„Ich habe die Mauer nicht geöffnet“ – das sagt der Mann, dem genau das Gegenteil nachgesagt wird. Der ehemalige DDR-Grenzkontrolleur hat im Gespräch erklärt, warum er das so sieht. Er hat berichtet, warum er den Schlagbaum an der Bornholmer Straße in Berlin öffnen ließ und was er danach erlebt hat.
Aus Sicht von Harald Jäger hat die Art und Weise der Grenzöffnung in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 zur totalen Reisefreiheit für die DDR-Bürger geführt. Das sei so von der SED-Spitze um Egon Krenz nicht vorgesehen gewesen. Doch nach der Nacht vom 9. zum 10. November war das nicht mehr rückgängig zu machen gewesen, ist für Jäger klar.
Er gilt als „Der Mann, der die Mauer öffnete“, wie ein Buch von Gerhard Haase-Hindenberg über ihn heißt. Jäger war derjenige, der in der Nacht vor 30 Jahren gegen 23.30 Uhr den Befehl gab, den Schlagbaum an der Grenzübergangsstelle (Güst) Bornholmer Straße im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg zu öffnen. Als Oberstleutnant war er im Herbst 1989 einer der beiden Stellvertreter der Passkontrolleinheit (PKE) an dem Grenzübergang.
„Wenn das ordnungsgemäß gelaufen wäre, wäre immer wieder an der Reisefreiheit rumgeschraubt worden, an den Voraussetzungen, immer wieder auch ein Stück zurück. So war auch die Politik der Partei unmittelbar nach dem 10. November. Es sollte alles wieder so werden, wie es vorher war. Die Bürger sollten zwar ausreisen dürfen, aber unter unseren Bedingungen. Das wollte der DDR-Bürger nicht mehr.“
Diplomat als Zeuge
Der spanische Botschafter in der DDR, Alonso Álvarez de Toledo, war am 9. November 1989 am Grenzübergang in der Bornholmer Straße und stand Harald Jäger gegen 21 Uhr gegenüber. Davon berichtete der Diplomat erstmals in seinem bereits 1992 auf Deutsch erschienenen Tagebuch „Nachrichten aus einem Land, das niemals existierte“.
Unter dem Datum 9. November 1989 hielt er fest:
„Durch ein unglaubliches Zusammentreffen von Umständen werde ich Zeuge der Maueröffnung, die heute abend um 21.12 Uhr Geschichte geworden ist. Das Ereignis hätte nicht banaler sein können. Ohne Trara, ohne Ankündigungen oder öffentliche Bekanntmachungen hat ein unbekannter Grenzpolizist das Tor eines Gitterzaunes geöffnet und den Wartenden auf der anderen Seite gesagt, sie könnten passieren.“
In seinen Erinnerungen aus dem Jahr 2013 beschrieb de Toledo die Begegnung noch einmal im Detail. In einem Interview mit dem spanischen Magazin „XL Semanal“, 2014, sagte de Toledo, er habe der Mauer den „ersten Schubs“ gegeben. Jäger habe ihm später einmal gesagt:
„Herr Botschafter, Sie werden es nicht glauben, dass Sie die Berliner Mauer abgerissen haben!“
Er habe an dem Abend mit einem spanischen Fernsehteam eigentlich nur sehen wollen, was nach der Schabowski-Aussage im TV am Grenzübergang passiert, so der Diplomat.
Schlüsselmoment der Ereignisse
Jäger habe geglaubt, dass der Botschafter, der ein spanisches TV-Team begleitete, nach West-Berlin wollte.
