Vieles an dem mutmaßlichen Mordversuch gegen den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter im britischen Salisbury Anfang März bleibt undurchsichtig. Das sagt der Toxikologe und Chemiewaffenexperte Walter Katzung im Gespräch. Die westlichen Vorwürfe gegen Russland ohne Offenlegung von Beweisen bezeichnet er als unlogisch.
Der Fall des mutmaßlichen Giftanschlages auf den Ex-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter am 4. März in Großbritannien sorgt weiter für Wellen, vor allem politische Schockwellen. Die westliche Politik, allen voran Großbritannien, nutzt das Ereignis, um den antirussischen Kurs zu verschärfen. Das steht im Widerspruch zu allen vorherigen Erklärungen, sich für mehr Dialog einsetzen zu wollen. Und auch wenn Kanzlerin Angela Merkel behauptet, „dass es gar keine anderen Erklärungen gibt“, ist bisher nichts klar.
Die bisher bekannt gewordenen Informationen zu dem mutmaßlichen Anschlag auf Skripal können auf eine Vergiftung durch einen Kampfstoff hindeuten. Das sagt der Toxikologe und Chemiewaffen-Experte Walter Katzung im Sputniknews-Gespräch. Er fügte hinzu: „Jeder Kampfstoff ist ein Gift, aber nicht jedes Gift ist ein Kampfstoff. Es kann sich auch um eine andere nervenschädigend oder giftig wirkende Substanz handeln.“ Schon das Wort „nervenschädigend“ sei aber fraglich, denn es sei bisher kein medizinisch-toxikologischer Befund zu den Symptomen bei Skripal einschließlich zur spezifischen Therapie auf der Intensivstation vorgelegt worden. Diese Informationen – leider geheimgehalten – könnten hilfreich sein Fragen zur Art des angewandten Giftes zu klären. Deshalb seien bisher einigermaßen erklärliche Einschätzungen von außen nicht sicher zu treffen.
Ungeklärte Vergiftung
Die bekannten Informationen wiesen nur auf eine sehr gefährliche und langwierige Vergiftung des Ex-Agenten hin. Ohne Befunde oder Beweise sei ein eindeutiger Rückschluss nicht möglich, stellte Katzung klar. Er hält es deshalb für schwierig, Gegenthesen aufzustellen. Der britische Chemiewaffen-Experte Gwyn Winfield hatte gegenüber dem Online-Magazin „Daily Beast“ erklärt, dass die bei Skripal laut Berichten aufgetretenen Symptome „den gängigen Kenntnissen über die Wirkung von Nowitschok nicht entsprechen“. Dagegen sei von einem „eigentümlichen Giftcocktail“ auszugehen.
Die erwähnten Symptome sind laut Katzung tatsächlich „nicht unbedingt ein Zeichen für den Einsatz von bekannten militärischen phosphororganischen nervenschädigenden Kampfstoffen, zum Beispiel aus der Gruppe der Nowitschok-Substanzen“. Das sei aber ohne medizinischen Befund nur „sehr vorsichtig“ zu beurteilen. Er könne sich die schnellen Behauptungen vor allem aus der Politik für den mutmaßlichen Mordversuch fachlich nicht erklären, so Katzung.
„Man hat eine ungeklärte Vergiftung und man hat keine eindeutige Symptomatik, zumindest nicht nach außen preisgegeben. Woher weiß man dann, dass es sich genau um eine Verbindung aus der Gruppe der Nowitschok-Substanzen handelt?“
Unerklärliche Angaben
Der Chemiewaffenexperte wundert sich über ein Detail der Vorgänge im britischen Salisbury: Berichten zufolge wurden die etwa 500 Einwohner und der ganze Ort nach dem Vorfall entgiftet.
