Gabriel warnt vor Kriegsgefahr – Mut für bessere Beziehungen zu Russland notwendig

In einer Rede einen Tag nach seiner Amtsübergabe hat Ex-Außenminister Sigmar Gabriel sich von seinem Nachfolger abgesetzt. Er will rechtsstaatliches Vorgehen im Fall Skripal. Zugleich hat er erneut den schrittweisen Abbau der antirussischen Sanktionen gefordert. Für ihn ist es „unsinnig“, damit bis zur vollen Umsetzung von „Minsk II“ zu warten.

Auch im Fall des am 4. März in Großbritannien mutmaßlich vergifteten Ex-Agenten Sergej Skripal gilt die Unschuldsvermutung. An dieses rechtsstaatliche Prinzip – Verdächtige sind solange unschuldig, wie ihre mutmaßliche Tat nicht bewiesen ist – erinnerte am Donnerstag in Berlin Sigmar Gabriel. Der am Vortag ausgeschiedene Bundesaußenminister forderte zudem, Deutschland müsse eine „Stimme der Vernunft“ sein, und sprach sich erneut für den schrittweisen Abbau der antirussischen Sanktionen aus.

Das war ein deutlicher Unterschied zu seinem Amtsnachfolger Heiko Maas. Dieser, zuvor Justizminister, hatte gleich nach der Amtsübernahme am Mittwoch in den Chor der Verdächtigungen gegen Moskau wegen des Skripal-Falles eingestimmt. In seiner Antrittsrede im Auswärtigen Amt hat Maas am Mittwoch einen „harten Kurs“ gegenüber Russland angekündigt, wie gemeldet wurde.

Mut für gute Beziehungen notwendig

Gabriel sprach auf dem Festakt des Deutsch-Russischen Forums im Berliner Adlon-Hotel. Der jetzige einfache SPD-Bundestagsabgeordnete hielt sich dabei nicht an das vorbereitete Rede-Manuskript, wie er am Ende erklärte. Es sei Mut nötig, um sich gegenwärtig für gute deutsch-russische Beziehungen einzusetzen, stellte er fest und fügte hinzu: „An sich ist das ja schon ein schlimmer Befund. Man braucht schon Mut, sich dem entgegen zu stellen, was wir derzeit erleben.“ Beide Seiten würden sich nicht mehr als Freunde sehen und wahrnehmen, bedauerte der Ex-Minister. Die Tonlagen, in denen auf westlicher und russischer Seite übereinander geredet werde, seien wieder so, wie sie eigentlich als „längst überwunden“ galten.

Er sei 1980 als Jugendliche das erste Mal in das Land, in die damalige Sowjetunion, gereist, erinnerte sich Gabriel, zur Zeit der vom Westen boykottierten Olympiade in Moskau. Das sei auch eine angespannte Situation gewesen und zeige unter anderem: „Es hat offensichtlich in der jüngeren Geschichte Deutschlands und Russlands immer wieder Menschen gegeben, die trotz großer Schwierigkeiten an die Dauerhaftigkeit, die Friedfertigkeit und den Sinn eines guten deutsch-russischen Verhältnisses geglaubt haben und dafür eingetreten sind. Und auch immer wieder Erfolg damit hatten.“

Erinnerung an ein „großes Wunder“

Gabriel warnte vor der Gefahr, nur das Schwierige und Unlösbare sowie „das Aktuelle, das uns Sorge macht“, zu sehen. Deutsche und Russen hätten „schwierigere, ja katastrophalere Zeiten“ erlebt – „die Russen mit uns allemal“. Er sei beeindruckt gewesen, dass er bei seinem letzten Besuch in Sankt Petersburg im November 2017 am Denkmal für die Opfer der faschistischen Blockade Leningrads mit militärischen Ehren empfangen wurde. Es sei für ihn „unglaublich“ und ein „großes Wunder“ gewesen, an diesem Ort von einer russischen Militärkapelle die deutsche Nationalhymne zu hören. „Was für ein Entgegenkommen und was für ein Vertrauensbeweis der Russen uns gegenüber“, betonte der Außenminister a.D.

Trotz der schlimmen Erfahrungen mit den Deutschen habe es in Bevölkerung und Politik in Russland in den letzten Jahrzehnten ein großes Entgegenkommen gegeben, stellte Gabriel fest. Er verwies dabei auch auf die Rede von Präsident Wladimir Putin 2001 im Deutschen Bundestag. „Wir dachten, die Welt steht uns und beiden Völkern offen, nichts kann uns mehr trennen, nichts kann uns mehr aufhalten!“ Beide Seiten dürften sich in der aktuellen Situation nicht in „eine Spirale der aggressiven Rhetorik hineinreden“ lassen.

