9. November 1989: Warum DDR-Grenzer ohne Schuss das Tor nach Westen öffneten. Teil 2

Die vor 30 Jahren verkündete sofortige Reisefreiheit für DDR-Bürger hat nicht nur die Berliner Mauer, sondern ebenso die lange Grenze zur BRD geöffnet. Das hat Grenztruppen-Kommandeur Oberst a.D. Herbert Prauß direkt miterlebt. In Teil 2 seines Rückblicks geht es unter anderem um die Frage, warum in der Nacht vom 9. November 1989 kein Schuss fiel.

Hier geht es zu Teil 1

Herbert Prauß war gerade am 6. November 1989 offiziell zum Kommandeur des neu geschaffenen Grenzbezirkskommandos (GBK) 4 Suhl ernannt worden. Drei Tage später, in der Nacht zum 10. November, erlebte er mit, wie durch eine chaotische Entscheidung in Berlin die mehr als 1500 Kilometer lange Grenze der DDR zur BRD geöffnet wurde. Die war mehr als nur eine „innerdeutsche Grenze“ war, wie sie allgemein bezeichnet wird.

Prauß (Jahrgang 1948) war zu dem Zeitpunkt Oberst der Grenztruppen der DDR, in denen er seit 1967 diente. Im Gespräch mit Sputnik erklärte er, warum in der Nacht und danach kein Schuss fiel, obwohl die DDR-Grenztruppen die Grenze auch mit der Waffe schützen sollten.

Herbert Prauß im Oktober 2019 im thüringischen Gotha

Er betonte, dass schon im März 1989 vom Chef des damaligen Grenztruppenkommandos Süd, Oberst Dieter Hoffmann, der Befehl kam, die Schusswaffen nur noch bei Gefahr für das eigene Leben oder Angriffen auf die Grenze einzusetzen. Deshalb sei das für die Soldaten im November des Jahres kein Thema gewesen. Der Honecker-Nachfolger Egon Krenz erklärt heute mit Blick auf die gewaltfreie Grenzöffnung am 9. November 1989, er habe „den entscheidenden Befehl“ gegeben: Als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) der DDR hatte er am 3. November 1989 den Einsatz der Schusswaffe im Grenzgebiet untersagt.

Unbekannter Krenz-Befehl

Dem widersprach Prauß in einem Beitrag in der Zeitschrift „Kompass“ über die damalige Lage an der Grenze im Süden der DDR. „Kompass“ ist die Zeitschrift des „Verbandes zur Pflege der Traditionen der NVA und der Grenztruppen der DDR“. Der Befehl 11/89 von Krenz habe die Grenztruppen damals gar nicht mehr erreicht. Dieser sei nur an die SED-geführten Bezirkseinsatzleitungen gegangen, nicht an die Militärs direkt. „Dieser Befehl ist nicht auf unseren Tisch gekommen“, so Prauß gegenüber Sputnik. Zudem seien die Grenztruppen immer noch mit der Strukturreform beschäftigt gewesen, einschließlich unterbrochener Kommunikationslinien.

Er habe erst nach der Grenzöffnung von dem Krenz-Befehl erfahren, berichtete der ehemalige Grenztruppen-Oberst. Er erinnerte sich an den Befehl Nr. 66/89 des Grenztruppen-Chefs Baumgarten bereits von Anfang Oktober 1989, Schusswaffen nur „bei Angriffen auf das eigene Leben und zur Unterbindung von Desertionen“ einzusetzen.

Der Befehl seines ehemaligen Vorgesetzten Hoffmann vom März 1989 sei eine Folge des Todes von Chris Gueffroy gewesen. Der war Anfang Februar des Jahres bei einem Fluchtversuch in Berlin getötet worden. Daraufhin hatte selbst Honecker als vorheriger Vorsitzender des NVR der DDR am 3. April bereits per Befehl angewiesen, „die Schusswaffe im Grenzdienst … zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen nicht anzuwenden“. Das sollte nur noch bei Gefahr für das eigene Leben der Grenzer erlaubt sein, wie der Historiker Hans-Hermann Hertle in dem Buch „Sofort, unverzüglich – Die Chronik des Mauerfalls“ schreibt.

Frühe Einsicht

Es sei auch darum gegangen, politischen Schaden durch solche Fälle wie des erschossenen Gueffroy zu verhindern, erklärte Prauß. Er habe bereits als Regimentskommandeur in Meiningen „außerordentlichen Wert darauf gelegt, dass wir möglichst nicht gezwungen sind, die Schusswaffe anzuwenden“. Das sei nur durch entsprechende Maßnahmen möglich gewesen, die Grenze mit anderen Mitteln bestmöglich zu sichern, und von seinen Unterstellten begrüßt worden. Insofern sei die Entwicklung, hin zu den Befehlen von ganz oben, nicht zu schießen, nicht überraschend gewesen.

