Die Münchner Sicherheitskonferenz 2018 – Bühne für westliche Konflikt- und Kriegstreiber

Im Februar 2019 erschien das von Ulrich Mies herausgegebene Buch „Der Tiefe Staat schlägt zu: Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet“ im Wiener Promedia-Verlag. Ich habe dazu diesen Beitrag beigesteuert:

Die Welt steht am Abgrund und jene, die sie dahin brachten, sollen sie retten. Dieses absurde Schauspiel wurde im Februar 2018 in München geboten. Regie führte dabei Wolfgang Ischinger, bundesdeutscher Ex-Botschafter in den USA und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Den Bösewicht musste unter anderem Russland abgeben, den guten Kasper spielten die Transatlantiker aus dem Westen. Dass die eigene westliche Politik, voran die der USA, etwas mit der katastrophalen Instabilität der internationalen Staatenwelt zu tun haben könnte, scheinen die westlichen Teilnehmer Konferenz nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen.

Ernst und entschlossen schaut der Ex-Diplomat und Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK), Wolfgang Ischinger, vom Cover seines neuen Buches[1] auf die potenziellen Leser. Er sieht die „Welt in Gefahr“, wie das im September 2018 erschienene Werk heißt, „Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten“, wie er im Untertitel verrät.

„Die Welt steht am Abgrund“, warnt Ischinger in seinem Buch, wofür „Großmachtkonflikte, ein Rüstungswettlauf und noch mehr nukleare Waffen“ sorgen würden. Hinzu komme, die USA wollten nicht mehr „Hüter der Weltordnung“ sein, was der als ausgewiesener Transatlantiker bekannte Ex-Botschafter in Washington bedauert. Zudem würden Peking und Moskau die Europäische Union bzw. deren Mitglieder gegeneinander ausspielen, so seine Aussage.

Mit Blick auf Russland, von dem er behauptet, dass es sich seit der Rede von Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007[2] vom Westen abwende, ist er sich für handfeste Lügen nicht zu schade. So schreibt er im Buch, Moskau habe 2008 „den ‚kleinen Krieg‘ mit Georgien angefangen“. Dabei war das russische militärische Vorgehen in Südossetien nach georgischen Angriffen auf die abtrünnige Provinz rechtskonform, wie unter anderem der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Reinhard Mutz 2014 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“[3] feststellte.

Mutz verwies darauf, dass sich in Südossetien nach blutigen Kämpfen ab 1992 aufgrund eines Vertrages zwischen Russland und Georgien sowie der dortigen damaligen KSZE-Mission eine Kontrollkommission und eine multinationale Überwachungstruppe unter russischem Oberkommando aufhielten. Deren Auftrag lautete, die Einhaltung der Waffenruhe zu gewährleisten. Sogar eine EU-Untersuchungskommission, jener EU, der Russlandfreundlichkeit nicht unterstellt werden kann, hatte in ihrem Abschlussbericht vom 30.9.2009 festgestellt, dass Georgien den Krieg begonnen hatte.[4]

„In dem Bericht der Kommission, der von ihrer Leiterin, der im Kaukasus und Russland sehr erfahrenen Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, an diesem Mittwoch in Brüssel vorgestellt werden soll, heißt es nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der Krieg in der Nacht vom 7. auf den 8. August von Georgien begonnen wurde.“[5]

Derartige Details scheinen Ischinger aber nicht anzufechten. In seinem Buch plädiert er zwar dafür, mit Russland im Gespräch zu bleiben, macht es aber zuvor für alle Konflikte und die gefährliche aktuelle Weltlage verantwortlich. Das hatte er schon im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz vom 16. bis 18. Februar 2018 getan und damit Fakten manipuliert und zurechtgebogen.

Auf einer Pressekonferenz einige Tage vor der Sicherheitskonferenz kündigte er an, das Verhältnis zu Russland und die vermeintliche neue „russische Gefahr“ würden zu den Themen des Treffens gehören. Ischinger machte dabei unter anderem auf einen Vergleich der militärischen Stärke der russischen Truppen im Westen des Landes und der Nato-Truppen an Russlands Grenze aufmerksam. Der Vergleich findet sich im „Munich Security Report 2018“.[6] Er basiert dem MSK-Vorsitzenden zufolge auf einer Analyse der konservativen US-Denkfabrik Rand-Corporation.[7]