„Wenn aber nur zwei Leute gezielt – ich nehme jetzt mal den Vorwurf ernst – von einem Land vergiftet wurden, wieso sind dann 500 Personen im ganzen Ort betroffen? Wie sollte die Vergiftung erfolgt sein? In einem militärischen Angriff, mit einem Absprühgerät, so dass der halbe Ort vergiftet wurde? Das passt alles nicht zusammen.“
Dazu komme, dass der Koffer der Tochter angeblich bereits in Moskau mit dem Gift präpariert worden sein soll. Einer der führenden Entwickler von Nowitschok, Professor Leonid Rink, habe über diese Behauptung gelacht. Rink habe in einem Interview erklärt, dass in dem Fall Skripals Tochter nicht lebend mit dem Flugzeug bis England gekommen wäre. Alle Angaben zur Art und Weise der Vergiftung bezeichnete Katzung als „völlig unerklärlich“. Die Entgiftung fast des ganzen Ortes könne nur damit erklärt werden, dass der Vorfall medial und politisch aufgewertet werden soll.
Westliche Sterndeuterei
Es sei seit 1991 bekannt, dass in der Sowjetunion diese Substanzen entwickelt worden sind, nachdem Will Mirsajanow in die USA emigrierte. Dieser sei für die Sicherheit des Projektes zuständig gewesen und habe nach seinem Wechsel seinen gesamten Kenntnisstand offengelegt.
„Seit 1991 weiß der Westen genau Bescheid über die Nowitschok-Gruppe. Es ist also nichts, was nicht bekannt war.“
Mirsajanow habe auch in seinem Buch „State Secrets“ ausführlich darüber berichtet und anscheinend Zugang zu allen Unterlagen des Projekts gehabt. Und der inzwischen entlassene US-Außenminister Rex Tillerson habe dies ausdrücklich bestätigt:
„Whether it came from Russia with Russian government’s knowledge is not known to me at this point…This is a substance that is known to us and does not exist widely“
Für Katzung handelt es sich um „Sterndeuterei“:
„Man hat etwas gefunden, mit dem man nicht zurechtkam und es gibt sowieso eine angespannte Situation mit Russland, das als böse dargestellt wird. Und wenn der letzte Wasserhahn tropft, dann war vielleicht Putin verantwortlich. Also warum nicht auch hier?“
Dass hängt aus seiner Sicht unter anderem damit zusammen, dass es schon „einige nicht ganz koschere Vergiftungsfälle“ an sowjetischen bzw. russischen Ex-Bürgern in London gab.
Ein Beispiel sei der Fall Alexander Litwinenko im Jahr 2006, der in Großbritannien, nach anfänglichen medizinischen Fehldiagnosen und Behandlungen, an den Folgen einer Vergiftung mit Polonium 210 verstarb. „Der wurde damals auch Russland zugeordnet, weil bekanntermaßen Russland der größte Hersteller des gefährlichen radiotoxischen Isotops Polonium 210 war und Litwinenko sich als rechte Hand von Berezowsky und scharfer Putin-Kritiker in Szene gesetzt hatte. Aber interessanterweise hatte die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einmal verkündet: ‚Wir kaufen die russische Jahresproduktion an Polonium auf, weil wir die Welt davor schützen wollen, dass es in unrechte Hände kommt.‘“ Das sei vor dem Litwinenko-Fall geschehen.
Dieser sei bis heute ominös und nicht geklärt – zum einen, weil „strahlende Spuren“ zweier russischer Kontaktpersonen auf ihrem privaten Weg zu und den Kontakt mit Litwinenko markierten und sich auch einem undichten Transportbehältnis zuordnen lassen. Zum anderen „auch wegen der wie im Fall Skripal strikten Geheimhaltung der britischen Seite, insbesondere der einer öffentlich nicht zugänglichen Auswertung der Röntgenaufnahmen des Magen-Darm-Traktes und des Obduktionsprotokolls.“ Ganz zu schweigen von der Rolle des ominösen „Professors“ und Litwinenko-“Freundes“ Mario Scaramella und diverser neuerer Statements von Litwinenkos Vater zur Tätigkeit seines Sohnes in Großbritannien und zu seinem Tod bzw. von ihm vermutetem Täter.
