Deutsche Zeitschrift klärt über Interessen am Skripal-Fall auf

Die aktuellen Meldungen zum mutmaßlichen Anschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal widersprechen Londons Behauptungen zu diesem Fall. Bestätigt werden zudem Kritik und Zweifel an den offiziellen Erklärungen. Die Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ macht in zwei Beiträgen auf Hintergründe und Zusammenhänge aufmerksam.

Der Leiter des staatlichen britischen Labors in Porton Down, Gary Aitkenhead, hat am Dienstag erklärt, die Einrichtung könne keine präzischen Angaben zur Herkunft des am 4. März gegen Sergej Skripal und dessen Tochter eingesetzten Giftes machen. Damit wurde nicht nur den Vorwürfen westlicher Politiker gegen Moskau der Boden entzogen. Aitkenhead bestätigte damit auch die starken Zweifel zahlreicher Experten an den offiziellen britischen Erklärungen zu dem Fall.

Zu den Zweiflern gehörte von Anfang an der britische Ex-Diplomat Craig Murray. Seine Aussagen und Hinweise zum Skripal-Fall in seinem Blog hat nun die deutsche Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ in einem Text auf Deutsch zusammengefasst. Er basiert auf Übersetzungen von Murrays Beiträgen, die das Onlinemagazin „Nachdenkseiten“ veröffentlichte.

„Von einer guten Quelle im FCO, dem britischen Außenministerium, habe ich die Bestätigung erhalten, dass die Wissenschaftler von Porton Down nicht die Möglichkeit haben, den Nervenkampfstoff als einen von Russland hergestellten Kampfstoff zu identifizieren und dass sie verbittert über den Druck auf sie sind, es doch zu tun“, ist in Murrays „Blätter“-Text zu lesen. Der wurde nur wenige Tage vor den aktuellen Meldungen aus dem Labor von der Zeitschrift veröffentlicht. „Porton Down würde – nach einem eher schwierigen Meeting, wobei das Folgende als Kompromiss herauskam –, nur die Formulierung ‚von einer Art, wie sie von Russland entwickelt wurde‘ unterschreiben.“

„Von Lügnern entwickelte Wortpropaganda“

Der Ex-Diplomat nannte dies „sorgfältige Wortpropaganda“ und fügte hinzu: „Eines Typs, wie sie von Lügnern entwickelt wurde“. Es seien „genau dieselben Leute, die einst versichert haben, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen hätte“. Sie „wollen uns jetzt weismachen, Wladimir Putin benutze Nowitschok, um Menschen auf britischem Boden anzugreifen. Wie bei der Geschichte von den irakischen Massenvernichtungswaffen ist es auch hier unerlässlich, nachzuprüfen, ob die Beweise auch schlüssig sind.“

„Meine Quelle im Außenministerium und ich erinnern uns noch an den außergewöhnlich hohen Druck auf das Personal des Außenministeriums und anderer Beamter, das schmutzige Dossier über die irakischen Massenvernichtungswaffen abzuzeichnen, einen Druck, den ich in meinem Buch ‚Murder in Samarkand‘ wiedergegeben habe. Es taugt offenbar zum Vergleich mit dem, was jetzt passiert, besonders in Porton Down, aber ohne meine Soufflage.“

„Hektische Anstrengungen“

Ganz bewusst habe London allerdings „niemals gesagt, dass der Nervenkampfstoff in Russland hergestellt wurde oder dass nur Russland ihn hätte herstellen können“. So könnte sich die britische Regierung jetzt rausreden, nachdem das Labor die Behauptungen nicht stützte. Die entsprechende Aussage wurde auch in der gemeinsamen Erklärung der Regierungen Großbritanniens, der USA, Frankreichs und Deutschlands benutzt.

Murray schreibt, er sei „zutiefst aufgeschreckt von den hektischen Anstrengungen der Geheimdienst-, Spionage- und Rüstungsindustrien, die Russenphobie zu schüren und einem neuen Kalten Krieg den Weg zu bereiten.“ Und: „Besonders besorgt bin ich über die Anzahl von ‚Experten‘ des Kalten Krieges, die jetzt die Nachrichten beherrschen.“ Er schreibe das als jemand, der Russland und dessen Politik weiterhin kritisch sehe.

London verweigert Kooperation

Murray erinnerte in seinem Beitrag daran, dass selbst die „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) „in der Tat so skeptisch über die Existenz von Nowitschoks“ war, „dass sie beschloss – mit dem Einverständnis der USA und Großbritanniens – weder sie noch deren angebliche Vorläufer auf ihre Verbotsliste zu setzen“. Wider alle Vorwürfe an Moskau, eine Untersuchung durch die OPCW nicht zu unterstützen, stellt er fest:

„Angesichts der Tatsache, dass die OPCW die Existenz von Nowitschoks bezweifelt, wäre es ungemein wichtig gewesen, dass Großbritannien der OPCW eine Probe davon hätte zukommen lassen – wenn man denn eine solche überhaupt hatte. Großbritannien ist zudem vertraglich verpflichtet, dies zu tun. Russland seinerseits hat dagegen einen Antrag an die OPCW gerichtet, dass Großbritannien eine Probe des Materials aus Salisbury einreichen solle, damit sie international untersucht werden könne. Aber London weigerte sich, dies zu tun.