Diese Analyse wurde am selben Tag, dem 8. Februar 2018, von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) unter dem Titel „In dramatischer Unterzahl“ veröffentlicht. Ausgangspunkt sei der „Fall einer überraschenden russischen Operation, die vom westlichen Militärdistrikt aus vorgetragen wird“. Die in Polen und den baltischen Staaten seit 2014 stationierten Nato-Bataillone und die in Polen bereitstehende US-Brigade wären mit 32.000 Soldaten gegenüber 78.000 russischen Soldaten deutlich unterlegen, so die FAZ. Das gelte auch für die Waffensysteme – bis auf die Zahl der einsatzfähigen Kampfflugzeuge.[8]

Ischinger bezeichnete auf der Pressekonferenz die Zahlen als „bedenklich“. Meiner Frage, für wie realistisch er einen solchen russischen Angriff auf die NATO-Ostflanke einschätze, wich er aus. Es gehe um die Kräfteverhältnisse bei einem möglichen Konflikt, nicht darum, „dass hier irgendjemand morgen früh gegen irgendjemand einen Angriff startet“. Es seien aber „besorgniserregende“ Zahlen: „Hier sind Ungleichgewichte entstanden, die Instabilitäten nicht verhindern können, sondern im Falle eines Konfliktes Instabilitäten eher verstärken würden.“ Deshalb sei wieder mehr Rüstungskontrolle notwendig, so der Ex-Diplomat.

Ischinger sieht einen Grund für die ausgemachten militärischen Ungleichgewichte darin, „dass Europa massiv abgerüstet hat in den letzten längeren Jahren, Russland aber durchaus aufgerüstet hat“. Den Vorwurf illustriert eine Grafik im MSK-Report, nach der die russischen Rüstungsausgaben seit 2007 um fast 200 Prozent gestiegen sein sollen, während die Ausgaben Deutschlands, Frankreichs, der USA, Großbritanniens und Italiens sich um das alte Niveau bewegten. Mit diesem statistischen Trick wird suggeriert, dass Russland mehr rüste als die westlichen Staaten. Kalkuliert unterschlagen wird in der gesamten interessengeleiteten Debatte, dass die russischen Militärausgaben im Jahr 2016 mit 69,2 Milliarden US-Dollar knapp 11,5 % Prozent der US-Ausgaben in Höhe von 611 Milliarden Dollar ausmachen. Darüber hinaus warf der bundesdeutsche Ex-Botschafter in den USA außerdem sowohl Russland als auch China vor, das Völkerrecht nicht mehr zu beachten. Das sieht er als eine der Ursachen, warum es keine internationale Ordnung mehr gebe, „die von allen respektiert wird“.

Illustre Teilnehmerschar

Zu den mehr als 500 Teilnehmern der 54. Auflage der renommierten Konferenz im Jahr 2018 gehörten allein 21 Staats- und Regierungschefs, darunter der Emir von Katar, der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım, Israels Premier Benjamin Netanjahu und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres kam nach München, ebenso Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Von den Außenministern kamen Sergej Lawrow und dessen Kollegen aus Deutschland, Frankreich, der Ukraine und zahlreichen anderen Ländern. US-Verteidigungsminister James Mattis reiste ebenfalls an, mitsamt US-Abgeordneten aus Senat und Repräsentantenhaus. Auch eine Reihe russischer Politiker und Diplomaten nahmen teil.

Ischinger hatte zudem nicht nur zahlreiche Unternehmensvertreter eingeladen, sondern ebenso Nichtregierungsorganisationen wie „Medicins Sans Frontieres“ (MSF), das Internationale Rote Kreuz, das mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnete Antiatomwaffen-Bündnis ICAN, Human Rights Watch und Amnesty International, um kritische Stimmen in die Debatte um die globale Sicherheit einzubeziehen. Der von Ischinger zuvor gesetzte Schwerpunkt mit Russland im Visier bestätigte sich dann erwartungsgemäß auf der MSK, wie eine Reihe der zahlreichen Veranstaltungen zeigte. Bei der Konferenzeröffnung, erklärte der Vorsitzende, die nach dem 2. Weltkrieg aufgebaute internationale Ordnung sei bedroht. „Die Warnsignale stehen auf Rot“, sagte er. Deshalb sei das Konferenzmotto auch „Bis zum Abgrund – und zurück?“