Er sei „ganz fest überzeugt, dass das wesentlich dazu beigetragen hat, dass alle Angehörigen der Grenztruppen sich im Klaren waren“, dass in der Nacht vom 9. November 1989 nicht geschossen wird. „Der Gedanke, auf die Bürger, auf Demonstranten zu schießen, ist nie entstanden“, widersprach der Ex-Oberst anderslautenden Behauptungen. „Das hat auch nie jemand vorgeschlagen.“ Nur die eigenen Waffenlager seien in der Folgezeit auch mit Waffen bewacht und geschützt worden.

Prauß bestätigte nicht, dass in Folge der Ereignisse in der November-Nacht „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ befohlen wurde. „Wir haben nicht einmal verstärkte Grenzsicherung gemacht.“ Es habe auch seitens der Nationalen Volksarmee (NVA) – die Grenztruppen der DDR waren formal eigenständig – keinerlei Pläne gegeben, die Grenze mit zu sichern.

„Kleines Wunder“

Für ihn ist es aber ein „kleines Wunder“, dass in dem am 9. November durch Schabowski angerichteten Chaos niemand von den Grenzern oder den MfS- und Zoll-Mitarbeitern die Fassung verlor und die Waffe zog. „Andererseits bin ich stolz darauf, dass wir unsere Leute so ausgebildet und geführt haben, dass das eben nicht passiert ist. Da gehört auch ein gewisser Mut der Grenzer dazu.“ Die Soldaten vor Ort hätten die entsprechende Entscheidung treffen müssen.

Prauß ist sich nicht sicher, ob nicht an irgendeiner Stelle in Ost oder West jemand darauf wartete, dass geschossen wird. „Heute ist es so, dass viele uns das ewig übel nehmen, dass wir da nicht geschossen haben. Dass das auch bei den großen Demonstrationen in Berlin, in Leipzig nicht passiert ist, auch an der Grenze nicht. Wie einfach wäre es zu sagen: Die Grenzer waren die Bösen. Aber es war eben nicht so.“

Der ehemalige Grenz-Kommandeur betonte: „Im entscheidenden Moment haben wir allein gehandelt – und wir haben es richtig gemacht. Der Versuch danach, das System irgendwie zu stabilisieren, ging schief. Der hat nicht mehr funktioniert. Von dem Moment an war alles anders. Da sind alle, auch wir, den Ereignissen hinterhergelaufen.“ Die Grenztruppen der DDR seien aber angesichts der zusammenbrechenden politischen Macht die Letzten gewesen, die noch für Stabilität und Ordnung an der mehr als 1500 Kilometer langen Trennlinie zwischen Ost und West sorgten.

Westdeutsche Bedenken

Der ehemalige Offizier berichtete in seinem „Kompass“-Beitrag, dass es in Sonneberg Versuche gegeben habe, das Grenzbezirkskommando im Zuge einer Demonstration zu stürmen. Das sei nach der Grenzöffnung gewesen, erinnerte er sich im Gespräch. Mit Hilfe von Kirchen-Vertretern habe die Situation damals aber entschärft und die Lage beruhigt werden können. In der Folge sei er mit seinem Stab an die Presse gegangen, um über die tatsächliche Situation an der Grenze aufzuklären und „wilden Gerüchten“ zu widersprechen. „So was hätte man auch vorher machen müssen“, fügte er im Rückblick hinzu.

Der Ex-Grenz-Offizier sagte auf die Frage danach, dass nach der Öffnung der Grenze zur BRD die Kontrollen vor Ort weiter durchgeführt wurden. An den neuen, oftmals kleinen Übergängen hätten die Grenzer diese Aufgaben selbst übernommen, da die PKE-Einheiten des noch bestehenden MfS dafür nicht genügend Personal hatten. Allerdings sei es wie in Berlin gerade in den ersten Tagen schwierig gewesen, den Anforderungen tatsächlich gerecht zu werden, gestand er ein.

Das habe sehr schnell zu Bedenken selbst auf westdeutscher Seite geführt, wer da über die offene Grenze in die Bundesrepublik kommt. Diese habe „kein Interesse daran gehabt, dass andere, außer dem richtigen DDR-Bürger, der nach dem Grundgesetz zur BRD gehörte, die Situation ausnutzen können. Da war sehr schnell ein gewisses gemeinsames Interesse da, dass das korrekt gemacht wird.“

Ehrliches Bedauern

Die ersten offiziellen Kontakte mit dem Bundesgrenzschutz und der bayrischen Grenzpolizei seien aber erst Ende Dezember 1989 aufgenommen worden, erklärte Prauß. Das habe aber niemand von oben befohlen, „wir haben es einfach gemacht“. Bereits ab dem 12. November 1989 sei mit den bundesdeutschen Grenzern direkt vor Ort geregelt worden, was zu regeln war. Diese hätten selbst keine entsprechenden Befehle aus Bonn bekommen und seien selbst von den Ereignissen überrascht worden.