„Für ihn war das eine peinliche Nummer. Wenn er mir das Tor öffnet, nur mir, weil ich Botschafter bin, vor der ganzen Menschenmenge, hätten sie ihn umgebracht. Sodass er nach Anweisungen gefragt hat und da ihm keiner von den Vorgesetzten geantwortet hat, pfiff er drauf und ließ die Leute durch. Das war der erste Grenzübergang, der sich öffnete.“
Rosa Maria Artal vom spanischen Sender TVE war damals dabei und beschrieb 2009 in einem Blogbeitrag die Szene. Es habe sich um den Schlüsselmoment der Ereignisse gehandelt. Aus ihrer Sicht haben die Scheinwerfer des Kamerateams die DDR-Grenzkontrolleure verunsichert, während sie den Wartenden Fragen stellte. Daraufhin sei die Tür des Grenzübergangs für die Ersten geöffnet worden. In seinen Erinnerungen berichtete der Botschafter, eine US-Diplomatin habe ihm 2012 erklärt, die Szene sei entscheidend gewesen:
„Für sie [die DDR-Führung] war das schlimmste vorstellbare Szenario ein Zusammenstoß zwischen den Bürgern mit den DDR-Grenzpolizisten, gefilmt von einem westlichen Fernsehteam.“
Der Diplomat schrieb laut seinen Erinnerungen Jäger einen Brief, indem er nachfragte, wie dieser das sah. In der Antwort habe dieser bestätigt, dass TV-Kameras und die anderen Journalisten am Grenzübergang dazu beitrugen, dass er ihn öffnete. Aber das sein nur einer von einer ganzen Reihe Gründen gewesen für ihn, die DDR-Bürger nach West-Berlin zu lassen, so Jäger in seiner Antwort an de Toledo. IM Gespräch bestritt der Grenzöffner, dass der spanische Botschafter den entscheidenden Impuls gegeben habe. Der Diplomat sei – ungewöhnlich – zu Fuß an den Übergang gekommen, weil das Auto vermutlich nicht durchkam.
Journalisten als Beschützer
Zur Rolle der Journalisten meinte Jäger:
„Normalerweise hätten wir die ganzen Kamerateams nach West-Berlin schicken müssen. Die hatten ja keine Drehgenehmigung, auf dem Kontrollpunkt sowieso nicht. Aber wir sind dem nicht mehr Herr geworden. Da waren mindestens ein halbes Dutzend Kamerateams da und Rundfunkreporter und Zeitungsjournalisten. Wenn wir gegen die Fernsehjournalisten vorgegangen wären, wäre das wahrscheinlich eskaliert.“
Die DDR-Bürger hätten dann protestiert, so der Passkontrolleur, „die fühlten sich ja sicher unter den Kameras“. Er meint heute, anders als die US-Diplomatin gegenüber de Toledo:
„Die Anwesenheit der westlichen Kameras war für uns eigentlich ein Pluspunkt. Der DDR-Bürger hat zwar lautstark gerufen, aber er wurde nicht aggressiv zu diesem Zeitpunkt. Das war für uns ein Vorteil.“
Jäger machte im Gespräch darauf aufmerksam, dass er auf den TV-Bildern von dem Ereignis vor 30 Jahren – auch ein „Spiegel TV“-Team filmte, wie der Schlagbaum geöffnet wurde – nie zu sehen sei. Das habe sogar zu Zweifeln daran geführt, dass er überhaupt dabei war. Er sei am Ende gar nicht aus dem Dienstgebäude direkt beim Schlagbaum herausgekommen, wo die Menschen warteten, berichtete er.
Offiziersschüler als Reserve
Als er das zuvor tat, sei er sofort als Oberstleutnant, der vermutlich etwas zu sagen hatte, erkannt worden. Da sei immer erwartet worden, dass er etwas verkünde – „aber ich konnte denen ja nichts sagen“. Daraufhin habe er sich zurückgezogen, um nicht wieder gesehen zu werden und trotzdem die Situation beobachten zu können. Er erinnerte sich an einen Moment in der Nacht, an dem eine Katastrophe drohte: Der Zaun zwischen Fußweg und Fahrbahn am Übergang begann sich durch die Menschenmassen gefährlich zu biegen und hätte Menschen erdrücken können. Eine dadurch ausgebrochene Panik wäre nicht zu bewältigen gewesen. Dazu kam es aber zum Glück nicht, auch weil er den Schlagbaum öffnen ließ.
Jäger verwies darauf, dass Grenztruppen-Offiziersschüler nach der Parade zum DDR-Gründungsjubiläum am 7. Oktober in der Hauptstadt geblieben waren. Sie seien als Reservekräfte für Krisensituationen an der Grenze vorgesehen gewesen. Beim Grenzübergang Invalidenstraße habe eine Einheit von ihnen im Hinterland bereit gestanden. Auf Befehl wären sie „mit langer Waffe“, mit Kalaschnikow-Maschinenpistolen, gegen die drängenden, aber friedlich demonstrierenden DDR-Bürger marschiert. Er selbst habe keine Offiziersschüler angefordert.