Der Weg müsse wieder weg vom Abgrund führen, forderte Ischinger und sagte zu den Teilnehmenden im vollen Saal des Münchener Hotels „Bayrischer Hof“: „Nur sie können das wahrwerden lassen!“

Ausgerechnet an dieses Publikum, das zum Teil für die von ihm beklagten „vielen ungelösten Konflikte und Instabilitäten“ mitverantwortlich ist, richtete er die Warnung: „Wenn sie nicht einen persönlichen Beitrag leisten, wird es nicht gelingen.“ Laut Ischinger muss die EU ein globaler Akteur werden. Er fragte: „Sind wir stolz genug, mitzugestalten, statt nur gestaltet zu werden?“ Die Verteidigungsministerinnen Deutschlands und Frankreichs, Ursula von der Leyen[9] und Florence Parly[10], erfüllten mit ihren Statements zu Veranstaltungsbeginn die in sie gesetzten Erwartungen. Die deutsche Ministerin sprach sich für „mehr militärisches Gewicht in der Nato“ und die „Armee der Europäer“ aus. Das militärische Gewicht der EU müsse auch eingesetzt werden.

Ihre französische Amtskollegin Parly betonte das Ziel, bei Militär und Rüstung mehr zusammenzuarbeiten. Sie hob die europäische Initiative für mehr militärische Interventionen hervor.

„‚Ein Forum gleichgesinnter Länder‘ nennt es vorsichtig die deutsche Verteidigungsministerin von der Leyen. Doch Frankreich führt mit seiner Interventions-Initiative mehr im Schild. Präsident Macron hatte sie im September erstmals ins Spiel gebracht, und am Montag unterzeichneten acht EU-Staaten und das Noch-Mitglied Großbritannien in Luxemburg die Absichtserklärung. Fernziel der Franzosen ist eine schlagkräftige und flexible Eingreiftruppe für das ‚nahe Ausland‘ der EU, die im Krisenfall schnell reagieren kann. Macron glaubt, dass sich Europa nicht mehr auf den amerikanischen Partner verlassen könne und deshalb eine strategisch autonome europäische Verteidigung anstreben müsse.“[11]

Nach Parly müssten die europäischen Staaten fähiger werden, einzugreifen, wo sie es für nötig halten, wo die USA und die Nato das nicht wollten. Das solle vor allem „im Süden“ erfolgen, so die Ministerin. Die Initiative sei zwar unabhängig von Nato und EU, solle aber beiden nutzen. Sie erklärte zudem: „Es genügt nicht, die Kriege von Morgen vorzubereiten.“ Ob das ein Übersetzungsfehler der Dolmetscherin war, ist nicht bekannt. Parly fügte hinzu, dass es auch darum gehe, sich auf die Kriege von Übermorgen einzustellen, zum Beispiel in Folge von Naturkatastrophen – „Frankreich steht bereit“.

Kritische Fragen

Das westliche Bündnis unternehme zu wenig, um das Vertrauen zu Russland zu stärken, kritisierte immerhin gleich am ersten Tag der ehemalige Chef der MSK, Horst Teltschik. Aus seiner Sicht wurde in München zu viel über das Gegenteil geredet. Er habe viel darüber gehört, dass die Nato gestärkt und die militärische Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union ausgebaut werden solle. „Was wir nicht gehört haben, ist, was tun wir in Richtung Rüstungskontrolle, Abrüstung und Zusammenarbeit in diesem Zusammenhang mit Russland.“ Teltschik war Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und leitete selbst bis 2007 die Konferenz.

Teltschik richtete seine Kritik an Nato-Generalsekretär Stoltenberg nach dessen Rede am ersten Tag der Veranstaltung. „Warum setzen wir den Nato-Russland-Rat nicht ein, um zum Beispiel die Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens im Mittelstrecken-Bereich zu verhindern? Die Ankündigung der US-amerikanischen Regierung, Nuklearraketen mit geringerer Sprengkraft zu entwickeln, heißt ja nichts anderes, als das damit ein neues Wettrüsten ausgelöst wird.“