In der April-Ausgabe der „Blätter“ äußert sich August Pradetto, ehemaliger Professor an der Universität der Bundeswehr Hamburg, ebenfalls zur westlichen Reaktion zum Fall Skripal. Es handele sich um den „vorläufigen Tiefpunkt des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen“. „Die Rhetorik eskaliert seither in einer Weise, die an die kältesten Zeiten des Kalten Krieges erinnert.“ Dafür stehe auch Mays Behauptung, bei dem Anschlag handele es sich um „einen bewaffneten illegalen Gewalteinsatz gegen Großbritannien durch den russischen Staat“. „De facto sprach die britische Premierministerin von einem Kriegsakt Moskaus gegen Großbritannien“, stellt Pradetto fest.

Fake News von der „Süddeutschen“?

Der Politikwissenschaftler weist zwar daraufhin, dass die Logik den Vorwürfen gegen Moskau widerspreche. Er gibt allerdings ungeprüft eine Behauptung wieder, die zuerst von Stefan Kornelius in der „Süddeutschen Zeitung“ aufgestellt wurde: Danach soll die russische Duma vor zwei Jahren ein Gesetz beschlossen haben, „das die Liquidierung von Überläufern und Hochverrätern auch im Ausland erlaubt“. Einen Beleg dafür liefert Kornelius ebenso wenig wie Pradetto. Er ist mit normaler Recherche nirgendwo zu finden, nicht einmal in kremlkritischen russischen Medien. Umso schwerer wiegt die Behauptung, die nichts anderes als Fake News sein dürfte.

Auch wirft der Wissenschaftler leider im ersten Teil seines Beitrages Moskau und Putin vor, die Außenpolitik des Westens nur zu kopieren. Russland würde die US-amerikanische „Unilateralisierung und die Militarisierung der Außenpolitik sowie die Abkehr von Völkerrecht und kooperativen Institutionen“ nachahmen. Pradetto meint, dies zeige sich an der Ukraine, der Krim und Syrien. Dass Russland sich genau für das Gegenteil, nämlich eine multipolare Weltordnung, eine demilitarisierte Außenpolitik und ein gestärktes Völkerrecht samt gestärkter Uno, einsetzt, übersieht er geflissentlich.

Kein Nutzen für Russland

Bedauerlich ist auch, dass der Autor die nicht bewiesene Behauptung einer gezielten russischen Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen 2016 wiederholt. Er unterstellt Moskau eine aggressive Strategie, „die auf eine Schwächung und Fragmentierung der EU abzielt und darauf, nationalistischen, anti-europäischen Kräften zum Durchbruch zu verhelfen“.

Vielleicht musste Pradetto in der eher russlandkritischen Zeitschrift diesen „Geßlerhut“ grüßen, um seine kritischen Anmerkungen zur westlichen Politik im Skripal-Fall durchzubekommen. Zumindest entsteht dieser Eindruck. Auf die Frage „Cui Bono?“ (Wem nützt es?) liefert er dagegen ausschließlich Antworten, die gegen einen Nutzen des mutmaßlichen Giftanschlags vom 4. März für Russland sprechen.

„Das würde Putin und Moskau umso mehr zu einem Feind der Sonderklasse stempeln, der aufgrund vorhandener Technologie und zur Verfügung stehender Ressourcen nicht nur erheblich gefährlicher wäre als Nordkorea, sondern der moralisch noch weit unter dem im Westen tendenziell als ‚Irren‘ und ‚Raketenmann‘ charakterisierten nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un stünde. Der russischen Politik, Diplomatie und Wirtschaft und dem Versuch, über den Fernsehsender ‚RT‘ und andere Medien die westliche und internationale Öffentlichkeit für sich einzunehmen, wäre damit nicht gerade gedient.“

Davon ausgehend stellt der Politikwissenschaftler die Frage, „wer ein Interesse an den Implikationen und Folgen einer Aktion haben könnte, die Russland in einem so nachteiligen Licht erscheinen lässt: nämlich als vertragsbrüchigen, hinterhältigen und aller Skrupel entledigten Mörderstaat.“

„Grundsätzliche Umkehr notwendig“

Aus seiner Sicht gibt es verschiedene mögliche Täter, „von tschetschenischen Extremisten, die Moskau desavouieren wollen, bis zu ukrainischen Ultras, die auf eine Verschärfung der westlich-russischen Auseinandersetzung aus sind“. „Man könnte aber auch zu dem Schluss gelangen, dass die Art und Weise, wie der versuchte Mord an Skripal ausgeführt wurde, aus den schon genannten Motiven auf eine westliche ‚Agentur‘ hindeutet. Auszuschließen ist angesichts der langen Geschichte von zum Teil haarsträubenden geheimdienstlichen Aktivitäten beides nicht.“

Am Ende stellt Pradetto fest, der Fall Skripal sei „jedenfalls ein Indikator für den zerrütteten Zustand im russisch-westlichen Verhältnis im Besonderen und in den internationalen Beziehungen im Allgemeinen“. Und er warnt: „Ohne eine grundsätzliche Umkehr an dieser Stelle dürfte der Fall Skripal nur der Vorschein noch gefährlicherer Krisen sein.“