Vor 30 Jahren hat eine übereilte Information über die geplante Reisefreiheit für DDR-Bürger die deutsch-deutsche Grenze geöffnet. Die DDR-Grenzschützer und -Kontrolleure hatten keine Wahl. Harald Jäger berichtet, warum er in der Nacht vom 9. November 1989 den Schlagbaum an der Bornholmer Straße öffnen ließ.
„Der Mann, der die Mauer öffnete“ – so heißt ein Buch von Gerhard Haase-Hindenberg über Harald Jäger. Er war derjenige, der in der Nacht vom 9. November 1989 gegen 23.30 Uhr den Befehl gab, den Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße zu öffnen. Jäger war im Herbst 1989 als Oberstleutnant einer der beiden Stellvertreter der Passkontrolleinheit (PKE) an der Grenzübergangsstelle (Güst) Bornholmer Straße im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. (siehe Teil 1)
Seine eigenen Erfahrungen mit der DDR haben dazu beigetragen, dass er damals so handelte, wie er gegenüber Sputnik erklärte. Zuvor hatte er in einer Pause in den Diensträumen die TV-Übertragung von der Pressekonferenz von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski gesehen. In dieser erklärte der SED-Funktionär kurz vor 19 Uhr, die DDR-Bürger dürften „sofort“ und „unverzüglich“ über die DDR-Grenze ausreisen, zu Besuch oder für immer.
„Was redet der für einen geistigen Dünnschiss?“, habe er sich gefragt, so Jäger. Ihm sei gleich klar gewesen, was Schabowskis Aussagen für die DDR-Bürger bedeuteten: Sie können sofort allein mit ihrem Personalausweis in den Westen. Er habe daraufhin bei der vorgesetzten Dienststelle im MfS, der Hauptabteilung VI, angerufen. Dort habe ihm Oberst Rudi Ziegenhorn geantwortet: „Wegen dem Blödsinn rufst Du an?“ Dann sei er aufgefordert worden, die Lage zu beobachten. Der Historiker Hans-Hermann Hertle hat in seiner „Chronik des Mauerfalls“ (kürzlich in neuer Auflage mit dem Titel „Sofort, unverzüglich“ wieder erschienen) den Verlauf des Gespräches wiedergegeben.
„Da war nichts“
Der heute 76-Jährige fügte im Gespräch hinzu: Er habe angenommen, der PKE-Leiter des Grenzübergangs, Oberstleutnant Werner Bachmann, habe vergessen, ihm die Vorschriften zu der von Schabowski verkündeten Regelung zu übergeben. „Aber da war nichts.“ Vor dem Grenzübergang hätten sich mit der Zeit immer mehr Menschen und PKW eingefunden. Straßenbahnen seien nicht weitergefahren, die Straßen seien blockiert gewesen.
Er habe die Situation dem Diensthabenden in der MfS-Leitstelle mehrmals geschildert, erinnerte sich Jäger. Doch Oberst Ziegenhorn habe nur gesagt:
„Ich kann Dir nicht helfen. Ich habe alle informiert, selbst den Sicherheitschef vom Zentralkomitee, Wolfgang Herger. Ich kriege von denen nichts. Die glauben uns nicht.“
Daraufhin habe Ziegenhorn per Konferenzschaltung Jäger bei einem neuen Anrufversuch in der MfS-Zentrale mithören lassen. Er habe ihm zeigen wollen, wie rat- und sprachlos die politische und militärische Führung in dem Moment waren.
So konnte der Passkontrolleur mithören, wie der amtierende Staatssicherheitsminister Gerhard Neiber an seinen Aussagen zweifelte:
„Ja, ist denn der Jäger in der Lage, die Situation real einzuschätzen, oder hat er einfach nur Angst?“
Ziegenhorn habe darauf geantwortet: „Wenn Jäger die Lage so meldet, ist sie so. Da können Sie sicher sein.“ Dann wurde er aus der Leitung genommen, erinnerte sich Jäger. Er habe vorher noch den Hörer rausgehalten, damit die immer lauter werdenden Rufe „Macht das Tor auf!“ und „Wir kommen wieder!“ zu hören sind. Doch das bekamen seine Vorgesetzten nicht mehr mit.