Teltschik erinnerte daran, dass Anfang der 1990er Jahre „eine Fülle von vertrauensbildenden Maßnahmen“ verabredet worden sei. Davon existiere zwar noch der Nato-Russland-Rat, der aber 2016 nur auf Botschafter-Ebene getagt habe. „Warum nicht auf Ebene der Verteidigungsminister oder der Außenminister?“, fragte Teltschik und fügte hinzu: „Botschafter können keine Entscheidungen treffen.“ Er bat Stoltenberg zu berichten, welche Abrüstungs- und Rüstungskontrollmaßnahmen die Nato beabsichtigt. Doch Generalsekretär hatte wenig als Antwort zu bieten. In seiner Rede hatte er die Vorwürfe der USA an Russland wiederholt, es verletze den INF-Vertrag, und an Moskau appelliert, das gemeinsam mit der Nato zu klären. Er hatte auch behauptet, die Nato habe das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen. Das westliche Bündnis müsse aber eine nukleare Allianz bleiben, solange es solche Waffen gebe. Stoltenberg legte nach: „Eine Welt, in der Russland, China und Nordkorea Nuklearwaffen haben, aber die Nato nicht, ist keine sicherere Welt.“

Stoltenberg sprach sich für einen weiteren Dialog aus: „Russland ist unser Nachbar. Deshalb müssen wir nach guten Beziehungen zu Russland streben.“ Kurz vor Beginn der Konferenz hatte er bei einem Pressegespräch auf Sputnik-Nachfrage gesagt: „Wir sehen im Moment keine immanente Bedrohung, die gegen ein Nato-Mitglied gerichtet sein könnte, aber wir sehen ein mehr und mehr entschlossenes Russland.“ Der Nato-Generalsekretär fügte hinzu: „Was wir speziell seit 2014 beobachten, ist ein entschlossenes Russland, das bereit ist, militärische Mittel gegen seine Nachbarn  einzusetzen.“ Deshalb müsse die Nato so reagieren, „aber wir reagieren in einer angemessenen Art und Weise. Denn wir wollen ein Wettrüsten, einen erneuten Kalten Krieg vermeiden.“ Dass dem Ukraine-Konflikt und der schließlichen Sezession der Krim jahrelange Provokationen der USA, aber auch der EU mit dem Ziel vorausgingen, die Ukraine in das westliche Lager zu manövrieren, verschwieg Stoltenberg erwartungsgemäß.

In seiner außenpolitischen Grundsatzrede am zweiten MSK-Tag sah der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel[12] die Welt ebenfalls weiter am Abgrund. Gründe dafür sind aus seiner Sicht das nordkoreanische nukleare Aufrüsten und der sechsjährige „Bürger- und Stellvertreterkonflikt in Syrien“. Der SPD-Politiker zählte dazu den „zunehmenden globalen Führungsanspruch Chinas“ sowie „die Machtansprüche Russlands“ und die „Renaissance von Nationalismus und Protektionismus“. Gabriel unterstellte China und Russland, „permanent die Geschlossenheit der Europäischen Union zu testen und auch zu unterlaufen“. Einzelne Staaten oder Gruppen würden mit „Zuckerbrot und Peitsche“ getestet, ob sie aus der EU herausgebrochen werden könnten. Die Streitfragen mit Russland müssten mit „neuem Ehrgeiz“ angegangen werden, forderte er in seiner Rede, bevor er sich mit seinem russischen Kollegen Lawrow traf. Es gebe dabei derzeit eine Eskalationslogik wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr, meinte Gabriel. Er wandte sich gegen die Fortsetzung dieser Politik. „Das Leiden und der Tod vieler Menschen in der Ukraine ist Grund genug, nicht nur in der Pose der Empörung und der Beschreibung unserer Position zu verharren“, sagte der Ex-Außenminister mit unausgesprochener Schuldzuweisung an Moskau. Der deutsche Ex-Außenminister meinte, die EU müsse „stärker und handlungsfähiger“ gemacht und die Zusammenarbeit mit den USA verbessert werden. Gabriel zeigte sich als klassischer Vertreter der westlichen wertebasierten Politik. So lobte er die USA für die „Verbreitung von Freiheit in der Welt“ als deren größte Leistung. Die liberale Ordnung nach den beiden Weltkriegen „ist die beste, die wir uns heute vorstellen können“. Nur die Herrschaft des Rechts könne die Herrschaft des Rechts des Stärkeren verhindern, behauptete der Ex-Außenminister.

