„Wenn ich Araber wäre …“ – Jüdischer Philosoph wehrt sich gegen Antisemitismuskeule

Wenn selbst Kinder von Überlebenden der faschistischen Judenvernichtung als Antisemiten beschimpft werden, scheint etwas durcheinandergeraten zu sein. Das findet auch der Philosoph und Historiker Moshe Zuckermann. Er hat das selbst erlebt und ein Buch darüber geschrieben. Darin setzt er sich ebenso mit der Politik Israels auseinander.

„Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“ – so heißt das neue Buch des israelisch-deutschen Sozialwissenschaftlers Moshe Zuckermann. Er hat es am Donnerstag in Berlin vorgestellt. Zuckermann hat als Sohn von Shoah-Überlebenden aus Auschwitz selbst erlebt, für seine Israel-Kritik als „Antisemit“ beschimpft zu werden.

So geht es in seinem kürzlich im Westend-Verlag erschienenen Buch weniger um den Antisemitismus an sich als um den entsprechenden Vorwurf vor allem in der deutschen Debatte zu Israel und dessen Politik. Schon 2010 hatte der Historiker und Philosoph in seinem Buch „‚Antisemit!‘. Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ geschrieben:

„Der Vorwurf des Antisemitismus dient israelischen Lobbies als Instrument, ihre Gegner mundtot zu machen, notwendige Debatten im Keim zu ersticken.“

Persönliche Erlebnisse als Impuls

Auch aufgrund eigener Erfahrungen setzt er sich erneut damit auseinander, erklärte er nach der Buchvorstellung im Gespräch mit Sputnik. Das Buch behandle, wie der Antisemitismus-Vorwurf zu fremdbestimmten Zwecken instrumentalisiert wird.

„Der ‚allgegenwärtige Antisemit‘ wäre somit der Vorwurf, den man immer wieder herbeizitiert, um andere Leute zu desavouieren und zu delegitimieren, um ihre politische Position zu dekonstruieren, zu zerlegen. Diese Technik der Besudelung und Beschämung bedient sich des Antisemitismus-Vorwurfs. Deshalb ist er allzeit abrufbar, und somit ist er allgegenwärtig.“

Es seien sehr oft persönliche oder biografische Impulse, die Sozialwissenschaftler anregen, sich mit Themen auseinanderzusetzen, so Zuckermann. „In meinem Fall war die Tatsache, dass meine Eltern Shoah-Überlebende aus Auschwitz sind, lebensprägend“ – sowohl geistig und intellektuell als auch künstlerisch und kulturell. Das Buch sei aber mehr als eine persönliche Berichterstattung, sondern setze sich mit dem Phänomen des Antisemitismus-Vorwurfs auseinander.

Unerwünschter Jude

Auf der Veranstaltung in der Berliner Urania, zu der diese gemeinsam mit der Tageszeitung „junge Welt“ eingeladen hatte, schilderte der Philosoph ein Beispiel aus dem letzten Jahr für die neue Qualität von Verleumdung. 2017 wurde versucht, einen Vortrag von Zuckermann sowie weiteren jüdischen und nichtjüdischen Israel-Kritikern in Frankfurt am Main zu verhindern. Uwe Becker, für die CDU Bürgermeister in der Bankenmetropole, erklärte die Teilnehmenden an der damals geplanten Konferenz „50 Jahre israelische Besatzung. Unsere Verantwortung für eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts“ für „nicht willkommen“ in seiner Stadt. Ein Gerichtsbeschluss ließ die Veranstaltung dann doch noch zu.

Der Wissenschaftler, der sich bereits im vergangenen Jahr in der Zeitschrift „Melodie & Rhythmus“ dazu geäußert hatte, wiederholte am Donnerstag seine Vorwürfe gegen CDU-Mann Becker. An die Vorgänge um die Veranstaltung erinnernd, meinte er, die neue Qualität zeige sich, dass öffentlich Gegenworte unterbunden werden und selbst zum „Skandal“ erklärt werden. Hinzu kämen Versuche, Auftritte von Kritikern zu verhindern.

Absurder Vergleich                                                                              

Er sei von 1960 bis 1970 in Frankfurt am Main aufgewachsen, berichtete Zuckermann. Es habe ihn erschüttert, von dem CDU-Bürgermeister als „Antisemit“ bezeichnet und mit Nazis verglichen zu werden. Becker habe sich „nicht entblödet“ zu behaupten: „Wer heute unter der Fahne der BDS-Bewegung (Boykott-Bewegung gegenüber israelischen Produkten aus den besetzten Gebieten – Anm. d. Red.) zum Boykott israelischer Waren und Dienstleistungen aufruft, der spricht in der gleichen Sprache, in der man einst die Menschen dazu aufgerufen hat, nicht bei Juden zu kaufen. Dies ist nichts Anderes als plumper Antisemitismus, wie ihn schon die Nationalsozialisten instrumentalisiert haben.“

links Moshe Zuckermann, neben ihm jW-Chefredakteur Stefan Huth

Und weil er von Becker als „unerwünscht in unserer Stadt“ eingestuft wurde, habe er ihm geschrieben, dass er, lange bevor der CDU-Mann 1969 geboren wurde, in Frankfurt am Main gelebt habe: „Ich muss mir von Ihnen keinen Persil-Schein für meine Willkommenheit oder Nichtwillkommenheit in dieser Stadt holen. Die ist ein Teil meiner Lebensgeschichte, und nicht Sie werden derjenige sein, der bestimmt, ob ich in der Stadt willkommen bin oder nicht.“