„Lasst sie nicht wieder einreisen“
„Ich hab die Welt nicht mehr begriffen“, schilderte er rückblickend, wie er sich damals nach diesem Erlebnis fühlte. Was er da zu hören bekam, das empört ihn noch heute:
„Ich habe 28 Jahre lang an der Grenze gestanden, habe Schulen besucht noch und nöcher. Und dann sagt man mir, ich sei geistig nicht in der Lage, das richtig darzustellen oder richtig zu erkennen, oder ganz einfach feige.“
Er sei daraufhin aus dem Dienstgebäude am Grenzübergang rausgegangen und davor auf und ab gelaufen, sprachlos. Kurz darauf habe Oberst Ziegenhorn erneut angerufen und im militärischen Ton, was sonst unüblich gewesen sei, mitgeteilt:
„Genosse Jäger, Sie machen jetzt Folgendes: Die provokativen DDR-Bürger zieht Ihr aus den Massen raus und lasst Sie nach West-Berlin ausreisen und stempelt den Ausweis ungültig, indem Ihr den Passkontrollstempel auf das Lichtbild macht.“
Außerdem sollten die Personalien derjenigen aufgenommen werden, damit sie über die Fahndungsliste an der Rückkehr gehindert werden könnten. „Lasst sie nicht wieder einreisen“, habe der Vorgesetzte noch hinzugefügt.
Falschmeldungen mit Folgen
Er sei froh gewesen, etwas machen zu können, dass ein Befehl kam, sagte er im Gespräch dazu. Er habe zwar Zweifel gehabt, wie das angesichts der Massen vor dem Schlagbaum, die sich inzwischen dort eingefunden hatten, funktionieren sollte. Das alles geschah gegen 21 Uhr am 9. November 1989, etwa zwei Stunden nach Schabowskis Aussagen vor den TV-Kameras. Diese hilflose „Ventil-Lösung“ der MfS-Verantwortlichen wird in der Literatur zu dem Ereignis ausführlich beschrieben.
Auf diese Weise seien rund 500 DDR-Bürger durch den regulären Grenzübergang nach West-Berlin gelassen worden, rund 200 mit dem ausbürgernden Stempel auf dem Bild im Personalausweis.
„Das war der Anlass für ARD und ZDF, in ihren TV-Nachrichten zu sagen: Die Grenze ist weit offen. Aber das stimmte nicht.“
Das habe aber für noch mehr Zulauf in die Bornholmer Straße und immer lautere Rufe der Wartenden gesorgt. Aber zunehmend seien auch West-Berliner auf die andere Seite gekommen, um sich anzuschauen, was vor sich geht.
Der erneute Hinweis an Oberst Ziegenhorn über die Lage habe nur zu der Ansage geführt: „Ich habe Dir gesagt, was Du machen sollst.“ Seine Genossen und Unterstellten hätten ihm daraufhin gesagt:
„Harald, wenn von oben nichts kommt, dann musst Du was tun.“
Ihm sei an dem Punkt bereits klar gewesen, was er tun muss, so Jäger. Doch er habe nochmal nachgefragt bei seinen Mitstreitern, was er tun solle. „Ich wollte von meinen Leuten Rückhalt haben“, erklärte er das.
„Keiner wollte schießen“
Er habe die anderen auch gefragt, ob er schießen lassen solle. Doch das hätten die erschrocken abgelehnt. Jäger betonte: Es sei nie eine ernsthafte Alternative in dieser Nacht vor 30 Jahren gewesen, mit Schusswaffen gegen die vorzugehen, die nur tun wollten, was Schabowski ihnen im TV erlaubt hatte.
Das sei zudem bereits nach dem Tod von Chris Gueffroy an der Grenze im Februar 1989 ausdrücklich verboten gewesen, per Befehl von SED-Chef Erich Honecker als Vorsitzendem des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom April des Jahres. Die Kontrolleure und Grenzschützer in der Bornholmer Straße hätten sich nicht von denen bedroht gefühlt, die über die Grenze wollten.
Jäger erinnerte sich, dass kurze Zeit später ein erstes Ehepaar zurück nach Hause, nach Ost-Berlin, kommen wollte. Doch der Mann hatte den Stempel auf seinem Ausweis-Bild und galt damit der Anweisung entsprechend als ausgebürgert. Deshalb hätte nur seine Frau wieder einreisen dürfen, bei der der Stempel nicht so platziert war.