Die USA seien heute nicht mehr die stärkste Macht der Welt. Andere Staaten würden inzwischen „ihre Pfeiler in das Gebäude der liberalen Ordnung“ einzuziehen, was das Gebäude verändere. In der für die MSK herausgegebenen Zeitung Security Times[13] räumte der Ex-Minister die Existenz einer multipolaren Weltordnung ein. Die Frage sei nur, welche Rolle die EU darin einnehmen könne. In seiner Rede erklärte er: „Als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“ Damit begründete er die Forderung, die EU müsse militärisch aktiv werden.

Der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Alexander Neu kritisierte das nicht nur als Aufforderung, „auch ein Fleischfresser werden zu müssen, um nicht unterzugehen“: „Das ist ein Vokabular, das doch an die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert, als es darum ging, einen ‚Platz an der Sonne‘ zu haben, seinerzeit vom deutschen Kaiserreich auch so formuliert.[14]

Antirussische Stimmung

„Russland ist ein Problem für Europa und die Nato“, behauptete Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki[15] in seiner Rede am zweiten Tag der MSK. Der Grund sei eine angebliche neue geopolitische Strategie Russlands, das eigene Einflussgebiet „systematisch auszudehnen“. Außerdem sei Russland zu einem „Machtzentrum im Informations-Krieg“ geworden, behauptete Morawiecki. Was ihn allerdings wundere: „Die Deutschen vertrauen dennoch laut Umfragen mehr den Russen als den US-Amerikanern. Ich kommentiere das mal nicht.“ Er bevorzuge eine „Pax Americana“, so Polens Regierungschef. Er sprach sich dafür aus, dass die europäischen Staaten zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für das Militär ausgeben.

Die britische Premierministerin Theresa May[16] schlug auf der Sicherheitskonferenz ein neues Abkommen zwischen der EU und Großbritannien vor – auch nach dem Brexit. „Trotz der Tatsache, dass wir die EU verlassen, bleiben wir weiter ein wichtiger Bestandteil der Nato.“ Aktuelle sicherheitspolitische Herausforderungen bestehen für London laut May in der Nuklear-Krise, der Migration und im Terrorismus. Sie unterstellte Russland gleichfalls „feindliche Absichten“, die sich in der angeblichen Intervention in der Ukraine oder auch angebliche Aktivitäten russischer Hacker im virtuellen Cyber-Raum zeigen würden. 

Russische Antwort

Russlands Außenminister Lawrow[17] betonte am zweiten Tag der Konferenz, Moskau sei weiter bereit, mit dem Westen offen und gleichberechtigt zusammenzuarbeiten. Russland sei an einer stabilen EU interessiert, auch als globaler Akteur. Damit widersprach er deutlich all jenen, die auf der Konferenz wiederholt behaupteten, Russland bedrohe den Westen und dessen liberale Ordnung. Lawrow gehört seit mehreren Jahren zu den regelmäßigen Teilnehmern der Münchner Konferenz. Er erinnerte zu Beginn seiner Rede daran, beim Blick auf die heutigen internationalen Probleme die Geschichte nicht zu vergessen. So wies er daraufhin, dass in der bayrischen Landeshauptstadt 80 Jahre zuvor der Westen mit den deutschen Faschisten ein Abkommen schloss, weil Letztere behaupteten, sie würden nur Russland aus Europa rauswerfen wollen.

„Die Tragödie bestand darin, dass den Nazis geglaubt wurde.“ Russland habe sich nach dem Ende der Sowjetunion 1991 lange Zeit bemüht, eine „Architektur der Gleichheit und gemeinsamen Sicherheit“ im euro-atlantischen Raum zu schaffen. Das militärische Potenzial im Westen des Landes sei reduziert worden. Zudem habe sich Moskau dafür eingesetzt, europäische Institutionen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu stärken. Ziel sei eine gemeinsame Struktur der europäischen Sicherheit gewesen, einschließlich eines damit verbundenen Dialogs. „Doch oft wurden wir da nicht gehört“, stellte Lawrow fest.

Er erinnerte an das nicht eingehaltene Versprechen des Westens, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. „Es wird Propaganda einer Konfrontation mit Russland verbreitet“, bedauerte der Außenminister die wiederholten Behauptungen über den wachsenden negativen Einfluss Russlands und nannte dabei den MSK-Report 2018 als Beispiel. Russland sei immer an einer Partnerschaft mit der EU interessiert gewesen, um gemeinsame Probleme zu lösen. Die Ergebnisse heute seien aber anders. Dazu zählte Lawrow, dass die Ukraine vor etwa fünf Jahren von der EU vor die Alternative „Europa oder Russland“ gestellt wurde. Zudem habe der Westen den Staatsstreich in Kiew am 21. Februar 2014 unterstützt.

