Breschnew: Aus Kriegserfahrung für den Frieden – Biographie erschienen

Kein Hardliner und kein Restalinisierer – so beschreibt die Historikerin Susanne Schattenberg den sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew. Sie hat die erste deutsche Biographie des ehemaligen KPdSU-Generalsekretärs veröffentlicht. Darin zeigt sie, wie Breschnew sich für Wohlstand in der Sowjetunion und Frieden in der Welt eingesetzt hat.

Leonid Breschnew war nach Jossif Stalin der Mann, der am längsten an der Spitze der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und des Landes stand. Er war von 1964 bis zu seinem Tod 1982 Parteichef. Dennoch wird heute über ihn weniger geredet als über Stalin, Nikita Chrustschow und Michail Gorbatschow. Die Bremer Osteuropa-Historikerin Susanne Schattenberg hat die erste wissenschaftliche Breschnew-Biografie vorgelegt und am Dienstag in Berlin vorgestellt. Dazu hatte die Linkspartei-nahe Berliner Stiftung „Helle Panke“ ins Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst eingeladen.

Prof. Susanne Schattenberg bei der Buchvorstellung

Auf 661 Seiten zeigt die Autorin, wie der sowjetische Parteichef als verhinderter Schauspieler sich als Staatsmann inszenierte. Schattenberg greift auf bisher nicht genutzte oder nicht zugängliche Akten in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken zurück. Sie beschreibt Breschnew als Politiker, der der Sowjetunion zu Stabilität verhalf, Frieden mit dem Westen wollte und mit dem Stalinschen Erbe brach – selbst als er gegen Vorgänger Chrustschow und Konkurrenten oder den damaligen DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht intrigierte.

„Wichtige Schlüsselfigur, um die Sowjetunion zu verstehen“

„Er ist der Parteiführer, der nach Stalin die Sowjetunion am längsten geprägt hat“, erklärte die Wissenschaftlerin gegenüber Sputnik nach der Veranstaltung. Über Breschnew gebe es bisher kaum eine Biografie, „die letzte deutsche von 1973, wo er noch neun Jahre lebte“. Schattenberg fügte hinzu:

„Er ist eine wichtige Schlüsselfigur, um die Sowjetunion zu verstehen, weil er erst das Regime und die Stabilität schuf, die dann aber bereits wieder unter ihm zusammenbrach und schwand. Eigentlich ist er der Dreh- und Angelpunkt, da wo die Sowjetunion für die Menschen normal und annehmbar wurde und gleichzeitig schon in den Ruin verfiel.“

Der Titel des Buches ist „Leonid Breschnew – Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins“. Den Schatten im Titel habe der Verlag gewollt, erklärte die Osteuropa-Historikerin bei der Buchvorstellung. Im Interview sagte sie, Breschnew sei eher Staatsmann und weniger Ideologe und Apparatschik gewesen. Der KPdSU-Chef habe versucht, sich als „rundum annehmbarer Gesprächspartner“ zu zeigen. Im Buch-Titel habe sie auf seinen Wunsch aus der Kindheit, Schauspieler zu werden, hingewiesen:

„Er hatte Schauspieltalent. Er war Laienschauspieler in den Zwanziger Jahren. Er liebte es, andere zu unterhalten, wenn er Gedichte auswendig aufsagte. Er nutzte das auch gegenüber seinen westlichen Gesprächspartnern, um sich als westlichen Staatsmann darzustellen.“

In der Biographie geht sie ausführlich auf Breschnews West- bzw. Entspannungspolitik ein, das Gegenstück zu Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr. An Letztere wird gegenwärtig angesichts des vereisten Verhältnisses des Westens gegenüber Russland immer wieder erinnert. Der KPdSU-Generalsekretär habe seine intensive außenpolitische Aktivität nach der sowjetischen Intervention in der CSSR 1968 begonnen.

„Tiefe Spuren des Krieges“

„Breschnew selbst hat keine Gelegenheit ausgelassen zu betonen, dass eine Bemühungen um Frieden, Entspannung und Abrüstung ganz aus seiner Erfahrung im Zweiten Weltkrieg erwuchsen“, schreibt Schattenberg.

