Der 5. Mai ist der 200. Geburtstag von Karl Marx. Seine Werke werden in letzter Zeit vermehrt beachtet und wiederaufgelegt. Nur ein Medienhype, fürchtet Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski. Im Interview erklärt er, warum Marx und seine Analyse des Kapitalismus dennoch und immer wieder aktuell ist.
Thomas Kuczynski (Jahrgang 1944) ist Wirtschaftshistoriker. Er war der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1992 ist er freischaffend in Forschung und Publizistik tätig, unter anderem als Autor im Marx-Engels-Jahrbuch und in der Zeitschrift „Lunapark21“. Sputnik sprach mit ihm aus Anlass des 200. Geburtstages von Karl Marx.
Karl Marx wurde am 5. Mai vor 200 Jahren geboren. Derzeit gibt es sowas wie eine Marx-Renaissance. Wie erklären Sie sich das, als Wirtschaftshistoriker, der kürzlich den ersten Band von Marx‘ Hauptwerk „Das Kapital“ neu herausgegeben hat?
Ob das eine Renaissance ist, also eine Wiedergeburt, muss man erst mal sehen. Ich würde es im Augenblick noch unter „Medienhype“ klassifizieren. Es wäre schön, wenn es eine Renaissance gäbe. Aber das können wir dann vielleicht nächstes Jahr besprechen, ob es dazu gekommen ist.
Was bedeutet für Sie als Wirtschaftshistoriker und Herausgeber der Neuausgabe von „Das Kapital“, Band 1, Karl Marx heute?
Ich finde ihn nach wie vor ungemein anregend. Er muss alle paar Jahre wieder neu gelesen werden. So wie Goethe gesagt hat, man müsse die Weltgeschichte alle 50 Jahre neu schreiben, so muss man auch Marx alle vielleicht 20 Jahre neu lesen. Und zwar nicht, weil man nun klüger geworden ist, sondern weil man ihn von einer anderen Warte aus betrachtet, eben immer mit dem Kopf der Gegenwart. Da finden sich also Anregungen, an die vor 50 Jahren niemand gedacht hat.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Frage der Naturzerstörung spielt bei Marx als Terminus überhaupt keine Rolle. Natur ist bei ihm ein philosophischer Begriff. Er benutzt den Ausdruck „Erde“ und stellt fest, dass zum Beispiel die kapitalistische Produktionsweise die Quellen allen stofflichen Reichtums zerstört, die Erde und den Arbeiter. Wenn Sie das vor 50 Jahren gelesen haben, haben Sie das nur zur Kenntnis genommen. Heute hat das einen ganz anderen aktuellen Bezug. Dann sieht man auf einmal, es gibt Fragen im ersten Band des „Kapitals“ wie die sogenannte Wertrevolution, die spielen heute eine ganz entscheidende Rolle nach meinem Dafürhalten. So ist der Wert des Regenwaldes Null, da ist nämlich nichts investiert. Aber wenn man ihn wiederaufforsten will, dann braucht man eine Wertrechnung, dann gibt es Arbeit und diese Reproduktionskosten. Die müssen heute in der Ökonomie in ganz anderer Weise berücksichtigt werden, als das vor 100 Jahren der Fall war.
Als 1989/90 der Staatssozialismus, der sich immer auf Karl Marx berief, zusammenbrach, hieß es zum Beispiel sinngemäß: „Entschuldigt, das war nur so eine Idee“. Das Plakat mit dieser Aussage gibt es heute wieder zu kaufen. Viele wollten danach nichts mehr von Marx und vom Marxismus wissen. Wer daran festhielt, galt sinngemäß als zurückgeblieben. Warum ist jetzt ein neues Interesse da? Was ist geschehen?
Was geschehen ist, ist, dass der Sozialismus in der Gestalt, wie er in Osteuropa existierte, zugrunde gegangen ist. Das ist aber im Sinne von Hegel zu verstehen: Er ist in seinen Grund zurückgekehrt – und sein Grund war der Kapitalismus. Dieser Kapitalismus bringt immer wieder eine antikapitalistische Bewegung hervor, die sich in vielen Fällen auf Marx beruft. Sie kann sich natürlich auch auf andere berufen. Wenn sie ganz reaktionär ist, dann beruft sie sich auf die Romantik des Mittelalters. Das mussten natürlich verschiedene Leute erst einmal begreifen, dass mit dem Verschwinden des Sozialismus in Osteuropa dieser Kapitalismus geblieben ist und, da die Herausforderung wegfiel, sich sehr verändert hat.