Westliche Kriegslügen
Der britische Ex-Diplomat Craig Murray, beim Abbau der Nukus-Anlage durch die USA britischer Botschafter in Usbekistan, hat sich ausführlich mit dem Fall Skripal beschäftigt. Aus seiner Sicht handelt es sich bei den Vorwürfen gegen Russland um eine ähnliche Lüge wie die von den irakischen Massenvernichtungswaffen, mit der 2003 der Überfall auf den Irak gerechtfertigt wurde. Katzung sieht das genauso, sagte er im Interview. Er sieht aktuell ähnliche Zusammenhänge wie vor dem Krieg gegen den Irak 2003:
„Im Interesse einer gewollten politischen Entscheidung in einer gewissen Richtung wird ein Fakt geschaffen, ohne dass man für die Öffentlichkeit Beweise vorlegt. Man geht einfach davon aus: ‚Wir haben das gesagt, so ist das und Ihr müsst das glauben!‘“
Dem könne er sich selbst als Toxikologe nicht anschließen. Er bemühe sich immer, die fachlichen Hintergründe zu erfahren, um sich ein eigenes Bild machen zu können. Das sei im Fall Skripal aktuell nicht möglich.
Der US-Auslandssender „Radio Free Europe – Radio Liberty“ veröffentlichte am 8. März ein Interview mit dem britischen Chemiewaffenexperten Alastair Hay zu dem Vorfall. Dieser erklärte, es werde „einige Zeit“ – „über Wochen … möglicherweise über Monate“ – dauern, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Er glaube „nicht, dass die Beweise gegenwärtig einen Fingerzeig auf Russland zulassen“, und forderte Untersuchungen „auf eine kalte und ruhige Art und Weise“.
Unwissende Ukraine?
Dem stimmte Katzung zu, meinte aber, das gelte vor allem bei unbekannten Stoffen. Aber die Substanzen aus der Nowitschok-Gruppe seien bekannt. Der Experte wies daraufhin, dass einige der Anlagen, in welchen in der sowjetischen Zeit mit diesen Giftstoffen gearbeitet wurde, sich nicht nur auf dem Gebiet Russlands und des heutigen Usbekistan, sondern ebenso auf dem der Ukraine befanden. Doch Kiew habe bisher auf Anfrage Moskaus jedes Statement dazu abgelehnt. Das gespannte Verhältnis zwischen den beiden postsowjetischen Staaten lasse ihn in dem Zusammenhang auch nachdenklich werden, so der Experte.
Es könne vermutet werden, dass die USA nicht nur durch Mirsajanow von den Nowitschok-Stoffen Kenntnis hatten. Beim Abbau der Anlage in Usbekistan könnten sie Reste oder Abbauprodukte der Substanzen sichergestellt haben, so Katzung. Er wies daraufhin, dass die „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ (OPCW) 2016 vier iranische Wissenschaftler beauftragte, Stoffe aus der Nowitschok-Gruppe zu synthetisieren.
Ziel sei gewesen, Verbindungen zu synthetisieren und die Nachweismethoden zu entwickeln, um bei eventuellen künftigen Zwischenfällen mit diesen Giftstoffen diese schnell bestimmen zu können. Großbritannien sei ebenso wie Russland OPCW-Mitglied und müsste Zugang zu diesen Erkenntnissen habe. Deshalb könne er nicht verstehen, dass bei den Ermittlungen zum Skripal-Fall und den Vermutungen dazu nicht auf die vorhandenen Unterlagen zurückgegriffen werde.
