gesagt, er solle bei Menschenansammlungen abseits parken und warten. Ich bin dann hingegangen. Ich war in der Bornholmer Straße bis vorn am Zaun. Da habe ich gemerkt: Wenn die das nicht aufmachen, passiert etwas. Die Leute, die da reinströmten, wussten ja nicht, wie eine Grenzbefestigung aussieht. Wir Westler wussten das, weil wir da durchgefahren sind. Da war ein Stahlzaun. Und dann kam dieser Schlagbaum, der seit Jahren nicht mehr betätigt wurde, der eingerostet war. Deshalb hatten die dann Schwierigkeiten, den beiseite zu schieben. Aber der Zaun war viel schlimmer. Wenn die den Schlagbaum nicht geöffnet hätten, wären die Leute gegen den Zaun gedrückt worden, weil alle Nachströmenden doch keine Ahnung hatten, was vorne ist. Da hat der Herr Jäger in der Bornholmer Straße das Richtige getan und aufgemacht. Er konnte sie nicht zurückdrängen, die Leute konnten nur nach vorn. Vorne ist ein Stahlzaun, also müssen die Durchgänge für die Autos aufgemacht werden.
Das war eine gigantische Euphorie, ein Freudentaumel. Man war da schon ein bisschen durchgeknallt gewesen. Ich habe überall geguckt. Es war überall dasselbe. Zu Beginn war ich aber in großer Sorge: Am Checkpoint Charlie, dem Durchgang für Ausländer, wo ich zuerst war, war noch nichts los. Das war gegen halb Neun. Da fuhren zwei schwarze Wagen rein und ich sah darin sowjetische Offiziere. Die sind dann rumgefahren und dann wieder rausgefahren. Da dachte ich: Jetzt wird’s gefährlich. Wenn die jetzt die falsche Meldung abgegeben und sagen „Wir müssen das sichern.“ … Aber da ist nichts passiert.

„Keiner wollte mehr die DDR“

Was bleibt 30 Jahre später von dem 9. November 1989, auch wenn all der Erinnerungsrummel vorbei ist?

Es wird ja heute der Versuch gemacht, zu sagen, der 9. November wäre so nicht nötig gewesen, wenn es vorher in der DDR bestimmte Veränderungen gegeben hätte. Dabei wird vergessen, dass die Mehrheit der DDR-Bevölkerung die DDR nicht wollte. Das ist der entscheidende Unterschied. Die Polen wollten ihren polnischen Staat, die Letten ihren lettischen, die Litauer ihren litauischen, und so weiter. Aber die DDR wollte niemand.

Da muss ich als in der DDR Geborener fragen, worauf Sie das stützen?

Auf meine Gespräche während der Zeit der Leipziger Messe, wo ich normale Menschen traf. Ich habe bei normalen Menschen gewohnt, war abends in der Kneipe, mit Menschen, die ich mir nicht ausgesucht habe. Die mir auch nicht zugeführt wurden. Ich fuhr durch die DDR, ich kannte Leute dort, sprach mit ihnen. Das waren neun Jahre. Egal, wo ich hinkam: Keiner hatte das Gefühl „Ich bin stolz, ein DDR-Bürger zu sein.“ Ich habe nie einen getroffen.
Der große Unterschied zu allen anderen Ländern im Block des Warschauer Vertrages: Die DDR wurde von der eigenen Bevölkerung nicht als ihr Staat anerkannt. Deshalb gab es keine Chance. Deshalb war es in der Nacht vom 9. November 1989 zu Ende. Da war nichts mehr zu retten. Die Bürgerrechtler, die die DDR verbessern wollten, haben ja nicht umsonst am 18. März 1990 so ein schlechtes Ergebnis bekommen. Es wollte niemand eine bessere DDR. Ein Großteil wollte überhaupt keine DDR mehr.