„Keine Waffen gegen das eigene Volk“ – Ex-NVA-General über DDR 1989. Teil 2

Die Ereignisse 1989 hat Heinz Bilan als General und Polit-Offizier der DDR-Militärakademie in Dresden erlebt. Er hat darüber mit Sputnik gesprochen und erklärt, warum die NVA am 9. November 1989 den Untergang der DDR nicht verhinderte. In Teil 2 geht es auch darum, warum das Militär nicht wie befürchtet gegen Demonstrationen eingesetzt wurde.

Die Ereignisse 1989 in der DDR lassen sich nicht ohne die Entwicklung zuvor verstehen. Gleichzeitig wird im Rückblick auf die Vorgänge vor 30 Jahren manches falsch dargestellt. Darauf hat Heinz Bilan im Gespräch mit Sputnik aufmerksam gemacht. Er war als Generalmajor zuletzt stellvertretender Chef der Militärakademie „Friedrich Engels“ der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR in Dresden, zuständig für politische Arbeit und damit Vertreter der Sozialistischen Einheitspartei (SED).

Für Bilan ist klar:

„1989 wollte das Volk nicht mehr so wie das Politbüro im Olymp in Berlin. Leider war unsere Parteiführung sehr abgehoben und wenig mit dem Volk verbunden.“

Er habe diese Entwicklung mit Sorge beobachtet und auch auf die Folgen aufmerksam gemacht.

Einheitliche Auffassung

Der heute 88-jährige Ex-General widersprach aber den anhaltenden Gerüchten über Pläne der SED-Spitze, im Herbst 1989 das Militär mit Schießbefehl gegen die Demonstranten in Leipzig und in anderen Orten einzusetzen. „Genau wie es klar war, dass die NVA niemals Waffen gegen das eigene Volk einsetzt – so haben wir 40 Jahre unsere Menschen erzogen –, so klar war das auch beim Einsatz hier in Leipzig.“

„Es gab eine einheitliche Auffassung in der NVA, bis in die höchsten Spitzen hinein: Wir als Volksarmee werden uns nicht gegen das Volk stellen.“ In mehreren Beratungen verschiedener Gremien im DDR-Verteidigungsministerium sei über einen möglichen bewaffneten Einsatz gesprochen worden. Bilan erinnerte sich: „Da haben alle, ohne Ausnahme, einen bewaffneten Einsatz der NVA gegen das Volk abgelehnt.“

Es habe für die Demonstrationen in der Messestadt wie die am 9. Oktober 1989 keinen Schießbefehl gegeben, „weil es grundsätzlich keinen Schießbefehl in der NVA gab“. Die Schusswaffenbestimmungen der DDR-Armee seien fast identisch mit denen der Bundeswehr gewesen. Bei den Demonstrationen in Leipzig habe es „zu keinem Zeitpunkt“ die Absicht gegeben, auf Seiten der Sicherheitskräfte Waffen einzusetzen. Das habe ihm vor kurzem Egon Krenz, letzter SED-Generalsekretär und letzter Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, bestätigt, ebenso Ex-NVA-General Fritz Streletz. Diese beiden seien damals in Leipzig gewesen.

Anderes Staatsverständnis

Bilan widersprach ebenso der wiederholten Behauptung, dass NVA-Truppen im Raum Leipzig für den Fall der Eskalation zusammengezogen worden seien. Allerdings bestätigte er, dass Truppen in dem Fall eingesetzt worden wären, „wenn es zu Gewalthandlungen der Konterrevolutionäre gekommen wäre“. Die Masse der Demonstranten seien aber keine „Konterrevolutionäre“ gewesen, sondern hätten etwas Positives gewollt.

Doch die gegnerischen Kräfte, die als gefährlich eingestuft worden seien, seien nicht zu unterschätzen gewesen, auch wegen ihrer Unterstützung von außen. Für Bilan zählt dazu die gezielte Wortwahl, mit der Begriffe bis heute umgedeutet werden. Das spiele in der psychologischen Kriegsführung auch der Gegenwart eine nicht zu unterschätzende Rolle spiele. Das wirke besonders hierzulande, bedauerte er.

Auf die Frage, warum die DDR-Armee, die NVA, mit ihrer Aufgabe, den Staat zu verteidigen, nicht in dem Fall 1989, als es für die DDR um die Existenz ging, eingesetzt wurde, sagte der Ex-General, das sei nie in Frage gekommen. Er begründete das mit dem marxistischen, grundsätzlichen anderen Verständnis vom Staat im Vergleich zu dem des Bürgertums:

„Der Staat ist das Volk. Wir machen als Marxisten keinen Unterschied zwischen dem Staatsapparat und den Millionen Menschen als dem ‚Staatsinhalt‘. Sie zu verteidigen, das war unser Auftrag.“

Die NVA wäre ausgerückt, wenn der Westen sich entschieden hätte, die Konterrevolutionäre mit Waffen zu unterstützen – „dann hätte es Krieg gegeben“.