Verrat am Kampf gegen Antisemitismus

Der Historiker und Philosoph betonte in der Veranstaltung und im Interview, dass es in Deutschland weiterhin einen „antisemitischen Bodensatz“ gebe, wie es der Historiker Wolfgang Benz nannte. Jenen, die heute vorgeben, gegen Antisemitismus kämpfen zu wollen, gehe es aber nicht darum. Sie würden dagegen den entsprechenden Vorwurf gegen andere für ihre „fremdbestimmten Interessen“ benutzen. Damit werde „ein weiteres Mal der Kampf gegen den Antisemitismus verraten“. Im Buch geht er näher darauf ein, welche geschichtlichen Ursachen das Treiben der „Antideutschen“ hat.

„Sie gehen nicht dorthin, wo es Antisemitismus gibt, sondern sie bestimmen, wer der Antisemit ist. Wenn Göring gesagt hat, ‚Ich bestimme, wer Jude ist‘, bestimmen sie heute mittlerweile, wer der Antisemit ist. Das war für mich eine ganz neue Qualität, das kannte ich so nicht.“

Es sei höchste Zeit, „das auseinanderzunehmen und zu bekämpfen“, so der Historiker. Jene in Deutschland, die sich angeblich mit „den Juden“ identifizieren und vorgeblich den Antisemitismus bekämpfen wollen, hätten etwas nicht begriffen:

„Die Tatsache, dass Judentum, Zionismus und Israel drei paar Schuhe sind. Das heißt negativ gewendet, dass Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik drei Paar Schuhe sind.“

Nicht alle Juden seien Zionisten, nicht alle Zionisten seien Israelis und nicht alle Israelis seien Juden, erinnerte Zuckermann.

Faschistische Tendenzen in Israel

„Ein Jude kann Israel kritisieren, einfach nur deshalb, weil es in Israel etwas zu kritisieren gibt“, fügte er hinzu. Dafür sorge allein die 50-jährige Besatzung palästinensischen Territoriums, über die in den meisten deutschen Medien nur „sehr blass und bleich“ berichtet werde.

Der Historiker wies auf die Anzeichen von Apartheid gegenüber der arabischen Bevölkerung hin, die jüngst das israelische Nationalitäten-Gesetz deutlich gemacht habe. Dies und den Alltagsrassismus und die Demontage der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung sowie „eine Volksverhetzung, die von den obersten Instanzen der israelischen Politik ausgeht“, zählt er zu den faschistischen Tendenzen in Israel.

„Die Elemente des Faschismus sind eigentlich überall sichtbar“, erklärte Zuckermann dazu im Interview. Er verwies darauf, dass die Vorläufer der Likud-Partei wie Wladimir Schabotinski Faschisten waren. Es handele sich um jene, die den Staat über alles stellen und den Feind im eigenen Lager sehen, in dem Fall die Araber im eigenen Land. Es seien auch jene, die Minoritäten unterdrücken, was in Israel praktiziert werde.

„Faschisten sind aber vor allem diejenigen, die die Gewaltenteilung demontieren. In der israelischen Demokratie wird gegenwärtig die Gewaltenteilung ausgehebelt, weil die Legislative, das Parlament, immer mehr der Exekutive, der Regierung, untergeordnet wird. Und weil in der Tendenz sehr viele Zeitungen zwar nicht von Staats wegen gleichgeschaltet sind, aber sich selbst gleichschalten, indem sie staatshörig werden.“

Erinnerung an Fakten

In der von „junge Welt“-Chefredakteur Stefan Huth moderierten Veranstaltung erklärte Zuckermann, dass Juden in Deutschland heute nicht mehr gefährdet seien und der vorhandene Antisemitismus nicht ihr Leben bedrohe. „Es gibt keinen importierten Antisemitismus“, fügte er angesichts entsprechender Vorwürfe gegenüber Geflüchteten aus arabischen Ländern hinzu. Antiisraelische oder antisemitische Äußerungen von Islamisten seien im ungelösten Nahost-Konflikt begründet.

„Was Juden wirklich widerfahren ist, was Juden an den Kragen gegangen ist und sechsmillionenfach zur Ausrottung geführt hat, ist im Westen, ist hier in diesem Ihrem Land passiert. Juden hatten in arabischen Ländern, so sehr sie Bürger zweiter Klasse sein mochten, nie auch nur annähernd das erfahren, was schon seit dem Mittelalter Juden in dieser Region, im Westen und auch im Osten, erfahren mussten.“

Der Philosoph meinte:

„Wenn ich heute Araber unter israelischen Stiefeln wäre, dann wäre ich erstens antiisraelisch. Und insofern ich die Israelis mit Juden identifizieren würde, könnten mir dabei auch eine ganze Menge antijüdische Elemente entfleuchen.“

Die Analyse dessen müsse bei der Frage ansetzen: „Warum ist der israelische Stiefel auf dem Nacken der Araber?“

Moshe Zuckermann: „Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit“
Westende Verlag 2018. 256 Seiten. ISBN 978-3-86-489-227-1; 20 Euro