Die Bundesrepublik schottet sich längst wieder gegen Flüchtlinge ab, auf deren Kosten sowie zu Lasten der südeuropäischen Länder. Darauf macht der Journalist Karl-Heinz Meier-Braun im „Schwarzbuch Migration“ über die „dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik“ aufmerksam. Die Offenheit vom Herbst 2015 erscheint danach als eine Ausnahme.
Im Vorwort zu seinem kürzlich im C.H. Beck-Verlag erschienenen Buch schreibt der Journalist und Politikwissenschaftler Karl-Heinz Meier-Braun: „Während die deutsche Politik offiziell lange an der ‚Willkommenskultur‘ festhielt und die deutsche Öffentlichkeit den Rest Europas für hartherzig erklärte, begannen schon im Herbst 2015 die Versuche, die Zahl der Flüchtlinge wieder zu reduzieren und die Außengrenzen Europas besser zu sichern: durch fragwürdige Deals mit problematischen Regimes in der Türkei und Afrika, durch Verlagerung des Problems auf Südeuropa und durch eine aktive Bekämpfung der Fluchtursachen. Zudem erlebte das Land eine zuvor ungeahnte Verschärfung des Asylrechts – was allerdings die rechten Kritiker der Flüchtlingspolitik nicht davon abhielt, weiterhin von unkontrollierter Zuwanderung zu reden.“
„Alles wiederholt sich“
Trotz faktisch geschlossener Grenzen würde die AfD immer noch behaupten, diese seien unkontrolliert offen. Darauf wies Meier-Braun am Mittwoch im Berliner Gebäude der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung hin, wo er sein Buch vorstellte. Es war passenderweise der Internationale Tag gegen Rassismus. Die AfD und andere hätten beispielsweise vorgeschlagen, den Artikel 16a des Grundgesetzes zum Asylrecht ganz zu streichen. Doch das ändere nichts daran, so der Autor, dass nur ein bis zwei Prozent der Antragsteller gegenwärtig noch politisches Asyl nach dem deutschen Grundgesetz-Artikel bekommen.
Meier-Braun kritisiert in seinem Buch nicht nur die aktuelle Flüchtlingspolitik. Gegenüber Sputnik erklärte er:
„Wenn man zurückschaut, hat man ein Aha-Erlebnis. Es wiederholt sich eigentlich alles. Wir haben in den 80er Jahren schon ähnliche Diskussionen wie heute gehabt, in den 90er Jahren mit den sogenannten Spätaussiedlern. Immer wieder heiß es: Es sind zu viele, wir brauchen Höchstgrenzen, und und und … Die ganze Diskussion wiederholt sich.“
„Seit den 1950er Jahren ein Einwanderungsland“
Auf die Frage, welches Problem die deutsche Politik mit Flüchtlingen und Einwanderern hat, sagte Meier-Braun:
„Wir haben immer noch nicht akzeptiert, dass wir längst in einem Einwanderungsland leben. Das sind wir eigentlich schon seit 50 Jahren und länger.“
Der Journalist erinnerte an die 14 Millionen „Gastarbeiter“, die ins Land geholt wurden, dazu die 14 Millionen heimatvertriebenen Deutschen und die fünf Millionen „Spätaussiedler“. „Die Zahlen sprechen einfach für sich.“ Von insgesamt knapp 83 Millionen Einwohnern der Bundesrepublik haben inzwischen fast 19 Millionen einen sogenannten Migrationshintergrund. „Wenn das kein Einwanderungsland ist, dann weiß ich auch nicht“, sagte Meier-Braun im Interview.
Die Politik und die Parteien in Deutschland haben aus seiner Sicht beim Thema Flüchtlingspolitik nichts aus der Vergangenheit gelernt.
„Man könnte mit etwas mehr Ruhe und Gelassenheit an das Thema herangehen und sagen: Wir haben Erfahrungen. Wir hatten schon 1992 eine halbe Million Anträge von Asylbewerbern, hauptsächlich aus Ex-Jugoslawien aus dem Bürgerkrieg. Wir haben das gut bewältigt.“
Doch im „parteipolitischen Hickhack“ werde nicht ruhig darüber diskutiert, sondern das Thema instrumentalisiert. Das geschehe, „um den politischen Gegner anzugreifen“, anstatt nach vernünftigen Lösungen zu suchen. Für den Journalisten ist das das Grundproblem: „Dann braucht man sich nicht wundern, dass die Bevölkerung auch nicht in der Lage ist, das zu akzeptieren und mitzugehen, sondern dass man Denkzettel kriegt wie jetzt in der Bundestagswahl mit der AfD.“
Ein Paradebeispiel
Der ehemalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe sei ein Paradebeispiel, wie das Thema in den Wahlkämpfen instrumentalisiert werde. Rühe hatte in einem Rundbrief vom 12. September 1991 an die CDU-Parteigliederungen und -fraktionen auf die vermeintlich „besorgniserregende Entwicklung der Asylbewerberzahlen und der damit verbundenen Probleme“ hingewiesen. „Die hohe Zahl der den Kommunen zugewiesenen asylbegehrenden Ausländer stellt diese vor Probleme, die mancherorts kaum noch zu lösen sind“, behauptete er. Und: „Wirtschaftliche Motive sind häufig der Grund, einen Asylantrag zu stellen oder so zumindest ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht zu erwirken.“
Notwendig sei „eine Ergänzung des Grundgesetzes mit dem Ziel, Antragsteller aus Ländern, in denen eine Verfolgung nicht stattfindet, an den Grenzen zurückzuweisen bzw. ausweisen zu können“. Rühe forderte die CDU-Gliederungen auf, die SPD auf allen politischen Ebenen dazu zu bringen, „gegenüber den Bürgern zu begründen, warum sie sich gegen eine Änderung des Grundgesetzes sperrt – oder aber öffentlich die Bereitschaft zu bekunden, innerhalb der eigenen Partei für eine Änderung der bisherigen Politik einzutreten.“ Dem Schreiben waren Mustervorlagen für die Argumentation, für Resolutionen, Anträge und Anfragen sowie eine Muster-Presseerklärung beigefügt. Das Ganze hatte Erfolg: Die SPD knickte bereits damals ein.