Die Politik der EU und des Westens habe ebenso wie der Versuch, auf Russland Druck auszuüben, den Kontinent nicht sicherer gemacht. „Das Konfliktpotenzial steigt. Wir haben überall neue Krisen.“ Das sei auch global der Fall, so Lawrow: „Die Politik des Westens, sich in anderen Ländern einzumischen und ihnen ein Entwicklungsmodell aufzustülpen, hat nicht zu Verbesserungen geführt, sondern war kontraproduktiv. Wir sehen ein Ansteigen des internationalen Terrorismus, illegale Migration und damit einhergehende Probleme.“

Der russische Außenminister stellte klar: „Wir haben unseren Ansatz nicht geändert. Wir möchten weiterhin mit der EU zusammenarbeiten. Das ist im gegenseitigen Interesse verwurzelt.“ Lawrow sprach sich für eine „berechenbare, starke EU“ aus, die ein „verantwortungsvoller Akteur“ weltweit sei. „Wir sollten nicht versuchen, gegen die Geschichte anzukämpfen. Das System unserer weltweiten Beziehungen muss ein gerechtes System sein, mit einer entsprechenden Rolle der UNO.“ Moskau sei bereit für einen offenen und respektvollen Dialog mit der EU, den USA und anderen Ländern.

US-amerikanische Reaktion

Andere Töne waren dagegen von den US-Vertretern in München zu hören. Der Auftritt von US-General Herbert R. McMaster[18] bei der MSK am zweiten Tag zeigte, dass es um die Beziehungen des Westens und dessen führender Macht USA zu Russland weiter nicht gut bestellt ist. Er war zu dem Zeitpunkt der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, welcher ihn einen Monat später feuerte. McMasters Rede in München enthielt keinerlei Anzeichen, dass die US-Außenpolitik sich grundsätzlich ändern könnte. Dafür beschrieb er nicht nur „Schurkenregimes, die die Welt bedrohen“, und dschihadistische Kräfte als Gefahr für die „gesamte Menschheit“. Er zählte dazu auch „revisionistische Mächte, die die Stabilität der internationalen Ordnung seit dem 2. Weltkrieg in Frage stellen durch militärische Stärke und andere bösartige Formen von Aggression“.

Ausgerechnet der US-Vertreter beklagte, dass es aktuell „nicht besonders viel Respekt für Souveränität auf der Welt“ gebe. Einige der gefährlichsten Formen von Aggressionen seien nicht militärischer Art. „Repressiven revisionistischen Mächten“ dürfe nicht erlaubt werden, das Vertrauen in die westlichen Prinzipien zu zerstören. Wen er konkret meinte, zeigte McMaster in seiner Antwort auf eine Frage von Konstantin Kossatschew, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des russischen Föderationsrates. Dieser zitierte russische Experten, laut denen 28 Prozent aller Angriffe auf IT-Systeme Russlands US-Ursprungs seien. Dagegen seien nur zwei bis drei der Angriffe auf US-IT-Systeme russischen Ursprungs. Kossatschew fragte auch nach den Chancen für den von Russland vorgeschlagenen Dialog mit den USA zur Cyber-Sicherheit. Der US-General erklärte darauf, er sei überrascht, dass russische Cyber-Experten Zeit für solche Analyse hätten. Sie seien doch damit beschäftigt, den Westen zu bedrohen, meinte er ernsthaft zu Kossatschew. Washington sei nicht gegen den Dialog, aber den gebe es erst, „wenn Russland versucht, die sehr fortgeschrittene Art der Spionage einzuschränken“.

Der US-General wiederholte auch Vorwürfe an Moskau, den INF-Vertrag zur Begrenzung nuklearer Mittelstreckenwaffen zu verletzen. Die eigene Entwicklung von neuen US-Atomsprengköpfen geringerer Reichweite widerspreche dem dagegen nicht. Russland nehme hingegen „ganze Länder in Geiselhaft“. Deshalb hätten die USA ihr Abschreckungspotenzial wieder ausgebaut – „mit dem Ziel, die Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung wieder zu reduzieren“. Angebote und Vorschläge, sich gemeinsam für ein besseres Verhältnis zu Russland einzusetzen, waren von dem US-General nicht zu hören.

