Sind die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in der Bundesrepublik seit der „Flüchtlingswelle“ 2015 und die Wahlergebnisse der AfD nur Zeichen von Rassismus oder verbirgt sich etwas Anderes dahinter? Eine Antwort auf die Frage hat am Freitag in Berlin ein linker Politologe versucht zu geben.
Der Unmut verunsicherter und benachteiligter Menschen über die Folgen der anhaltenden neoliberalen Politik in der Bundesrepublik führt zu dem hohen Zuspruch für rechte Protestbewegungen. Davon profitieren Erscheinungen wie Pegida und die Alternative für Deutschland (AfD). Das meint der linke Politikwissenschaftler Thomas Lurchi, der den Neoliberalismus als „Offensive des Monopolkapitals“ kennzeichnet. Für ihn gehören zu diesen Unmutsäußerungen auch die fremdenfeindlichen Ausschreitungen im letzten Jahr in Chemnitz und Köthen.
Lurchi hat am Freitag im Marx-Engels-Zentrum in Berlin versucht, die Frage zu beantworten „Woher kommt der Aufstieg rechter Protestbewegungen?“ Er ist in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) aktiv und als Redakteur von deren Magazin „Theorie & Praxis“ tätig. Als Politikwissenschaftler hat er sich mit rechtspopulistischen Auffassungen unter Arbeitern beschäftigt.
Er sieht die rechten Protestbewegungen als „eine Form der Rebellion gegen jene etablierten Parteien, Strukturen und Akteure, aber auch gegen herrschende Wertorientierungen und gesellschaftliche Normen“. Grundlage für diese Rebellion ist laut dem Politologen die Erfahrung, „verraten worden zu sein“.
Rebellion in Folge von Ohnmacht
Zugleich handele es sich um eine „Form des Klassenkampfes“, „die der schlichten, aber objektiv richtigen Logik ‚Wir hier unten gegen die da oben‘ folgt“.
„Das Ziel dieser Rebellion ist es, laut zu sein, um wahrgenommen zu werden und sich als ein handelndes Subjekt sichtbar zu machen.“
Für Lurchi handelt es sich um einen Versuch dar, „die erfahrene Ohnmacht gegenüber der Offensive des Monopolkapitals zu überwinden, in dem man es ‚denen da oben‘ mal ‚so richtig zeigt‘ und ihnen ‚eins auswischt‘. Es sei deshalb auch kein Zufall, dass diese Rebellion sich angeblich vor allem in Ostdeutschland zeige, meinte er. Er verwies dabei auf „die erlebten Verletzungen, Beleidigungen und Benachteiligungen“ der Ostdeutschen in den fast 30 Jahren deutscher Einheit.
Der Politikwissenschaftler erklärte aber nicht, warum sich die Enttäuschung über die ausbleibenden versprochenen „blühenden Landschaften“ und die erfolgte Deindustrialisierung sich nun fremdenfeindlich ausdrücken muss. Ebenso blieb er eine Antwort auf die Frage schuldig, warum der Frust über die Folgen der von vielen im Osten 1989/90 erwünschten Übernahme des DDR-Gebietes sowie die Okkupation der ostdeutschen Strukturen durch westdeutsche Eliten sich gegen Geflüchtete austoben muss.
Zustimmung für Pegida und AfD als Systemkritik
Dagegen sagte er zur unter Ostdeutschen anzutreffenden Ablehnung Geflüchteter: „Sie selbst empfinden sich oft als ‚Heimatlose‘, denen ihre Existenzgrundlage genommen wurde. Und sie fühlen sich, selbst nach Jahrzehnten noch nicht integriert.“ Diese Haltung habe zum Beispiel die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping mit dem Titel ihres Buches „Integriert doch erstmal uns!“ auf den Punkt gebracht. Für den Politikwissenschaftler kommt in der hohen ostdeutschen Zustimmung zur AfD und den rechten Protestbewegungen auf der Straße und zum Rassismus „eine gewisse Systemkritik und eine Rebellion gegen die sozialen Verwerfungen des westdeutschen Kapitalismus zum Ausdruck“.