Unlogische Vorwürfe
Zudem habe die russische Zeitung „Nowaja Gazeta“ am 22. März in einem Bericht zu einem Mordfall im Jahr 1995, bei dem ein Nowitschok-Stoff verwendet wurde, ein Faksimile mit den entsprechenden Untersuchungsergebnissen wiedergegeben. Mit modernen Analysatoren wie hochauflösenden Massenpektrometern (GC-MS) und selbst mobilen kleinen Hand-Geräten (z.B. IMS-Analyzer) könnten heute kleinste Spuren von Kampfstoffen nachgewiesen werden. Katzung ist verwundert, dass diese anscheinend beim Fall Skripal in Salisbury nicht eingesetzt wurden. „Vielleicht wurde das ja gemacht, aber es wird uns verheimlicht.“ Über britische Unzulänglichkeiten im gesamten Chemiewaffen-Schutz-Bereich hat sich Gwyn Winfield, weiter oben bereits zitiert, aktuell auf der Homepage des Fachjournals „CBRNe“ ausführlich beschäftigt und eine kritische Bestandsaufnahme – auch gerichtet an das britische Innenministerium – vorgenommen.
Die politischen Vorwürfe Großbritanniens und seiner westlichen Partner gegen Russland, ohne Belege vorzubringen, kommentierte der Experte so:
„Mit normaler Logik ist das nicht zu erklären. Vor allem auch deshalb nicht, weil Russland OPCW-Mitglied ist und nach den Statuten der Organisation ein Anrecht hat, bei solchen Fällen einbezogen zu werden. Es gab das sofortige Angebot aus Russland, bei der Aufklärung mitzuwirken. Das wurde von Großbritannien strikt abgelehnt. Das wäre nur so zu erklären, dass hier eine politische Provokation gestartet wurde und man nun mit dem Rücken an der Wand steht und nicht davon zurückgehen kann, ohne das Gesicht zu verlieren. Oder um sogar weitere Ziele zu verfolgen.“
Auf Letzteres deuten für Katzung die Erklärung des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg ebenso wie die des US-Präsidenten Donald Trump und die von Kanzlerin Merkel zu dem Vorfall hin. Das zeige:
„Wir sind nicht interessiert an einem Abbau von Spannungen, sondern wir wollen sie erhöhen.“
Walter Katzung (Jahrgang 1942) war 13 Jahre im Chemischen Dienst der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR und danach 4 Jahre als Leiter der Unterabteilung (UA) Chemischer Dienstes des Ministeriums für Staatsicherheit (MfS) tätig. Nach Kritiken an Vorgesetzten und ihm nicht akzeptierbarer Maßnahmen („mache nur wovon ich überzeugt bin“) sowie der Eröffnung eines als „Streng Geheim“ deklarierten „Sonderoperativvorganges“ (SOV) wurde er im Sommer 1978 , da man ihn wegen seiner internen Kenntnisse nicht entlassen wollte, als Wissenschaftler mit dem Status „OibE“ (Offizier im besonderen Einsatz) an die Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin „wegggelobt“. Er arbeitete dort im Fachbereich Forensische Chemie. Nach dem Untergang der DDR war er als Toxikologe sowohl freiberuflich und als Projektleiter in einer Kampfmittelbeseitigungsfirma, Bereich Chemiewaffen, tätig und wurde als solcher von nationalen Behörden und von internationalen Organisationen auch als Chemiewaffenexperte angefragt. So hat er unter anderem für die British Forces Germany erfolgreich die international als schwierig eingestufte schadstofffreie Vernichtung einiger Tonnen alter arsenorganischer Kampfstoffe methodisch entwickelt (Patent) und geleitet sowie an der Chemiewaffenvernichtung in Russland mitgearbeitet. Dabei hat er auch das Moskauer Institut GOSNIocht und das dazugehörige Testgelände Shichany kennengelernt, in dem die Nowitschok-Kampfstoffe entwickelt wurden. In der Folge seiner Tätigkeiten im Chemiewaffen-Bereich wurde er in den „UN Roster of Experts and Inspectors (CW)“ delegiert. Daraus und durch die aktive Teilnahme an vielen internationalen Kongressen und Symposien zur Thematik Chemiewaffen und Antiterror haben sich nach seinen Worten zahlreiche internationale Kontakte gegeben, die bis heute anhalten.