Unvorstellbares Leid hat der deutsche Faschismus mit dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion den Menschen dort gebracht. Das hat insbesondere die Juden in dem Vielvölkerstaat getroffen – wie im gesamten Europa. Daran erinnert eine aktuelle Ausstellung im Russischen Haus in Berlin. Sie gedenkt der Opfer und der Befreier von der Roten Armee.

„Die erste russische Patrouille tauchte gegen Mittag des 27. Januar 1945 in Sichtweite des Lagers auf. Charles und ich entdeckten sie zuerst: Wir waren dabei, die Leiche Sómogyis, des ersten, der aus unserem Raum gestorben war, in das Massengrab zu transportieren. Wir kippten die Bahre auf dem zertretenen Schnee aus, denn da das Grab inzwischen voll war, gab es keine andere Begräbnismöglichkeit. Charles nahm die Mütze ab, um die Lebenden und die Toten zu grüßen.
Es waren vier junge Soldaten zu Pferde; vorsichtig ritten sie mit erhobenen Maschinenpistolen die Straße entlang, die das Lager begrenzte. …
vier bewaffnete Männer, aber nicht gegen uns bewaffnet: vier Friedensboten mit bäuerischen, kindlichen Gesichtern unter den schweren Pelzmützen.
Sie grüßten nicht, lächelten nicht; sie schienen befangen, nicht so sehr aus Mitleid, als aus einer unbestimmten Hemmung heraus, die ihnen den Mund verschloß und ihre Augen an das düstere Schauspiel gefesselt hielt. …“
So beschrieb Primo Levi in seinen Erinnerungen, was er am 27. Januar 1945 erlebte, als die sowjetische Rote Armee das deutsche Konzentrationslager Auschwitz in Polen erreichte und befreite. Levi gehört zu den wenigen Überlebenden und Geretteten des Vernichtungslagers. Ein Auszug seines Tagesbucheintrages vom 27. Januar vor 74 Jahren ist Teil einer Ausstellung zum Thema „Holocaust: Vernichtung, Befreiung, Rettung“, die am Dienstag im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin eröffnet wurde.
Bewegende Dokumentation
Dabei werden auf zwölf mobilen Aufstellern Dokumente, Fotos, Aufzeichnungen und Karten sowie deutsche Begleittexte zur faschistischen deutschen Vernichtung von Juden auf dem Territorium der einstigen Sowjetunion gezeigt. Die Ausstellung wurde durch das Forschungs-und Bildungszentrum „Holocaust“ (Moskau) und den Russischen Jüdischen Kongress vorbereitet. Sie zeigt die Rettung der Juden in Europa durch die Rote Armee, die Befreiung der in Auschwitz Gefangenen sowie die Schicksale der Juden in den besetzten Gebieten der Sowjetunion.
Gleich auf dem ersten Aufsteller wird die grausige Bilanz des monströsen Verbrechens auf sowjetischem Territorium gezogen. Eine Karte gibt die Zahl der ermordeten Juden in den damaligen sowjetischen Teilrepubliken, in die die deutsche Wehrmacht einfiel, wieder. Ein Foto zeigt die Hinrichtung von Juden im litauischen Šiauliai im Juli 1941.
Darunter der Begleittext: „Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann in den besetzten Gebieten die totale Vernichtung der Juden einschließlich Frauen, Kinder, alter Menschen und Halbjuden. In den ersten Wochen des Krieges verübten einheimische Unterstützer der Besatzer dutzende Pogrome mit massenhaften Toten. Insgesamt wurden nicht weniger als 2,7 Millionen jüdische Bürger der Sowjetunion erschossen, verbrannt, lebendig begraben, in Flüssen und Mooren ertränkt und erhängt.“ Diese sowjetischen Opfer machen rund 45 Prozent der insgesamt etwa sechs Millionen Juden aus, die die deutschen Faschisten in ihrem Rassenwahn töteten.
Unbekanntes Massaker in Rostow am Don
Es wird auch an das Massaker von Babij Jar am Rande Kiews vom 29. und 30. September 1941 erinnert, als etwa 34.000 Juden erschossen wurden. „Der Ort wurde zum Symbol des Holocaust in der Sowjetunion.“ Gleichzeitig wird gezeigt, dass die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch eine beispiellose antisemitische Propaganda der deutschen Besatzer in den verschiedenen Sprachen des Vielvölkerstaates Sowjetunion begleitet wurde.