Zum Beispiel gab es in der DDR immer Leute, die gesagt haben: Die größten Erfolge hat der DDR-Sozialismus in Westdeutschland erzielt, nämlich den Sozialstaat, der eine Antwort auf die kommunistische Herausforderung war. Dieser Sozialstaat wird nun seit 25 Jahren immer weiter abgebaut, und zwar nicht nur in Deutschland. Das merken die Leute. Vielleicht überlegen sie dann auch, woran das wohl liegt. Und dann kommen sie wieder, nicht im nostalgischen Sinne auf die DDR, aber auf die Idee: Irgendwas hat das doch mit dem Untergang des sogenannten Realsozialismus zu tun. Deshalb wenden sich Leute auch wieder Marx zu, die ihn erst mal 20 Jahre ad acta gelegt haben. Abgesehen von den jungen Leuten, die damals viel zu jung waren, um irgendetwas mitzubekommen, aber sich heute fragen, was kann ich denn nun unternehmen? Dann fragen sie und dann kriegen sie Antworten, die zuweilen auch wieder auf Marx verweisen.
Nun gibt es verschiedene Menschen, die sich kritisch oder auch positiv mit Marx beschäftigt haben, aber zumindest bemängeln, dass seine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zu ökonomisch ist, gar ökonomistisch ist. Wie schätzen Sie das ein?
Ach, das ist eine Kritik, die spätestens seit den Altersbriefen von Friedrich Engels aus den 1890er Jahren vorhanden ist, wo er selbstkritisch bekannte, dass er und Marx zu großen Wert auf die Ökonomie gelegt haben. Er erklärte das damit, dass die Ökonomie natürlich die Grundlage der Angelegenheit ist und sie deshalb auf viele andere Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise nicht in dem Maße eingegangen sind, wie das für eine umfassende Analyse notwendig gewesen wäre. Daran hat sich in den darauffolgenden hundert Jahren nicht so wahnsinnig viel geändert. Aber es gibt natürlich viele Aspekte, die von anderen untersucht worden sind. Ich würde nicht sagen, dass das Bild heute vollständig ist. Ein vollständiges Bild einer Gesellschaft hat man sowieso nicht. Aber es sind doch verschiedene Aspekte hinzugekommen, die bei Marx völlig unterbelichtet waren. Der Mann hat ja noch nicht mal das ökonomische Programm geschafft.
Sie haben, wie schon erwähnt, Band 1 von „Das Kapital“ neu herausgegeben. In einem Text dazu verweisen Sie darauf, dass dieses Werk, das als das Hauptwerk von Karl Marx gilt, ein unvollendetes ist. Warum haben Sie sich die Arbeit gemacht, diesen ersten Teil des „Kapitals“ neu herauszugeben?
Das hatte mehrere Gründe. Der erste war, dass Marx seine Übersetzer darauf hingewiesen hat, dass sie bei ihren Übersetzungen möglichst die zweite deutsche Ausgabe von 1872 und die französische Ausgabe von 1873/75 immer miteinander vergleichen sollten, weil er in der französischen Ausgabe viel Neues hinzugesetzt und die Sache besser dargestellt habe.
Der zweite Grund war: Es gab das Projekt schon einmal, 1930/31 im Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut, wo eine Arbeitsnotiz überliefert ist, die genau diese Frage untersuchte und meinte, durch einen solchen Vergleich könne eine Ausgabe nur gewinnen. Die Ausgabe ist damals nicht zustande gekommen. Aber diese Arbeitsnotiz ist dann 1997, glaube ich, publiziert worden, und ich fand das außerordentlich interessant.
Das dritte Moment war: Wenn man die verschiedenen Ausgaben, die Marx und dann später Engels herausgegeben haben, miteinander vergleicht, dann finden sich doch Entwicklungen, Rückentwicklungen, Widersprüche. Das mal alles aufzudröseln – nicht in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, die unerschwinglich teuer ist –, sondern dem Leser für einen brauchbaren Preis zumindest als Anregung zur Verfügung zu stellen, hatte mich dazu bewogen, das zu machen. Nun liegt es Gott sei Dank vor.
Wo und wie sehen Sie den Kapitalismus heute in der Zeit um den 200. Geburtstag von Karl Marx? Ich frage das auch mit der Erinnerung daran, dass Ihr Vater, Jürgen Kuczynski, in einem seiner letzten Bücher mit dem Titel „Was wird aus unserer Welt?“ noch sehr viel Hoffnung auf die Wirkung des Marxismus als Mittel zur Veränderung der Welt, zur Neugestaltung der Welt hatte. Welche Hoffnung haben Sie?
