Es ist nicht klar, wer mit welchem Stoff den Ex-Agent Sergej Skripal und seine Tochter am 4. März vergiftet hat. „Es fehlen die Fakten“, so Walter Katzung, deutscher Chemiewaffen-Experte. Er weiß: Der Westen kennt den angeblich verwendeten Nowitschok-Kampfstoff. Er hat Zweifel am Verhalten der USA in dem Fall und kritisiert die Berichterstattung.
Etwas mehr als eine Stunde warteten am Dienstagabend im Berliner Spionagemuseum die Zuhörenden darauf, vom Chemiewaffen- und Gift-Experten Walter Katzung etwas zum mutmaßlichen Mordversuch mit Gift an dem Ex-Agenten Sergej Skripal zu hören. Es sollte sich lohnen, war der Fachmann doch selbst in der ehemaligen sowjetischen geheimen Waffenfabrik gewesen, in der das angeblich beim Anschlag am 4. März in Großbritannien verwendete Gift entwickelt wurde.
Bis dahin gab Katzung sein Wissen darüber zum Besten, wie Geheimdienste in aller Welt und zu allen Zeiten Liebe und Sex für ihre Ziele einsetzten, um Informationen zu gewinnen – aber auch, um Kontrahenten oder missliebige Personen auszuschalten. Der Experte unternahm einen Parforce-Ritt durch die Welt der natürlichen und künstlichen Hilfsmittel für die körperliche Anziehung und Liebe unter den Menschen. Dabei gab er nicht nur Zeugnis von seinem umfangreichen Wissen und Tun, sondern auch manche Empfehlung ab und ließ ahnen, was er selbst ausprobiert hatte.
Von Aphrodisiaka zu Nervengiften
Katzung hat eine interessante berufliche Laufbahn: Der Toxikologe war Offizier im besonderen Einsatz (OibE) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR und UN-Gutachter für Toxikologie und chemische Waffen. Er hat später unter anderem die Bundesregierung und Bundesbehörden beraten. Der bundesdeutschen Justiz half er als Gutachter, Fälle aufzuklären, bei denen Drogen und Gifte im Spiel waren.
Nach der Tour durch die Welt der Aphrodisiaka, der Duft- und Lockstoffe, fragte er das Publikum im übervollen Museums-Kinosaal, ob jemand etwas zum Skripal-Fall wissen wolle. Da hoben viele ihre Arme. Katzung präsentierte ihnen, was er zum jüngsten Fall des angeblichen Einsatzes von Gift durch Geheimdienste wusste und schon vorbereitet hatte. Er hatte auch das Buch von Will Mirsajanow, dem Erfinder des verdächtigen Kampfstoffes aus der Gruppe „Nowitschok“, dabei: „State Secrets: An Insider’s Chronicle of the Russian Chemical Weapons Program“. Mirsajanow hatte seine Erinnerungen veröffentlicht, nachdem er in den 1990er Jahren in die USA emigriert war.
Eine deutsche Leitformel für alle Nerven-Kampfstoffe
Katzung wies daraufhin, dass der in der Sowjetunion entwickelte Nervengift-Kampfstoff wie auch seine Pendants im Westen und China einer Formel des deutschen Chemikers Gerhard Schrader folgt, der sogenannten Schraderschen Leitformel. Der entsprechende Kampfstoff der Nato sei in Großbritannien entwickelt worden, so Katzung. „Alle Stoffe, die dieser Formel folgen, sind Nervengift-Kampfstoffe.“
Die Sowjetunion habe ihren sogenannten binären Kampfstoff, bestehend aus zwei an sich ungiftigen Bestandteilen, als Antwort auf damals neuartige westliche VX-Chemiewaffen entwickelt. Aber: „Nowitschok-Stoffe sind je nach Struktur zehn- bis tausendfach giftiger als VX-Kampfstoffe. Die Giftwirkung hält viel länger an und ist in den meisten Fällen nicht zu heilen, das heißt tödlich.“ Bei geringen Dosierungen würden die Opfer so schwere Schäden behalten, dass sie Zeit ihres Lebens invalide seien.
Zweifelhafte Symptome
Katzung habe selbst mehrmals am Moskauer Institut „GOSNIocht“ gearbeitet, an dem Mirsajanow den angeblich im Skripal-Fall eingesetzten Stoff in den 1980er Jahren entwickelt habe. Auch im dazugehörigen geheimen Fabrik- und Testgelände Shichany in Südrussland sei er selbst gewesen, was er mit Fotos belegte.
Der Giftstoff-Experte meinte, dass der Ex-Agent Skripal und seine Tochter allen Berichten zufolge mit den entsprechenden Folgen im Krankenhaus „zwischen Leben und Tod“ liegen. Er fügte hinzu: „Ob das wirklich Nowitschok war, wissen wir im Augenblick nicht. Die Briten halten sehr viel geheim und äußern sich kaum dazu.“ Er brachte ein Zitat des britischen Experten Gwyn Winfield, der erklärte, dass die bei Skripal laut Berichten aufgetretenen Symptome „den gängigen Kenntnissen über die Wirkung von Nowitschok nicht entsprechen“. Dagegen sei von einem „eigentümlichen Giftcocktail“ auszugehen.