Unsinnige Idee

Immer wieder ist zu hören, dass SED-Chef Honecker im Oktober 1989 zumindest zur Abschreckung Panzer durch Leipzig rollen lassen wollte. Das sei ihm angeblich von Krenz und Streletz, Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, ausgeredet worden. Eine solche Idee sei von vornherein unsinnig gewesen, kommentierte das Ex-General Bilan:

„Jeder, der ein bisschen Ahnung hat, weiß, wie leicht ein Panzer zum Stehen zu bringen ist. Die Jungs wären gelyncht worden. Kein Kommandeur der NVA hätte einen solchen Befehl gegeben, weil die möglichen Folgen völlig klar waren.“

Zudem habe es im Raum Leipzig keine Panzereinheiten gegeben, fügte er hinzu. Die beiden NVA-Panzerdivisionen mit jeweils über 300 Panzern seien in Eggesin im Norden und in drei Südbezirken rund um Dresden stationiert gewesen. Auch für Dresden sei eine solche Variante nie diskutiert worden. „Das sind alles Provokateure, die sowas behaupten, die uns schlecht machen wollen. Wenn man zwischen den Zeilen liest, weiß man, was sie bewirken wollen.“

„Sie waren uns nicht freundlich gesinnt“, erinnerte sich Bilan an die Haltung der Bürgerbewegung und der Kirchen in der DDR gegenüber der SED. Es habe unter diesen auch „vernünftige und fortschrittliche Menschen“ gegeben. „Aber die Kirche war ein Hort der Konterrevolution“, schätzte er ein: „So muss man das heute einfach nochmal sagen.“

Er begründete seine Sicht unter anderem mit dem einstigen Engagement von Gruppen in der Kirche in der DDR für Frieden und Abrüstung, „solange die DDR bestand“. „Und jetzt ist das auf einmal weg“, stellt er mit Blick auf die Gegenwart 30 Jahre später fest.

„Die NVA hat niemals Krieg geführt, aber die Bundeswehr hat mit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 ihre ‚Jungfernschaft‘ verloren. Deutsche Soldaten führen wieder Krieg. Wo ist jetzt diese sogenannte kirchliche Friedensbewegung?“

Entscheidende Herkunft

Die NVA hätte den Untergang der DDR nicht verhindern können, beantwortete der Ex-General eine entsprechende Frage.

„Eine Armee ist nicht in der Lage, einen Staat zu führen. Wir hätten für eine kurze Zeit eine Schreckensherrschaft herstellen können, aber nie von Dauer, und das auch nur theoretisch. Dafür hätte man das gesamte Offizierskorps der NVA austauschen müssen. Dann hätten wir andere Offiziere haben müssen.“

Bilan verwies auf die soziale Herkunft selbst der obersten NVA-Generäle. So sei der langjährige DDR-Verteidigungsminister der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann, Schlosser von Beruf gewesen, wie Bilan selbst. Die hochrangigen Kommandeure seien alles Arbeiter von ihrer Herkunft her gewesen. „Die ließen sich niemals gegen die Arbeiterklasse missbrauchen“, betonte er.

Hinzu sei gekommen, dass zahlreiche hochrangige DDR-Militärs in ihrer Jugend aktive Antifaschisten waren. So sei der Vizeminister Generaloberst Heinz Keßler von den deutschen Faschisten noch zum Tode verurteilt worden. Nach dem Ende der DDR verurteilte die bundesdeutsche Justiz Keßler zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis dafür, dass er seinem Staate gesetzestreu diente. Er selbst habe als junger Offizier den Spanien-Kämpfer Otto Schliwinsky als Regimentskommandeur gehabt und sei sein Politstellvertreter geworden, erinnerte sich Bilan. Dieser habe im Zweiten Weltkrieg als Aufklärer der Roten Armee gegen die deutschen Faschisten gekämpft.

Gelähmte Parteiführung

Der einstige Politstellvertreter der NVA-Militärakademie war am Vorabend der Maueröffnung am 9. November 1989 im Verteidigungsministerium in Strausberg bei Berlin, berichtete er. Dort sei allgemein informiert worden, „dass es Entscheidungen gegeben haben soll. Welche, wussten wir nicht.“ Er habe an dem 9. November vor 30 Jahren auf dem Rückweg nach Dresden aus dem Radio erfahren, dass die Grenzen geöffnet werden sollen.