Russische Fragen

Die neue Nukleardoktrin des Pentagon, die Nuclear Posture Review vom Januar 2018[19], habe in Moskau sehr viele Fragezeichen aufgeworfen. Das erklärte Sergej Kislyak, ehemaliger russischer Botschafter in den USA und heutiger Vizevorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates Russlands, am zweiten MSK-Tag in München. In einer Diskussionsrunde zur nuklearen Sicherheit und Rüstungskontrolle sagte er: „Um das ganz vorsichtig auszudrücken: Was einem sofort auffällt, wenn man die Erklärungen liest, die vom Pentagon abgegeben wurden, ist, dass in Zukunft die US-Regierung eine recht entspannte Haltung eingeht, was die Bedingungen für den Einsatz und Erst-Einsatz für Nuklearwaffen angeht.“

Es heiße dort: „US-Kernwaffen könnten in kritischen Situationen eingesetzt werden.“ Eine solche Situation werde nicht definiert, stellte Kislyak fest, was Moskau für besorgniserregend halte. Ein weiterer diskussionswürdiger Punkt in der neuen Pentagon-Doktrin ist für den ehemaligen russischen Botschafter in Washington die Tatsache, „dass die USA Nuklearwaffen einsetzen wollen. Weniger leistungsstarke, als Mittel der Abschreckung.“

Moskau hingegen sehe in Kernwaffen immer nur ein „Mittel des Krieges, weniger der Abschreckung“, betonte er und fügte hinzu: „Russland setzt seine Kernwaffen nur unter zwei Bedingungen ein: Wenn es selbst von Atomwaffen angegriffen würde. Und wenn ein möglicher Konflikt das Überleben der russischen Nation grundlegend bedrohen würde.“

Kislyak, der von 2008 bis 2017 russischer Botschafter in den USA war, widersprach Behauptungen Washingtons, Russland verletze den INF-Vertrag. „All unsere Aktivitäten stehen in absolutem Einklang mit unseren vertraglichen Vereinbarungen“, betonte er. „Diese Behauptungen sind einfach nicht richtig. Wenn jetzt solche Behauptungen in die Welt gesetzt werden, fragen wir uns schon, warum und zu welchem Zweck das überhaupt geschieht.“

Klares US-Signal

Am dritten Tag der MSK kam ein klares Signal aus München: Die USA setzen ihre Politik in der Welt fort wie bisher. Die Grundlinien der US-Außenpolitik haben sich auch unter Präsident Trump nicht geändert und werden sich nicht ändern. Das erklärten gleich vier Mitglieder des US-Kongresses in einer Diskussionsrunde auf der MSK-Bühne. Zuvor hatte Victoria Nuland, ehemalige Vize-US-Außenministerin, das ebenfalls festgestellt. Sie beruhigte jene, die durch Trumps Amtsantritt und seine Äußerungen verunsichert sind: „Man muss auf das gucken, was getan wird, nicht auf das, was getweetet wird.“ Durch die neue Administration habe sich nur der Tonfall verändert und die Sicht auf die internationalen Beziehungen unter der Wettbewerbs-Perspektive, so die immer noch einflussreiche Ex-Politikerin („Fuck the EU!“ 2014). Die Trump-Administration passe sich nun an und habe vom Wahlkampf-Modus in den des Regierens umgeschaltet, stellte US-Senator Sheldon Whitehouse[20] in der Runde fest. Es gebe eine Kontinuität in der Außenpolitik, so der Abgeordnete der Demokratischen Partei.

Ähnliches äußerte Senatorin Jeanne Shaheen[21], ebenfalls Demokratische Partei: „Wir erleben eine Fortsetzung von dem, was vorher war, und viel Übereinstimmung im Kongress zwischen Republikanern und den Demokraten sowie dem Repräsentantenhaus und dem Senat.“ Als Beispiel nannte sie die Sanktionsgesetze gegen Russland, Iran und Nordkorea.