„In dem Fall hätte ich meine Befehlsgewalt über die Bornholmer Straße aus der Hand geben müssen. Dann wären die Grenztruppen zuständig gewesen. Wie die entschieden hätten, weiß ich nicht.“
Seine Antwort auf die Frage, warum niemand diese Lösung in der Nacht wählte: „Aus Vernunft.“
Grenzübergang in Wohngegend
An den anderen Grenzübergangstellen in Ost-Berlin habe es nicht den gleichen Druck wie in der Bornholmer Straße gegeben, erinnerte sich Jäger. Das habe an der Bevölkerungsstruktur im Stadtbezirk Prenzlauer Berg gelegen. Dort hätten viele der selbsternannten Bürgerrechtler und DDR-Kritiker sowie Intellektuelle und Künstler gelebt. Dazu seien die Oppositionsgruppen in der Zions- und Gethsemane-Kirche gekommen.
„Alle die, die wir als ‚feindlich-negative Elemente‘ bezeichnet haben, hatten sich im Prenzlauer Berg konzentriert. Wir hatten hier das schlechteste Wahlergebnis, die meisten Nichtwähler und die meisten Antragsteller auf Ausreise.“
Die Lage des Grenzübergangs sei hinzugekommen: Er sei unmittelbar mit der Straßenbahn erreichbar gewesen, in direkter Nachbarschaft zu dicht besiedelten Wohngegenden.
„Man konnte als Fußgänger bis zum Kontrollpunkt herankommen, auch mit dem PKW.“
Das habe es an den anderen fünf Grenzübergangsstellen in der DDR-Hauptstadt nicht gegeben.
Der verschwundene Tagesrapport
Auf die Frage, was er kurz nach der Grenzöffnung erlebt hat, sagte Jäger:
„Den 9. November hat es in der DDR nie gegeben. Anschließend hat niemand mit mir gesprochen, weder ein Vorgesetzter noch ein Parteifunktionär oder jemand anderes, weder positiv noch negativ.“
Er habe keine Stellungnahme und keinen Bericht zu den Ereignissen schreiben müssen. Der immer angefertigte, verbindliche Tagesrapport des zuständigen Lageoffiziers des Grenzübergangs für die Zeit vom 9. zum 10. November ist laut Jäger verschwunden.
Sein ungarischer Grenzer-Kollege Bella Árpád aus Sopron habe ihm später berichtet, dass es ihm genauso gegangen sei. Er habe nach der Flucht hunderter DDR-Bürger am 19. August 1989 über die ungarisch-österreichische Grenze bei Sopron ebenfalls keinen Bericht und keine Stellungnahme schreiben müssen – und auch der Tagesrapport der ungarischen Grenzer von dem Ereignis sei verschwunden.
Was der Grenzöffner am 9. November 1989 getan hatte, hat ihm selbst später wenig genutzt. Nach dem Ausscheiden 1990 aus dem Dienst an der Grenze musste er mühsam Arbeit suchen, versuchte sein Glück unter anderem mit einem Zeitungsladen. Der gelernte Ofensetzer landete schließlich bei einer Wachschutz-Firma – nur dank ehemaliger MfS-Genossen.
„Held des Friedens“
Bis heute hat der Grenzöffner auch von der Bundesrepublik keine offizielle Auszeichnung oder Anerkennung für sein Handeln vor 30 Jahren bekommen. Er wisse von mehreren Anträgen an den Bundespräsidenten, ihm das Bundesverdienstkreuz zu überreichen. Einen davon habe der Journalist Stefan Aust eingereicht, der für „Spiegel TV“ über die Ereignisse vom 9. November 1989 Beitrage gemacht hatte. Aber all diese Anträge seien nie positiv beantwortet worden, wahrscheinlich weil er einst Offizier des MfS war.
Im November 2014 wurde Jäger ebenso wie sein ungarischer Kollege Árpád von Michail Gorbatschow in Berlin während einer Veranstaltung der internationalen Stiftung „Cinema for Peace“ geehrt. Seitdem darf er sich „Hero of Peace“, „Held des Friedens“, nennen, wovon ein Stück Mauer auf einem Plastesockel kündet, das bei ihm zuhause steht. Aber selbst das bedurfte einiger diplomatischer Bemühungen, sei ihm berichtet worden.