„Diese Grenzöffnung hätte die NVA nicht verhindern können und auch nicht verhindern wollen“, betonte der Ex-General. Es habe sicher Einzelne innerhalb der Armee gegeben, die das anders gesehen hätten. Aber das hätte den Positionen innerhalb der SED-Führung ebenso wie der Staatsführung widersprochen. „Aber die waren ja alle gelähmt“, hob Bilan hervor, „die haben ja nicht regiert. Sie überließen alles dem kleinen Grenzer an der Staatsgrenze in Berlin.“

Der Chef der DDR-Grenztruppen habe erst später davon erfahren, dass die Grenzen geöffnet werden sollen. Das hätte eigentlich alles vorbereit werden müssen. „Das wurde auf dem Rücken dieser Männer an der Staatsgrenze ausgetragen, wenn man so will, ein politisches Verbrechen.“ Es sei der Erziehung der Menschen in den Uniformen der Grenztruppen zu verdanken, dass in der Nacht vom 9. November 1989 alles einigermaßen organisiert und ohne Gewalt ablief. „Wenn wir sie in all den Jahren zuvor nicht so erzogen hätten, hätte das schlimm ausgehen können.“

Ahnungsloser Schabowski

Es habe keine Absicht gegeben, Waffen einzusetzen, aber die Öffnung der Grenze wäre auch nicht zu verhindern gewesen, ist sich Bilan sicher. „Da waren alle Messen bereits gesungen, da war nichts mehr zu machen.“ Die Grenztruppen der DDR hätten das ebenso wie die NVA nicht verhindern können. Ein Grund:

„Die Armee war auf eine solche Situation überhaupt nicht vorbereitet. Wir waren auf den Krieg vorbereitet. Auf einen vom Westen angezettelten Krieg hätten wir im Bündnis des Warschauer Vertrages reagiert, aber wir waren nicht darauf vorbereitet, selbst an die Grenze zu gehen.“

Über Günther Schabowski, der mit seiner vermeintlich unbedachten Äußerung auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 das Geschehen ins Rollen brachte, meinte der Ex-General: „Der war ja weit weg von der Realität. Er hat von den inneren Gesetzen unseres Landes sehr wenig verstanden.“ Er habe den ehemaligen SED-Funktionär kennengelernt und damals „nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass er so eine Null ist“.

Sowjetische Rolle

Zur Rolle der sowjetischen Armee, der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte (WGT), bei den Vorgängen, erklärte der einstige Polit-Offizier, es habe einen klaren Befehl aus Moskau an diese gegeben. Danach sollten sich die sowjetischen Einheiten nicht einmischen, woran sie sich gehalten hätten. Allerdings habe ihr Oberbefehlshaber, Armeegeneral Boris Snetkow, der NVA-Führung mitgeteilt: „Wenn Ihr uns braucht, dann werden wir Euch helfen.“ Was damit gemeint war, sei nicht bekannt, so Bilan.

Aber der NVA-Führung sei klar gewesen, dass das nicht geht. Für die eigene Armee sei klar gewesen, dass sie in den Kasernen bleibt. „In jeder Armee gibt es kühne Leute, die gab es auch bei uns“, erinnerte der ehemalige General sich an einige, die ein Eingreifen gewollt hätten. „Sie hatten viel militärische Erfahrung“, sagte er mit Blick auf die sowjetischen Offiziere. „Aber sie hatten nicht unsere Erfahrung: Die eines in zwei Staaten geteilten Landes, die sich feindlich gegenüber standen, aber eine Muttersprache hatten.“

„Ohne die Sowjetunion hätte es keine DDR gegeben, weil sie nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus unser wichtigster Partner war. Das war politisch so und das war ökonomisch so. Von ihr bekamen wir fast alle Rohstoffe und es war auch unser größter Absatzmarkt.“

Ahnungsvoller Modrow

Der Ex-General erinnerte im Gespräch mit Sputnik daran, dass die KPD nach dem Ende des Faschismus durch den Sieg der Roten Armee einen eigenständigen Weg zum Sozialismus suchen wollte. Aber das sei von Moskau nicht zugelassen worden.