Auch James Rish, Senator der Republikaner, stimmte seinen Kollegen von den Demokraten zu und betonte in der MSK-Runde die Kontinuität in der US-Außenpolitik. Es gebe nur Unterschiede in der Rhetorik. „Aber wir wissen doch alle, dass wir weiterführen wollen, was wir aufgebaut haben, unsere Freundschaft und Partnerschaft mit unseren transatlantischen Partnern.“

 „Die Ziele, die wir erreichen wollen, sind noch dieselben“, stellte Michael Turner klar, der für die Republikaner im Repräsentantenhaus sitzt. Die Trump-Administration setze nur die etablierten Systeme der US-Politik unter Druck, um mehr Ergebnisse zu erreichen. Turner verwies auch auf die Ukraine-Krise. Die USA würden Kiew dabei unterstützen und Druck für eine Lösung ausüben. Einig waren sich die US-Politiker auch darin, dass Nordkorea, China und Russland die USA herausfordern würden. Die US-Parlamentarier betonten auf die Frage eines russischen Politikwissenschaftlers, sie seien sich auch bei den Sanktionen gegen Russland einig. Senator Whitehouse bezeichnete sie als „wertvolles Werkzeug gegen Russland“.


[1] Wolfgang Ischinger: „Welt in Gefahr – Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten“ Econ, Verlag 2018

[2] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html; z.a. 23.10.2018

[3] https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2014/april/die-krimkrise-und-der-wortbruch-des-westens; z.a. 23.10.2018

[4] https://www.dw.com/de/mit-georgiens-einmarsch-begann-der-krieg/a-4744913;

Originalstudie siehe: Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia, Report, 30.09.2009: http://news.bbc.co.uk/2/shared/bsp/hi/pdfs/30_09_09_iiffmgc_report.pdf; z.a. 22.10.2018

[5] Reinhard Veser, Georgien hat den Krieg begonnen, FAZ-online, 30.09.2009: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/untersuchungskommission-georgien-hat-den-krieg-begonnen-1854145.html; z.a. 22.10.2018

[6] https://www.securityconference.de/de/publikationen/munich-security-report/; z.a. 23.10.2018

[7] SCOTT BOSTON, MICHAEL JOHNSON, NATHAN BEAUCHAMP-MUSTAFAGA, YVONNE K. CRANE, Assessing the Conventional Force Imbalance in Europe, Implications for Countering Russian Local Superiority: https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_reports/RR2400/RR2402/RAND_RR2402.pdf; z.a. 22.10.2018

[8] Lorenz Hemicker, NATO-Ost-Flanke. In dramatischer Unterzahl, FAZ-online, 08.02.2018: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nato-ostflanke-in-dramatischer-unterzahl-15437289.html?GEPC=s5; z.a. 22.10.2018

[9] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/europaeischer-werden-transatlantisch-bleiben-22174; z.a. 23.10.2018

[10] https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/florence-parly-a-view-from-the-audience/; z.a. 23.10.2018

[11] Andreas Ernst, Was die neun EU-Staaten mit der «militärischen Interventions-Allianz» im Schilde führen, nzz-online: 26.06.2018:

https://www.nzz.ch/international/neun-eu-staaten-wollen-eine-militaerische-interventions-allianz-ld.1398039; z.a. 22.10.2018

[12] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/170218-rede-bm-gabriel-muesiko/287944;

https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/video/statement-by-sigmar-gabriel/; z.a. 23.10.2018

[13] Sigmar Gabriel, Power Boost, The EU must win the conflicts of the future, The Security Times, February 2018: https://www.securityconference.de/fileadmin/MSC_/2018/Dokumente/Security_Times_Feb2018.pdf; z.a. 22.10.2018

[14] http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/d-96654020.html; z.a. 23.10.2018

[15] https://www.securityconference.de/de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/mateusz-morawiecki/; z.a. 23.10.2018

[16] https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/video/statement-by-theresa-may/;

https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/theresa-may-1/

https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/theresa-may-2/; z.a. 23.10.2018

[17] https://www.securityconference.de/de/mediathek/munich-security-conference-2017/video/statement-by-sergey-lavrov/filter/video/; z.a. 23.10.2018

[18] https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/herbert-raymond-mcmaster/; z.a. 22.10.2018

[19] https://dod.defense.gov/News/SpecialReports/2018NuclearPostureReview.aspx; z.a. 23.10.2018

[20] https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/sheldon-whitehouse-2/; z.a. 23.10.2018

[21] https://www.securityconference.de/mediathek/munich-security-conference-2018/image/jeanne-shaheen-1/; z.a. 23.10.2018


Ulrich Mies (Hg.): „Der Tiefe Staat schlägt zu: Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet“
Promedia Verlag 2019. 280 Seiten; ISBN: 978-3-85371-449-2; 19,90 Euro