Die schnellen Kontakte und Absprachen vor Ort hätten geholfen, die DDR-Grenzanlagen vor Provokationen oder Angriffen zu schützen. Solche habe es in den Jahren zuvor oft von westlicher Seite gegeben, auch durch US- oder britische Truppen, erinnerte sich der erfahrene Grenz-Kommandeur. „Das kannten wir, das waren wir gewöhnt.“ Doch in der Zeit um den 9. November 1989 habe es keine Versuche westlicher Militärs, gegeben, die Situation auszunutzen, auch nicht von bundesdeutscher Seite.

Er fügte hinzu: „Ich bedaure jedes Vorkommnis an der Grenze, das zu menschlichem Leid, zu Todesfällen oder Verletzungen geführt hat.“ Aber es müsse auch sachlich und ehrlich gesehen werden, wie es dazu kam. In einem Online-Beitrag hatte sich Prauß kürzlich mit den Fakten und den Legenden um den „Todesstreifen“ zwischen DDR und BRD beschäftigt.

Historische Fakten

Wie notwendig Aufklärung darüber ist, zeigte unlängst das Magazin „Mobil“ der Deutschen Bahn. Das liegt mit einer Auflage von über einer Million Exemplaren kostenlos in den Zügen aus. In dessen September-Ausgabe in diesem Jahr war in einer Foto-Reportage von Mario Goldstein über den „Ex-Todesstreifen“ heute zu lesen: „44.000 Soldaten hielten Wache. Sie hatten den Befehl, auf Flüchtlinge zu schießen.“

Prauß betonte gegenüber Sputnik: „Es hat keinen Schießbefehl für Grenzsoldaten gegeben!“ Dagegen habe es eine Schusswaffengebrauchsordnung gegeben, wie in allen Armeen üblich. Er habe in seiner Dienstzeit mehrere Fluchtversuche an der Grenze erlebt, bei denen keine Schüsse gefallen seien. Die Grenzsoldaten seien nicht bestraft worden, weil sie ihre Kalaschnikow nicht benutzten.

In seinem Online-Text schrieb er dazu, „die Grenze zwischen der DDR und der BRD, zwischen dem Warschauer Vertrag und der Nato war ein historischer Fakt mit vielen verschiedenen Ursachen, die es nicht rechtfertigen, sie heute ideologisch wirksam als Todesstreifen zu bezeichnen, vor allem nicht so, als wäre die Gefahr immer nur von östlicher Seite ausgegangen.“ Zwischen 1946 und 1989 habe an dieser Grenze laut der Erfassungsstelle Salzgitter 197 Todesopfer gegeben, einschließlich 25 getöteter Grenzsoldaten der DDR.

„Ich habe selbst 23 Jahre an dieser Grenze gedient und weiß sehr wohl, welche überaus harten Anforderungen die wehrpflichtigen Soldaten im Grundwehrdienst, die Unteroffiziere, die Fähnriche und Offiziere auf sich nahmen, um Leid und Schaden zu vermeiden. Sie haben es nicht verdient, mit so einseitig verurteilenden Bezeichnungen wie Todesstreifen diskriminiert zu werden. 1989 haben sie wohl einzigartig in der deutschen Geschichte bewiesen, wie verantwortungsvoll sie handeln können, wie sie in einer Zeit dramatisch steigender Spannungen in der DDR besonnen auftraten und den Prozess der Grenzöffnung, anfangs auf eigenen Entschluss, gemeistert haben, ohne dass dabei ein Schuss fiel!“

Deutliche Kritik

Auf die Frage, wie er heute auf die Ereignisse vor 30 Jahren zurückblickt, erklärte der ehemalige DDR-Grenzschützer: „Ich bin nicht böse, dass Deutschland wieder eins ist. Ich bin absolut nicht damit einverstanden, dass es über diesen Weg des Anschlusses gemacht wurde. Die dafür Verantwortlichen haben dem Volk damit nichts Gutes getan.“ Viele heutige Probleme in der Bundesrepublik hätten darin ihre Ursache.

Prauß meinte im Rückblick, dass sein Dienst an der Grenze „in Ordnung war. Wir hätten sicher manches oder besser anders machen können, zum Beispiel, wie der Schusswaffeneinsatz zu verhindern war. Aber ich bin stolz darauf, dass das bis zum Schluss so funktioniert hat.“ Der heute 71-Jährige hatte Glück und geriet 1990 nicht ins Visier der bundesdeutschen Justiz, auch, weil ihm nach bundesdeutschem Recht nichts vorzuwerfen war.

Der ehemalige Grenztruppen-Oberst sieht die Prozesse gegen DDR-Grenz-Soldaten und -Offiziere, die es ab 1990 in der vereinigten Bundesrepublik gab, als „Tragödie und Schande erster Güte“. „Das zeigt, dass man eine Wiedervereinigung nie wollte. Das war ein politischer Kampf. Man hat sich nach dem Anschluss der DDR an die BRD auch an unseren ehemaligen Angehörigen mehr oder weniger gerächt.“ Das sei international „völlig einmalig“ gewesen, meinte Prauß, „sowas hat es in der Welt nie gegeben. Die Prozesse haben mit Recht und Gesetz absolut nichts zu tun gehabt.“