Ilja Altmann, Historiker, Leiter der Ausstellung und Ko-Vorsitzender des Forschungs-und Bildungszentrum „Holocaust“, erinnerte bei der Eröffnung auch an das weitgehend unbekannte Massaker an Juden im russischen Rostow am Don am 11. und 12. August 1942. Kurz nach der zweiten Eroberung der Stadt durch die Deutschen wurden mindestens 15.000 Juden in der Schlucht Zmijewskaja Balka nahe der Stadt ermordet, ist auf einem der Aufsteller zu erfahren. „Rostow ist damit der Ort mit den meisten Holocaustopfern auf dem Gebiet Russlands“, heißt es darauf.
Die Ausstellung erinnert ebenso an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee. Etwa 7.000 Häftlinge aus dem Haupt- und den Nebenlagern konnten noch gerettet werden. Zuvor war durch die Deutschen ein Todestransport nach Deutschland all jener befohlen worden, die noch gehen konnten und nicht als krank galten. Bei den Kämpfen um die polnische Stadt Oswiecim und um das Lager Auschwitz-Birkenau sind den Angaben nach 350 sowjetische Soldaten und Offiziere ums Leben gekommen.
Erinnerung an Befreier und Befreite
Neben den Aufstellern erinnert ein Dokumentarfilm an das unvorstellbare Grauen des Vernichtungslagers, das sich den Befreiern zeigte. Ebenso wird an die Befreier des Lagers gedacht und werden die Lebensläufe einiger von ihnen vorgestellt. „An der Befreiung von Auschwitz waren Angehörige von 39 Nationalitäten der UdSSR beteiligt“, heißt es auf einem Aufsteller.
Dazu gehörte Generalmajor Fjodor Krasawin (1896-1948), dessen 100. Lwower Schützen-Division zuerst Auschwitz erreicht hatte. Nicht verschwiegen wird, dass der Offizier von Juli 1938 bis Februar 1942 selbst Lager-Häftling in einem der stalinistischen Gulags in der Sowjetunion war. Er wurde zwar 1968 rehabilitiert, 20 jahre nach seinem Tod, aber nie „Held der Sowjetunion“.
Neben den sowjetischen Ärzten, die die Überlebenden von Auschwitz medizinisch betreuten und weitgehend retten konnten – auch dank ihrer Erfahrungen bei der faschistischen Blockade Leningrads –, werden prominente Juden vorgestellt, die von der Roten Armee gerettet wurden. Zu ihnen gehörten neben dem Italiener Primo Levi, der später mit seinen Erinnerungen (u.a. „Ist das ein Mensch?“) und als Schriftsteller bekannt wurde, Otto Frank, der Vater von Anne Frank, gerettet in Auschwitz, Rabbiner Leo Baeck, befreit in Theresienstadt, und Ignatz Bubis, befreit im Arbeitslager Tschenstochau in Polen. Bubis war in der Bundesrepublik Unternehmer, FDP-Politiker und von 1992 bis 1999 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland.
Vielbeachtete Ausstellung
In der Ausstellung ist zu erfahren, dass mindestens 15.000 Juden aus Österreich und etwa 30.000 deutsche Juden in Ghettos und Lager auf sowjetischem Gebiet deportiert und dort ermordet wurden. So seien zwischen Dezember 1941 und Februar 1942 12.000 Juden aus zahlreichen deutschen Städten nach Litauen gebracht worden. „Das Kriegsende erlebten weniger als 1.100 von ihnen.“
Ausstellungsleiter Altmann berichtete am Dienstag im Russischen Haus über das Projekt der Ausstellung und die Arbeit daran. Nach seinen Worten wurde das in sechs Sprachen aufbereitete Material bereits in den Hauptquartieren der Vereinten Nationen, im Europarat, der UNESCO sowie im israelischen Parlament, der Knesset, und in den Parlamenten von Tschechien, Argentinien und Uruguay präsentiert.
Der Historiker betonte, wie wichtig es sei, die Erinnerungen der Zeitzeugen zu bewahren, um die nächsten Generationen an das Geschehen zu erinnern. Es werde weiter nach noch lebenden Zeugen der Ereignisse gesucht, auch der Befreiung der Lager. Zugleich lud er deutsche Historiker zur Zusammenarbeit ein. Altmann kündigte an, dass die Ausstellung am 5. Februar im Berliner Roten Rathaus zu sehen sein wird.
Zu hoffen bleibt, dass noch einige kleine Fehler in den Texten korrigiert werden können. So stammt das angeführte Zitat von Levi über den Tag der Befreiung nicht wie auf dem Aufsteller angegeben aus dem Buch „Ist das ein Mensch?“. Dort ist unter dem 27. Januar nur zu lesen: „Die Russen kamen, als Charles und ich Sómogyi ein kurzes Stück wegtrugen.“ Der Überlebende beschrieb dagegen die zitierte Begegnung mit den vier jungen sowjetischen Soldaten im nachfolgenden Buch „Die Atempause“.