„Wie bei Chruschtschow hatte das Grauen des Zweiten Weltkrieges bei ihm solch tiefe Spuren hinterlassen, dass er einen weiteren Krieg um jeden Preis verhindern wollte. Neben seinem ersten großen Ziel, der Bevölkerung einen besseren Lebensstandard zu sichern, war sein zweites großes Ziel, ihr die Angst vor einem neuen Krieg zu nehmen.“

Ohne Breschnew als „zentrale Figur“ hätte die bundesdeutsche Ostpolitik nach der Amtsübernahme von Brandt als Kanzler 1969 nicht funktioniert, zeigte sich Schattenberg im Interview sicher. „Viele seiner Berater und auch westliche Staatsmänner bestätigen, dass Breschnew der Offenste war, der tatsächlich am freundlichsten war und der am ehesten diesen West-Kurs tatsächlich getragen hat. Wobei man wissen muss, dass Andropow letztlich der Architekt dahinter war und ihm viele dieser Gedanken, den Draht zum Westen zu suchen und den Kanal mit Bonn und Washington einzurichten, eingepflanzt hat.“

Brandt bekam antisowjetische Witze zu hören

Im Buch gibt Schattenberg eine Erinnerung des US-Präsidenten Gerald Ford wieder, mit dem Breschnew 1974 im Auto durch Wladiwostok fuhr:

„Und dann geschah etwas sehr Seltsames. Breschnew ergriff meine linke Hand mit seiner rechten. Er begann mir zu erzählen, wie sehr sein Volk im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte. ‚Ich möchte das meinem Volk nicht noch einmal antun‘, sagte er.“

Ford habe dem KPdSU-Generalsekretär dessen Anspruch als „Friedensstifter“ abgenommen, ebenso wie der damalige französische Präsident Georges Pompidou. Der stellte laut Schattenberg fest: „Ich glaube aufrichtig, dass die Sowjetunion den Frieden will und dass sie ihn braucht.“ Breschnew hatte den 9. Mai, den „Tag des Sieges“, wieder als Feiertag eingeführt und ließ in der Sowjetunion die meisten der zahlreichen Weltkriegs-Denkmäler errichten.

Die Wissenschaftlerin gab in der von Historiker Wladislaw Hedeler moderierten Veranstaltung Buchpassagen wieder, in denen sie beschreibt, wie Breschnew den Kontakt zu Brandt aufbaute. Er habe dabei an der sowjetischen Regierung vorbei gehandelt. Bei einem Besuch des bundesdeutschen Kanzlers im September 1971 in Breschnews Datscha auf der Krim, habe der Parteichef auch antisowjetische Witze erzählt. Das war eines der Beispiele für dessen Verhalten, mit dem er versuchte, im Westen zu imponieren und zu gefallen. Mit der er aber immer wieder über das Ziel hinausschoss und diplomatische Regeln verletzte.

Im Buch erwähnt sie „legendäre Breschnew-Geschichten“, wie die, „dass er sich 1973 bei seinem Besuch in Westdeutschland als auch bei der USA-Visite sofort – und für die Umstehenden völlig unerwartet – selbst hinters Lenkrad der ihm gerade übergebenen Limousinen setzte und mit halsbrecherischerer Geschwindigkeit auf und davon brauste.“ Schattenberg vermutet als Botschaft Breschnews dabei: „Ich bin kein steifer Apparatschik, sondern ich teile eure Werte.“

Tablettensucht nach Fiasko der Entspannungspolitik

In der Biographie geht die Autorin auch auf offiziell verschwiegene Lebensabschnitte des 1906 im ukrainischen Kamenskoje geborenen Parteichefs ein. In seinen frühen Jahren habe er einen „Drang nach Bildung und Bürgerlichkeit“ anstatt des revolutionären Eifers anderer aus seinem Umfeld gezeigt. In den schwierigen Jahren nach der Revolution 1917 samt Hungersnot in der Ukraine hätten seine Familie und er selbst vor allem versucht, zu überleben. Erst als Student begann seine für die Sowjetunion typische Parteikarriere.

„Anders als im Westen lange behauptet, war Leonid Breschnew kein ‚Hardliner‘ oder ‚Restalinisierer‘“, so Schattenberg, „sondern hatte selbst unter Stalin gelitten und so viel Leid gesehen, dass er ‚Wohlstand für alle zur Generallinie der Partei erklärte.“ Doch als 1974 Frankreichs Präsident Pompidou starb und Brandt und Nixon erzwungenermaßen zurücktraten, habe sich der sowjetische Parteichef „vor dem Trümmerhaufen seiner Entspannungspolitik“ gesehen. Im Westen habe niemand geahnt, „im Kreml gab es keinen Kurswechsel. Stress und Schlaflosigkeit führten Breschnew in eine Tablettensucht, die sein Friedensbemühungen weiter ruinierte: Den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 entschied eine Politbüro-Troika ohne ihn.“ Auch dazu ist in der ausführlichen und lesenswerten Biographie mehr zu erfahren.

Susanne Schattenberg: „Leonid Breschnew – Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie“
Böhlau Verlag 2017; 661 Seiten;
ISBN 978-3-412-50209-6; 39 Euro