Als er vor 30 Jahren den Befehl gab, den Schlagbaum zu öffnen und die davor wartenden und rufenden Tausenden DDR-Bürger ohne Kontrolle nach West-Berlin gehen zu lassen, habe er nicht geahnt, was dem folgt.
„Mir war nur klar, dass am 10. November die DDR nicht mehr die sein wird, die sie am 9. November war, dass eine grundlegende Änderung eintreten wird.“
Was dem folgte, findet er nach 30 Jahren richtig, trotz aller Fehler, die dabei gemacht worden sind.
Doch dazu habe er Jahre gebraucht, auch um zu begreifen, was der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 folgte. Noch länger habe es gedauert, dass er sich als Bundesbürger fühlte. Manche hätten ihn als „Betonkopf“ oder dann als „Wendehals“ bezeichnet.
„Wenn ich ein ‚Wendehals‘ gewesen wäre, hätte ich nicht etwa zwölf Jahre gebraucht, um das System der Bundesrepublik zu begreifen und mich damit zu identifizieren.“
Glück für die Ostdeutschen
Er sei kommunistisch erzogen worden und habe der DDR ehrlich und überzeugt gedient, trotz aller Fehler und eigener Zweifel. Die habe er damals aber von sich weggeschoben oder versucht, wegzureden.
„Oder ich habe es nicht wahrhaben wollen, um nicht dahinter zu kommen, dass es ein Fehler war.“
Erst kurz nach der Jahrtausendwende sei ihm klar geworden, dass richtig und alternativlos war, was er vor 30 Jahren getan hatte. Dazu habe neben den Enthüllungen über die DDR beigetragen, was er von der Entwicklung der anderen ehemaligen sozialistischen Länder mitbekommen habe. Dagegen hätten die einstigen DDR-Bürger Glück gehabt und gehe es den Ostdeutschen heute bei allen Problemen gut.
Für Letztere verliert er heute aber nicht den Blick, zum Teil, weil er sie am eigenen Leib erlebte. Es gehe ihm zwar nicht mehr finanziell und materiell so gut wie einst als MfS-Offizier an der Grenze. Dennoch sieht Jäger sich nicht als „Verlierer der Wende“ vor 30 Jahren. Für viele habe sich die Lebenssituation verbessert, was jeder ehrlich eingestehen müsse. „Es hat sich ja bewiesen: Unser System hat nicht funktioniert“, sagte er mit Blick zurück auf die DDR.
„Wir hatten den Stalinismus nicht überwunden. Das war wahrscheinlich der Grundfehler.“
Weltweite Aufmerksamkeit
„Ich habe die Mauer nicht geöffnet“, stellte Jäger am Ende im Gespräch klar und betonte, das sei seine ehrliche Meinung.
„Ich habe dafür gesorgt, dass es ruhig blieb und ohne Blutvergießen ausging. Das ist mein Verdienst und der Verdienst meiner damaligen Kollegen. Die Ehre lasse ich mir auch nicht nehmen. Darauf bin ich stolz.“
Der ehemalige Grenzschützer, der zum Grenzöffner wurde, ist bescheiden geblieben. Immerhin brachte ihm der 9. November vor 30 Jahren weltweite Aufmerksamkeit ein. Noch immer kommen Journalisten aus vielen Ländern zu ihm, wollen mit ihm sprechen. Ende Oktober flog er mit Buchautor Haase-Hindenberg nach Schanghai. Zwei deutsche Schulen dort hatten ihn eingeladen, um von ihm zu hören, was vor 30 Jahren geschah.
Auch hierzulande tritt er immer wieder in Schulen auf. In den westlichen Bundesländern sei das Interesse größer, berichtete Jäger. Er finde das gar nicht so gut, fügte er hinzu und stellte mit Blick auf Ostdeutschland fest:
„Bei uns sind die Eltern dran schuld. Die Jugend ist daran interessiert. Aber die Eltern wollen von der DDR nichts mehr wissen. Ein Großteil blendet das aus. Das war ja ihr Leben, deshalb blenden sie das aus.“
Das liege auch an ihren Erfahrungen aus der Zeit des DDR-Untergangs und der Einheit mit der De-Industrialisierung und der Arbeitslosigkeit.