„Die Freundschaft zur Sowjetunion war für uns das größte Glück und zugleich ein großes Verhängnis, weil wir sehr abhängig waren.“

Im Bereich des Militärs sei es kein „Verhängnis“ gewesen, betonte Bilan ausdrücklich. „Ohne die Sowjetunion gab es keine Nationale Volksarmee (NVA). Sie hat uns in allen Dingen geholfen, was die Ausbildung anbetrifft, ebenso die Technik und Bewaffnung. Die NVA war ohne die Sowjetarmee nicht denkbar.“

Der Ex-General erinnerte sich an eine Parteiaktiv-Tagung in den späten 1980er Jahren, auf der Modrow nach dem Verhältnis zur Sowjetunion gefragt worden sei: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, das sei doch die Devise gewesen, habe der Fragesteller gesagt. Der SED-Bezirkschef habe geantwortet, diese Losung müsse korrekt heißen: „Von der Sowjetunion lernen will gelernt sein.“ Bilan hat das nach seinen Worten „außergewöhnlich richtig“ gefunden. Und fügte hinzu: „Das haben wir in der SED leider nicht richtig verstanden.“

Dilettantischer Gorbatschow

„Honecker hat aus meiner Sicht neben vielen anderen in einem besonderen Punkt völlig Recht gehabt, wofür ich ihn bewundere: in der Beurteilung der Person Gorbatschows und der Perestroika-Politik. Diese war ein dilettantischer Versuch, den Sozialismus in der Sowjetunion zu reformieren – wenn Gorbatschow das wirklich gewollt hat.“ Daran hat Bilan bis heute Zweifel, angesichts des Vorgehens des letzten KPdSU-Generalsekretärs gegen den eigenen Parteiapparat.

SED-Generalsekretär Honecker habe frühzeitig dazu gesagt: „Das ist nicht unser Weg.“ „In dieser Beziehung hatte er Recht“, kommentierte das der einstige Polit-Offizier rückblickend. Den Versuch, die DDR zu verkaufen, habe nicht Gorbatschow als Erster unternommen, meinte Bilan. Der sei schon von NKWD-Chef Berija in den 1950er Jahren vorgedacht worden. „Wir waren nicht stark genug, um allein zu überleben.“

Er halte heute sehr viel von dem im aus dessen Dresdener Zeit bekannten Wladimir Putin als Präsident der Russischen Föderation.

„Er ist ein treuer Diener seines Landes, hat viel Gutes eingeleitet. Am meisten bewundere ich die Militärpolitik, die Putin verfolgt, und unterstützte bisher jeden Schritt, auch die Wiederheimholung der Krim.“

Felsenfeste Überzeugung

Bilan gestand ein, dass er früher dachte, die Partei könne und dürfe alles. „Aber so ist es nicht“, habe er längst erkannt. „Das ist ein falsches Partei-Verständnis gewesen, dem wir zeitweilig unterlegen sind. Wir haben den Beschlüssen des Politbüros vertraut.“ Der frühere Polit-Offizier fügte hinzu: „Aber egal wer, ob Generalsekretär oder Politbüro der SED: Jeder von uns hatte sich an Gesetze zu halten.“ Die Klassiker des Sozialismus wie Karl Marx oder Lenin hätten nie geschrieben: „Parteiführer dürfen alles.“

30 Jahre später ist für den ehemaligen NVA-General und bis heute überzeugten Kommunisten besorgniserregend, dass die Kriegsdrohung gegen andere wieder Normalität geworden ist. „Das war in der DDR undenkbar!“ Obwohl Europa keine Feinde habe, rüste die Bundesrepublik ständig auf. Seit der deutschen Einheit 1990 würden „Betrug und Lüge nicht nur die Politik, sondern auch das Alltagsleben“ begleiten. „Und das macht die Menschen krank.“

„Wir waren nicht so reich an Waren und Reisemöglichkeiten. Wir waren aber glücklicher, weil wir in Sicherheit und Geborgenheit lebten. Wenn ich ‚wir‘ sage, meine ich nicht die Gegner des Sozialismus. Die Gegner des Sozialismus hatten allen Grund, nach einem anderen System zu lechzen.“

Für ihn gelte:

„Wir haben nicht umsonst gelebt. Wir haben eine große Schlacht verloren, aber nicht den Krieg zwischen Arm und Reich. Wir haben unsere Überzeugung nicht verloren, dass das, was jetzt ist, nicht der Endpunkt der Geschichte sein kann. Niemand weiß, wann es sein wird. Eins ist aber klar: Unsere Urenkel werden aus den Fehlern des Frühsozialismus lernen, die großen Leistungen ihrer Vorfahren objektiv bewerten und ganz gewiss eine neue, gerechte, sozialistische Welt aufbauen. Davon bin ich felsenfest überzeugt.“