Auf das Versagen linker Kräfte wie der ostdeutschen PDS und der aus ihr entstandenen Partei mit dem demagogischen Namen „Die Linke“ ging Lurchi am Fallbeispiel einen Ost-Berliner Informatiker ein. Der sei in der DDR aufgewachsen und habe lange Zeit Linkspartei und ihre Vorgängerin gewählt. Doch bei der letzten Bundestagswahl hätten er und seine Frau erstmals ihre Stimmen der AfD gegeben – auch aus Enttäuschung über die in der Hauptstadt mitregierende Linkspartei, die nichts gegen Sozialabbau und die Schließung sozialer Infrastruktur bewirkt.
Dabei sei der Mann in seinem Umfeld nicht als Rassist bekannt. Der Informatiker sei inzwischen arbeitslos geworden, weil der internationale Konzern, in dem er tätig war, nun auch ihn wegrationalisierte. Damit habe er selbst erfahren, was er zuvor in seinem beruflichen Umfeld beobachten konnte und ihn selbst lange Zeit verschonte, aber dennoch verunsicherte. „Was glauben Sie, welcher Partei er. bei den nächsten Wahlen seine Stimme geben wird?“, fragte der Politologe.
Soziale Unsicherheit als Nährboden
Er widersprach der unter Linken oft anzutreffenden Erklärung, dass Pegida und AfD vor allem Ausdruck eines zunehmenden Rassismus seien. Nun lässt sich darüber streiten, ob die Erwerbstätigen infolge der neoliberalen Dominanz tatsächlich „Leid“ erfahren, wie Lurchi meint. Aber soziale Verunsicherung und die Angst vor dem Abstieg aus sicher geglaubten Lebensverhältnissen, sind sicher ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Und im konkreten Einzelfall können sie zu Existenzangst führen, die für die Einzelnen direkt lebensbedrohlich wirkt.
Lurchi nannte dabei die neue soziale Unsicherheit in Folge von Globalisierung und Digitalisierung. Ebenso verwies er auf den jahrelangen Sozialabbau im Zuge der „Agenda 2010“, ins Leben gerufen von dem ehemaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Auch das systematische Kaputtsparen der Kommunen sowie der öffentlichen und sozialen Infrastruktur im Namen der „Schuldenbremse“, nun propagiert vom SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz, zählte er zu dem, was die Menschen erleben.
Es sei „nur verständlich, dass die Menschen nach politischen Alternativen suchen, um dieses Leid zu überwinden“, so der Politologe. Warum die nicht bei der Linkspartei gesucht werden, beantwortete er so:
„Aufgrund ihrer Beteiligung an einer sozialreaktionären Politik gegen die Interessen der arbeitenden Menschen, besteht hier keinerlei Vertrauen mehr.“
Soziale Demagogie von rechts als Angebot
Die rechten Protestbewegungen würden dagegen ebenso wie die AfD eine konkrete Handlungsalternative anbieten. Jene, die ihnen zustimmen, bei ihnen mitlaufen oder bei ihnen das Kreuz auf dem Wahlzettel machen, würden damit ihre eigene Handlungsfähigkeit verteidigen oder wiederherstellen. Viele Menschen würden in den rechten Politikangeboten eine reale Möglichkeit sehen, die eigene erfahrene Ohnmacht zu überwinden.
Lurchi sieht nicht in dem Rassismus innerhalb der Gesellschaft den Grund für den Aufstieg rechter Protestbewegungen. Aus seiner Sicht nutzen diese die rassistische und chauvinistische Ausgrenzung Anderer als „Angebot zur Kompensation der Folgen der Offensive des Monopolkapitals“. Das sei der „materielle Kern“ dieses Aufstieges.
Warum Menschen hierzulande erneut, auch nach den historischen Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus von 1933 bis 1945, auf die soziale Demagogie rechter Protest- und offen neofaschistischer Bewegungen hereinfallen, erklärt das nicht. Dagegen sieht der Politologe in den antirassistischen Bündnissen und Massenaktionen einen „hilflosen Antifaschismus“. Damit werde nicht die richtige Antwort auf die rechten Protestbewegungen gegeben.