„Ich habe mich strafbar gemacht“
Der Mann habe sich verständlicherweise vom Posten an der vordersten Linie nicht zurückschicken lassen. „Da ist mir klar geworden, was wir da eigentlich gemacht haben“, so der verantwortliche Passkontrolleur. Er habe daraufhin die beiden wieder reingelassen, entgegen der Anweisungen. Danach habe er den anfänglichen Befehl wieder aufgehoben und den Posten an der vordersten Linie angewiesen, alle DDR-Bürger wieder reinzulassen.
Jäger, der auch Diplom-Jurist war, wurde damals schon klar: Mit der angeordneten „Ventil-Lösung“ wird gegen alle DDR-Gesetze verstoßen. Nur ein Gericht habe DDR-Bürgern die Staatsbürgerschaft aberkennen und ausweisen dürfen, nicht ein einzelner Mitarbeiter eines Grenzübergangs. Das habe auch für Ausreisen in den Westen gegolten. „Ich habe mich genau genommen strafbar gemacht“, schätzte er rückblickend ein.
„Einen Befehlsnotstand, der das erlaubte, gab es nicht. Ich hätte den Befehl gar nicht ausführen dürfen. Ich hätte das von vornherein verweigern können.“
Das sei der Augenblick gewesen, an dem er für sich entschieden habe:
„Jetzt machst Du das, was Du für richtig hältst.“
Daraufhin sei er zu dem Posten an dem Schlagbaum in der Bornholmer Straße gegangen und habe diesem befohlen, den Schlagbaum zu öffnen und die Kontrollen einzustellen. Das geschah eine knappe halbe Stunde vor Mitternacht am 9. November vor 30 Jahren und gilt seitdem als Zeitpunkt der Maueröffnung.
„Da war keine Freude“
„Dann brach für mich restlos eine Welt zusammen“, beschrieb er, was er beim Anblick der in den Westteil Berlins strömenden DDR-Bürger empfand. Er habe das Gefühl gehabt:
„Die verlassen Dich jetzt alle. Der DDR-Bürger verlässt uns jetzt und Du bist allein da.“
Auf den TV-Bildern von der Nacht sei den anderen, die mit ihm am Grenzübergang Dienst hatten, anzusehen, dass es ihnen ähnlich ging.
„Da war keine Freude, als wir das gesehen haben, wie die da jubelnd rüberzogen“, beschrieb er die damaligen Gefühle. Es habe in der Nacht eine Weile gedauert, ehe ihm klar geworden sei, was da geschah. Er gestand ein: „Ich war in der Situation einfach mal heulen. So war mir.“ Doch als er deshalb in die Dienstbaracke ging, stand in der schon ein Hauptmann – weinend angesichts des Geschehens. „Da konnte ich mich ja schlecht dazu stellen.“
Dann habe er einen Kaffee trinken wollen und seinen Stellvertreter-Kollegen Görlitz getroffen, der ihm dort seine schon erwähnte Vorahnung vom Ende der DDR offenbarte. In der Zeit, nach Mitternacht, sei auch der PKE-Leiter Werner Bachmann eingetroffen, nachdem er bei einer Beratung im MfS war. Bei der ging es eigentlich um die von Schabowski voreilig verkündete Reiseverordnung und wie sie umgesetzt werden sollte. Sein Chef habe zu ihm nur gesagt: „Ob das notwendig war, was Du hier getan hast.“
„Säg‘ nicht an dem Ast …“
Jäger fügte hinzu: „Selbst er hat das nicht begriffen, oder wollte es nicht wahrhaben. Dabei hat er noch erlebt, wie die Massen weit nach Mitternacht Richtung West-Berlin zogen.“ Bachmann habe sich noch im Nachhinein als „Betonkopf“ gezeigt. Bei jeder in der Folgezeit vorgeschlagenen Veränderung am Grenzübergang und dem dortigen Verfahren habe der PKE-Chef zu ihm gesagt:
„Säg‘ nicht an dem Ast, auf dem Du sitzt. Es kommt nochmal ganz anders.“
Diese Haltung habe sein Vorgesetzter noch eine ganze Weile gezeigt – doch es ging nicht mehr zurück in die Zeit vor dem 9. November 1989.