Der Kapitalismus hat sich in den vergangenen 200 Jahren als eine unerhört wandlungsfähige Gesellschaft herausgestellt, die mit vielen Herausforderungen fertiggeworden ist, insbesondere denen, die sich aus den Klassenkämpfen ergeben hatten. Ich erinnere an den Acht-Stunden-Tag, der natürlich von allen Unternehmern aufs Schärfste bekämpft worden ist. Aber als er durchgesetzt worden war, war er ein hervorragendes Mittel zur Rationalisierung der Produktion. Das wäre ohne Einführung des Acht-Stunden-Tages nie möglich gewesen. Insofern bin ich sehr vorsichtig hinsichtlich der Frage, was der Kapitalismus kann und was er nicht kann. Was er nicht kann, ist, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. Das ist seine Grundlage.
Aber wie zufrieden oder unzufrieden die Menschen mit dieser Gesellschaft sind, in der sie ausgebeutet werden, das ist eine ganz andere Frage. Das ist eine politische Frage. Die politischen Entwicklungen innerhalb des Kapitalismus sind außerordentlich schwer zu prognostizieren, so wie Revolutionen überhaupt nicht vorauszusagen sind. Man kann vermuten. Aber ich erinnere Sie: Im Kommunistischen Manifest wurde die Revolution in Deutschland erwartet – und wo ist sie ausgebrochen? In Frankreich.
Lenin meinte 1917, naja, ob wir Alten die Revolution noch erleben – das war im Januar 1917, er war damals 45 Jahre alt. Einen Monat später brach die Februarrevolution aus, neun Monate später die Oktoberrevolution.
Sie sehen, die politischen Entwicklungen sind kaum vorauszusehen. Wenn ich an das 21. Jahrhundert denke: Niemand hat den arabischen Frühling vorausgesehen, niemand hat vorausgesehen, wie schnell dieser Frühling verblühen würde. Die Frage der Einführung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika – heute gibt es so gut wie keine linken Regierungen mehr in Lateinamerika. Ich sehe jetzt ab von Kuba, das ist etwas Anderes.
Das heißt also, die politischen Entwicklungen sind überhaupt nicht vorauszusehen. Sie können positiv verlaufen, sie können viel negativer verlaufen als bisher. Ich erinnere nur an die unerhörte Zunahme des Nationalismus nicht nur in Europa, nicht nur in Deutschland, auch in den USA – eine sehr gefährliche Entwicklung. Man muss sehen, was daraus wird. Ich erinnere Sie an die Russenphobie, die wieder unerhört Platz gegriffen hat, sehr gefährlich. Die Europäer oder die Westeuropäer haben völlig vergessen, was es heißt, Russland herauszufordern. Das ist im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen immer in der Hauptstadt des Angreifers gelandet – ob das 1812 in Paris war oder 1945 in Berlin. Insofern muss man wirklich ganz klar unterscheiden zwischen dem ökonomischen System und seinen politischen Implikationen. Ohne diese ist natürlich das ökonomische System nicht zu beseitigen.
In der Gegenwart gibt es immer mehr Konfrontation in den internationalen Beziehungen, Eskalation, gegenseitige Drohungen und so weiter. Russland wird eingekreist. Jeder Versuch von Russland, sich zur Wehr zu setzen, wird ihm zum Vorwurf gemacht. Manche Beobachter sprechen von einer wachsenden Kriegsgefahr. Der Philosoph Elmar Treptow hat in einem Buch über Gerechtigkeit im Kapitalismus daran erinnert, es gebe keinen friedfertigen Kapitalismus, schon allein aufgrund seines Konkurrenzprinzips. Wie sehen Sie das? Und welche Kraft kann im Kapitalismus Frieden sichern, erhalten oder durchsetzen?
Von der ökonomischen Grundlage her kann der Kapitalismus nicht friedlich sein, wie von Ihnen zitiert. Das Konkurrenzprinzip verhindert das. Das zeigt auch einerseits diese Globalisierung, aber andererseits die Hinwendung zum Protektionismus oder Nationalismus. Den Frieden erhalten, sofern man von Erhalten in dieser kriegszerrütteten Welt – siehe Naher Osten – überhaupt sprechen kann, das können nur die Massen und niemand anders. Das Kapital ist je nachdem am Frieden interessiert, natürlich: Solange es seine Profite unter Bedingungen des Friedens einstreichen kann, ist es nicht unbedingt am Krieg interessiert. Sobald es aber lukrativer wird, Kriege zu führen, wird die Rüstungsindustrie angeworfen. Das kann eigentlich nur durch Massenproteste und die Volksmassen verhindert werden. Dann können das einige klügere Politiker vielleicht aufgreifen. Aber die Bewegung für den Frieden muss von unten kommen.
Karl Marx: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“ Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals
Neue Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski
VSA Verlag 2017, 800 Seiten; ISBN 978-3-89965-777-7; Preis: 19,80 Euro