Falsche Gegnerbestimmung als Gemeinsamkeit
Die Bündnisse würden die Ursachen falsch analysieren, so Lurchi, indem sie diese in rassistischen Einstellungsmustern sehen und dabei „den sozialen Protestcharakter des Phänomens“ ignorieren. Zum anderen würden „die Opfer der Offensive des Monopolkapitals als Rassisten diffamiert und zum eigentlichen Gegner erklärt“. Das sieht der Politologe als „eine falsche Gegnerbestimmung im Klassenkampf“.
Letzteres hätten antirassistische Bewegungen am Ende mit den rechten Protestbewegungen gemeinsam:
„Beide lenken so vom eigentlichen Hauptgegner, dem Monopolkapital ab und bieten jeweils Opfer der Offensive des Monopolkapitals als Sündenböcke an: Hier die Flüchtlinge und da die unanständigen Rassisten.“
Der soziale Protest der Menschen gegen die erlebten Folgen der neoliberalen Politik der Regierenden im Auftrag des Kapitals werde nicht nur als rassistisch diffamiert. Indem selbst in Unternehmen Betriebsräte die Kündigung von Beschäftigten unterstützen, die mit fremdenfeindlichen Äußerungen auffielen, würden selbst noch die Beschäftigten – bei Lurchi marxistisch „die Arbeiterklasse“ –, die gemeinsam unter der kapitalistischen Offensive zu leiden haben gespalten: „in die bösen Rassisten und die guten Antirassisten, die dann zu allem Überfluss auch noch mit der Regierung gemeinsame Sache machen“.
„Die antirassistische Bewegung macht sich so zu einem ‚verlängerten Arm der Polizei‘: Sie sorgt für Ruhe und Ordnung ‚von unten‘, indem sie Massen mobilisiert, die nicht etwa gegen die sozialreaktionäre Politik der Regierung auf die Straße gehen, sondern gegen eine Protestbewegung, die sich gegen die Folgen dieser Politik richtet.“
Lurchi warnte: Wenn fortschrittliche Kräfte, wie Gewerkschaften, Betriebsräte, aber auch Linke und andere Antifaschisten, den eigentlichen Kern rechter Protestbewegungen verkennen und sich stattdessen in rein ideologische Auseinandersetzungen begeben, „machen sich damit zu Unterstützern der Herrschenden“. Eine effektive Strategie gegen den Aufstieg rechter Protestbewegungen hatte er am Freitag selbst noch nicht zu bieten.
„Knochenharte Neoliberale“ der AfD als Trittbrettfahrer
Aus dem Publikum kam reichlich Zustimmung, ebenso der Hinweis, dass die rechten Bewegungen kein besonderes ostdeutsches Phänomen seien. Seit Gründung der Bundesrepublik seien sie in deren politischer Landschaft zu finden. MEZ-Mitbegründer Andreas Wehr bezeichnete es wichtig, die soziale Lage als Ursache des Aufstiegs rechter Bewegungen zu erkennen.
Er bezeichnete die AfD als „konservativ-neoliberale Partei, vom rechten Rand der CDU abgespalten“, mit rassistischen Elementen. Ihre Führungskräfte seien „knochenharte Neoliberale“. Sie hätten erkannt, dass eine soziale Situation entstanden sei, die sie nutzen könnten. Für Wehr handelt es sich um „Trittbrettfahrer einer sozialen Unrast, die existiert.“ Es bleibt die Frage, warum ihnen das gelingt und sie mit ihrer sozialen Demagogie erfolgreich sind.
Es fehle eine „starke linke Kraft mit einer starken klaren Aussage über eine Alternative“, stellte eine der Zuhörenden fest. Eine andere Teilnehmende forderte von den linken Kräften zu sagen, „was Sache ist“, und nicht darauf zu warten, dass die Menschen links wählen. Immer wieder wurden die französischen „Gelbwesten“ als Beispiel genannt, wie Menschen sich für ihre gemeinsamen Interessen einsetzen können, unabhängig davon, wen sie wählen.