Alte Vorwürfe und erneuerte Vorschläge

Der Ex-Außenminister forderte in seiner Rede, nicht an den unterschiedlichen Sichten und Deutungen der Situation auf beiden Seiten festzuhalten. Dennoch wiederholte er selbst die westlichen Vorwürfe an Russland, es habe die gegenwärtige Entfremdung ausgelöst. Es habe als erstes Land nach der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975 in Helsinki gewaltsam Grenzen in Europa verändert. Als Widerspruch aus dem Publikum dazu aufkam, reagierte Gabriel unwirsch und geschichtsignorant: „Ich kenne keines, das mit militärischen Mitteln das als KSZE-Mitgliedsstaat getan hat.“

Russland habe gegen geltende Verträge verstoßen, legte Gabriel nach: „Das ist etwas, was zwischen uns steht und wofür wir bis heute keine Lösung haben.“ Zugleich forderte er, vorhandene Lösungsangebote nicht auszuschlagen. Dazu zählte er erneut Putins Vorschlag für einen Waffenstillstand mit UN-Blauhelmen in der Ostukraine. „Das Angebot muss doch von uns aufgegriffen und positiv beantwortet werden!“ Der Ex-Außenminister wiederholte seinen Vorschlag, bei einem Waffenstillstand im Gegenzug die antirussischen Sanktionen abzubauen. Es sei „völlig unsinnig“, damit zu warten, bis die Minsker Vereinbarungen vollständig umgesetzt seien.

Nichtakzeptable US-Position

Obwohl er aufforderte, bei den unterschiedlichen Interpretationen nicht stehen zu bleiben, warf er Moskau erneut vor, sich in Syrien auf Seiten des „Diktators“ Bashar al-Assad gestellt zu haben. „Das wird hier nicht verstanden“, fügte Gabriel hinzu und stellte danach klar: „Ohne Russland wird es keine Lösung des Syrien-Konfliktes geben.“ Die von Moskau  organisierten Treffen in Astana und Sotschi seien Schritte für ein Ende des Krieges, unter dem Dach der UNO, gewesen.

Der ehemalige Außenminister wandte sich gegen die innenpolitisch motivierte US-Haltung gegenüber Russland. Es sei „absolut nicht akzeptabel“, dass die USA fordern, die jahrzehntelange Energiepartnerschaft mit Russland zu beenden, „damit Deutschland und Europa teures amerikanisches Flüssiggas einkaufen können“.

Erinnerung an rechtsstaatliche Unschuldsvermutung

Den mutmaßlichen Mordanschlag auf den Ex-Agenten Skripal in Großbritannien bezeichnete Gabriel als „eine der schlimmsten Eskalationen der letzten Zeit“. Er erklärte: „Ich rate uns als Deutsche und Europäer dazu, in der Debatte sich nicht hineintreiben zu lassen in eine immer schriller werdende öffentliche Diskussion.“ Er erinnerte an die „relativ einfache, aber wirksame“ rechtsstaatliche Methode: „Jemand ist solange unschuldig, bis ein Gericht das Gegenteil bewiesen hat.“

Diese Unschuldsvermutung weise auch in dem Fall den Weg zur Lösung: Die zuständigen internationalen Organisationen und Gremien sollen den Vorfall untersuchen. Die politischen Schlüsse dürften erst nach der Untersuchung gezogen werden – „und nicht vorher“. Das könne helfen, die „Spirale gegenseitiger Verdächtigungen und seltsamer Erzählungen“ zu verhindern.

„Besondere Aufgabe Deutschlands“

Der Ex-Minister plädierte für eine „abgewogene deutsche Haltung“. Die sei notwendig, um die Kriegsgefahr infolge der Eskalation zu verhindern. Vor dieser warnte Gabriel nicht offen, aber verschlüsselt: Die deutsche Geschichte zeige, wie schnell nationale Sichten gegeneinander zu missbrauchen sind und welchen Preis die Menschen für solche Entwicklungen zahlen. „Und übrigens, weil wir wissen, dass die Konfrontation am Ende immer einen Austragungsort haben wird. Das ist der Boden der Bundesrepublik Deutschland und Europas.“

Die Stimme Deutschland in der Nato müsse „immer die Stimme der Vernunft“ sein, die sich gegen nationale und nationalistische Sichten und für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Dialog einsetze. Das sei die „besondere Aufgabe Deutschlands“ angesichts seiner Geschichte „mit Russland und vielen anderen Teilen der Welt“.