Hochgiftiger Stoff aus harmlosen Zutaten
Für den deutschen Experten ist es ein „Unding“, dass die britischen Behörden behaupten, sie wüssten nichts über die angeblich verwendeten Nervengifte – „denn die Synthese steht sogar im Internet“. Mirsajanow habe in den 1990er Jahren, als er in die USA ging, sein Wissen dort auf den Tisch gelegt. Katzung verwies auf die Anhörungen des sowjetischen Chemiewaffen-Experten durch den US-Senat: „Die wussten also ganz genau Bescheid, was Nowitschok ist. Ob sie es den Engländern nur nicht verraten haben, weiß ich nicht.“ Im britischen Chemiewaffen-Labor Porton Down säßen aber „keine Dummen“, wie er aus der Zusammenarbeit mit einem der Experten von dort in einem UN-Abrüstungsgremium erfahren habe.
Die Synthese, also Herstellung des Kampfstoffes lasse sich mit Hilfe der Veröffentlichungen nachvollziehen, hob Katzung hervor. Sie sei „mit relativ ungiftigen Verbindungen, die in der Düngemittelindustrie zum Beispiel gebraucht werden“, möglich. „Das war ein Grund, warum sich die Produktion in der Sowjetunion damals so gut verschleiern ließ.“ Das bestätigt ein Beitrag von „Spiegel online“ aus dem Jahr 2008 über die sowjetischen Chemiewaffen als „giftiges Erbe des Kalten Krieges“: „Das giftige Puder bestehe aus Inhaltsstoffen, die in jeder sowjetischen Düngemittelfabrik hergestellt werden könnten. ‚Inspektoren werden es schwer haben, dieses verdeckte Chemiewaffenprogramm zu entschlüsseln‘, warnte Myrsajanow.“
Was wissen die USA?
Katzung gab die Informationen über die entsprechende Produktionsanlage in Nukus südlich vom Aral-See im heutigen Usbekistan wieder. Die Anlage sei auf Bitten der usbekischen Regierung 1991 von den USA abgebaut worden – „ohne internationale Kontrolle“. Die USA könnten sich deshalb heute „schlecht dumm stellen“. Der Experte kommentierte das so: „Ich will hier nichts in den Raum stellen. Aber man muss einfach mal nachdenken: Wo sind Schwachstellen in der gegenwärtigen Berichterstattung, und wo muss man nachdenklich werden.“
Der Experte zitierte aus einem aktuellen Bericht des Online-Magazins „German Foreign Policy“: „Tatsächlich wurde schon 1995 in Russland ein Mord mit Nowitschok verübt: Ein Banker und seine Sekretärin wurden im Auftrag eines Geschäftspartners mit dem Gift umgebracht. Der Mörder hatte es bei einem Mitarbeiter des Instituts gekauft, das Nowitschok entwickelt hatte. Dies weist ins Milieu russischer Oligarchen, von denen viele, die mit der russischen Regierung im Streit liegen, nach London ausgewandert sind.“
Katzung zeigte Bilder von seinem Aufenthalt im geheimen Testgebiet Shichany und auch vom mobilen Chemiewaffen-Kontrolllabor, das er 2001 im Auftrag der Bundesregierung an die usbekische Regierung übergab. Er habe bei der Durchsicht der Fotos entdeckt, dass auf einem Bild auch die Nowitschok-Anlage zu sehen ist, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Auf Karten zeigte er die Lage der Orte und Anlagen, wo die Kampfstoffe hergestellt und getestet wurden.
Blick in die Geschichte
Ebenso machte Katzung auf die Aussagen des ehemaligen britischen Botschafters in Usbekistan, Craig Murray, aufmerksam, der inzwischen mehrfach auf die Ungereimtheiten im Fall Skripal und der Berichterstattung hingewiesen hat. Eine politische Einschätzung der Vorgänge sei nicht möglich, so Katzung. „Es fehlen einfach die Fakten“, stellte er fest, „die Briten geben nichts raus. Das Wenige, das man aus der Erfahrung oder aus Gesprächen mit Kollegen zusammensucht, fügt sich zu einem kleinen Bild: Es ist nicht ausgeschlossen, dass es Nowitschok war. Es kann auch ein anderer nervenschädigender Kampfstoff gewesen sein. Das wissen wir erst, wenn die OPCW-Kontrollgruppe, die jetzt dort ist, etwas veröffentlicht. Das muss man erstmal so hinnehmen.“
Der deutsche Experte verwies ferner auf Vermutungen in den USA Mitte der 1990er Jahre, dass das „Golfkriegs-Syndrom“ bei US-Soldaten und Verbündeten aus dem Krieg gegen den Irak 1991 von einem eingesetzten Nowitschok-Kampfstoff herrühren könnte. Er sei damals auch von deutschen Behörden nach entsprechenden Hinweisen befragt worden. Demnach begannen die sowjetischen Kampfstoff-Forschungen bereits in den 1920er Jahren – gemeinsam mit der deutschen Reichswehr und genau neben Shichany. Heute noch gebe es Reste der „Tomka“ genannten Anlage. Die gemeinsamen Erprobungen seien 1939 von den deutschen Faschisten, die den Überfall auf die Sowjetunion vorbereiteten, beendet worden. Doch das deutsche Wissen um die effektiven sowjetischen Chemiewaffen habe die Faschisten entgegen zahlreicher Befürchtungen ihrer Gegner davon abgehalten, selber solche Waffen einzusetzen, meinte Katzung.