Eigentlich sollte die überstürzt verkündete Reiseverordnung der DDR-Regierung ab dem 10. November 1989, 4 Uhr morgens, gelten. Selbst dann wäre das alles nicht zu beherrschen gewesen, stimmt Jäger Einschätzungen anderer ehemaliger Grenzoffiziere zu. Alle Veränderungen am Grenzregime, die er in den 28 Jahren Dienstzeit erlebt habe, hätten wochenlange Vorbereitungszeiten gehabt, ehe sie umgesetzt werden konnten. Allein die technischen Vorbereitungen für die umfangreichere Passkontrolle hätte viel mehr Zeit in Anspruch genommen, als da vorgesehen war.
„Die DDR-Bürger wären am Freitag, dem 10. November, gar nicht mehr auf Arbeit gegangen“, ist er sich sicher, wenn sie statt wie in der Nacht gleich zur Grenze erst zu den Volkspolizei-Kreisämtern gegangen wären, um sich die Reiseerlaubnis zu holen. Das war eigentlich als Verfahren vorgesehen und hätte zumindest den Ansturm mehr verteilt.
„Ist gut, mein Junge“
Selbst die erforderlichen Reisepässe hätten gar nicht so schnell in der entsprechenden Zahl hergestellt werden können – weil die DDR das dafür notwendige Dokumentenpapier nicht in ausreichendem Maß vorrätig hatte, so Jäger. „Der DDR-Bürger hätte wochenlang auf seinen Reisepass gewartet“, beschrieb er die potenzielle Folge.
„Wir wären am nächsten Tag vom Regen in die Traufe gefallen.“
Oberst Ziegenhorn habe zu ihm gesagt, als er mitteilte, dass er 23.30 Uhr öffnen und alle Kontrollen einstellen ließ: „Ist gut, mein Junge.“ Als Jäger das hörte, wunderte er sich nur. Jahre später sei ihm klar geworden, was damit gemeint war, erinnerte er sich:
„Keiner hätte die Grenze aufmachen können, nicht einer, weder Krenz noch Herger als ZK-Sicherheitschef oder Verteidigungsminister Heinz Keßler. Nicht einmal Gorbatschow hätte die DDR-Grenze aufmachen können.“
Der Grund:
„Der Warschauer Vertrag funktionierte noch. Sämtliche Mitgliedsstaaten hätten ihre Zustimmung zur Öffnung der Grenze geben müssen. Wenn man die Grenze zur BRD und zu West-Berlin aufmacht, den Warschauer Vertrag Richtung Westen damit aufmacht – das ist ja wie eine Kapitulation.“
„Ich sollte der Sündenbock sein“
Jäger ist klar:
„Den Befehl hätte keiner geben dürfen oder keiner geben können. Ich denke, Ziegenhorn meinte: ‚Hast Du endlich erkannt, was Du machen sollst.‘ Das hieß: Nur so einer, wie ich es war, konnte das in dieser Nacht tun, unbeabsichtigt die Grenze aufmachen. Da war von der Führung keiner dran schuld.“
Damit wäre Jäger zum Sündenbock geworden, wenn in den Folgetagen die Entwicklung noch einmal zurückgedreht worden wäre. Darüber wurde zumindest diskutiert, auch in der SED-Führung.
„Das sollte ich auch werden“, ist sich der Grenzöffner sicher. Der Historiker Hertle habe ihm in den 1990er Jahren erzählt, dass bereits am 14. November 1989 die DDR-Militärstaatsanwaltschaft Ermittlungen „gegen unbekannt“ wegen der Öffnung der Grenze an der Bornholmer Straße aufgenommen hatte. Damals war noch nicht offiziell bekannt, dass Jäger den Befehl gegeben hatte.
Buchautor Haase-Hindenberg habe ihm später dazu gesagt:
„Die, die Du als Offizier der Staatssicherheit bekämpft hast, die Bürgerrechtler haben Dir am Runden Tisch den Arsch gerettet.“
Durch die weitere Entwicklung in der DDR sei es nicht mehr zu einem Verfahren gegen ihn gekommen.
In Teil 3 des Rückblicks von Harald Jäger ist zu erfahren, was der grenzöffnende Grenzschützer in der Folgezeit erlebt und wie er die Ereignisse heute sieht.