„Bevölkerung nicht richtig vorbereitet“
Die SPD habe in der Flüchtlingspolitik „auch versucht, die Ausländerkarte auszuspielen, indem sie gesagt hat: Es gibt einfach zu viele Spätaussiedler.“ Bis zum Jahr 2000 sei das so hin und her gegangen, bis sich die Parteien einigten. Durch die sogenannte Flüchtlingskrise sei jedoch spätestens 2015 wieder ein Einbruch erfolgt. Für den Journalisten ist es „ein tolles Beispiel, wie man die Basis des politischen Gegners untergraben und Stimmen scheinbar gewinnen kann“. Das sei das Interesse der Parteien daran.
„Nur, das geht dann, wie wir bei der Bundestagswahl gesehen haben, als Schuss nach hinten los, indem man die Leute stärkt, die man gar nicht will, sprich die AfD.“
Die Parteien hätten „mit dem Feuer gespielt“.
Auf die Frage, warum ein Teil der Bevölkerung in der Bundesrepublik offenbar ebenso nur schwer mit dem Thema Flucht zurechtkommt, meinte Meier-Braun:
„Sie sind nicht richtig vorbereitet worden auf die ganze Situation. Im Gegenteil: Es sind immer, ob bewusst oder unbewusst, Vorurteile geschürt worden, auch Ablehnung.“
2015 sei eine Ausnahmesituation gewesen, „aus der Not geboren“. „Was hätte man tun sollen?“, sei die Frage gewesen. „Hätte man auf die Leute schießen sollen oder sie niederknüppeln?“ Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière habe „schlimme Bilder vermeiden“ wollen.
„Natürliche Spaltung der Gesellschaft“
Es habe sich aber um eine „Geste für eine humane Flüchtlingspolitik gehandelt, die weltweit Spuren hinterlassen hat“. Doch Meier-Braun vermisst bis heute von Kanzlerin Angela Merkel eine „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede“, um zu sagen:
„Wir tun alles, um das Thema zu bewältigen und wir haben auch schon längst eine Abwehr gegen die Flüchtlinge aufgebaut. Es kommen immer weniger. Wir haben die europäischen Grenzen schon nach Afrika verlagert. Aber trotzdem werden wir auf Dauer mit dem Weltflüchtlingsproblem leben müssen. Wir müssen damit umgehen und auch teilen lernen. Wir müssen Fluchtursachen wirklich beseitigen.“
Der Journalist stellte fest, dass die Politik das Thema mit der vielbeschworenen „Willkommenskultur“ auf die sogenannte Zivilgesellschaft abgewälzt habe. Es sei aber nicht verwunderlich, wenn das umschlage, dass so etwas wie Sozialneid entstehe, „wenn die Leute Angst haben um ihre Rente, um ihre Einkommen“. Er finde die Spaltung der Gesellschaft bei dem Thema „ganz natürlich“, wie er bei der Buchvorstellung erklärte. Doch damit müsse offen umgegangen werden, forderte Meier-Braun.
„Kein Staat kann das allein lösen“
Er kritisierte bei der Buchvorstellung, dass die Politik ihr Heil in einer „Politik der Angst“ suche. In der Krise liege die „Chance, dass Einheimische und Zugewanderte gemeinsam eine Vision für unsere Einwanderungsgesellschaft entwickeln“. Er forderte auch eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung und eine Handelspolitik, die den Erfolg der deutschen Wirtschaft nicht auf Kosten anderer Länder fördert.
Die Realität müsse akzeptiert werden: „Wir sind Einwanderungsland.“ Daraus müssten die Konsequenzen für ein Einwanderungsgesetz gezogen werden. Das müsse aber auch die Niedrigqualifizierten einbeziehen:
„Uns fehlen dringend Leute, in der Altenpflege, in der Krankenpflege, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in Kindergärten, in der Verwaltung sogar.“
Zudem sei eine humane Flüchtlingspolitik notwendig, entsprechend der weiterhin geltenden Genfer Flüchtlingskonvention. Im Rahmen der UNO müsse eine weltweite Flüchtlingspolitik entwickelt werden. Das sei der einzige Weg, „kein Staat kann das allein lösen“. „Gute Vorschläge und Kommissionsberichte gibt es zuhauf, nur an der Umsetzung fehlt es.“
Karl-Heinz Meier-Braun: „Schwarzbuch Migration – Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik“
C.H. Beck Verlag 2018; 192 Seiten; 14,95 Euro; ISBN 978-3-406-72110-6