Buchpremiere: Wie Medien uns mit Breaking News regieren

Die Aufmerksamkeit ist das beherrschende Kriterium für die Medien geworden. Das stellt der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen fest. In seinem Buch „Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand – Wie uns die Medien regieren“ beschreibt er, wie das funktioniert: „Alles, was Klicks, Likes und Shares, Quote, Auflage bringt, ist angesagt.“

Im Interview mit Sputniknews erklärt der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen, wie uns die Medien regieren. Er ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Buch erscheint am 1. März.

Professor Meyen, Sie habe ein Buch über „Breaking News“ geschrieben, darüber, „wie uns die Medien regieren“. Wie regieren uns die Medien?

Auf ganz subtile Art und Weise, gar nicht über konkrete Inhalte, sondern über die Art, wie sie Realität konstruieren. Medien sorgen dafür, dass wir uns in einem permanenten Aufmerksamkeitsmodus befinden und begonnen haben, unseren Alltag, unser Arbeitsleben so auszurichten, als wenn all das jeden Tag in die Medien kommen müsste.

Ist das eine neue Entwicklung oder ist es nicht schon seit Jahrzehnten so, dass Journalisten quasi Realitäten erschaffen?

Journalisten haben immer Realitäten erschaffen. Neu ist, dass wir mittlerweile sehr viel stärker dafür sensibilisiert sind, dass sie Realitäten erschaffen, weil es heute alternative Realitäten gibt, vor allen Dingen in den sozialen Netzwerken. Was noch neu ist, ist, dass wir heute nicht mehr nur die traditionellen Massenmedien, also die Zeitungen und Fernsehen und Rundfunk haben. Wir haben im System sehr viel mehr Mitspieler, die um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren – soziale Medien, Internetangebote. Diese Mitspieler haben dazu geführt, dass die traditionellen Medien heute auf andere Art und Weise Realität konstruieren, als sie das noch vor 20 oder 30 Jahren gemacht haben. Sie berichten anders über Politik und Wirtschaft. Sie berichten zunächst mal weniger über Politik und Wirtschaft und dann völlig anders, indem sie weggehen von den Inhalten und hin zu dem, was wir jeden Tag erleben können, hin zu gehobenen Personen, zu Streit um Personen, zu Dingen, die so bisher noch nie da waren, zu Sensationen, zu Superlativen, zu all dem, was man eigentlich nicht bräuchte, wenn man sich zum Beispiel über das Programm einer Partei informieren wollte oder über das Programm einer neuen Koalition, die in Deutschland regieren will.

Ist das nicht eine Entwicklung, die mindestens seit 1990 läuft? Oder ist es nicht schon immer so, dass sich Journalisten nicht nur danach richten, was sie bringen wollen, sondern danach, was die Leute lesen, hören und sehen wollen?

Ich habe vor zehn Jahren ein Buch geschrieben: „Die Diktatur des Publikums“. Das ist mir um die Ohren gehauen worden, auch wegen des Titels. Da ist gesagt worden: Da merkt man, wo ich herkomme. Wenn man in einem Land gelebt hat, in dem es eine Diktatur des Proletariats gegeben hat, dann kommt man auf die Idee, dass es eine Diktatur des Publikums geben könnte.
Was vor zehn Jahren in Ansätzen da war, ist heute noch viel stärker geworden, eben durch die Konkurrenz, die wir vor allen Dingen im Bereich der sozialen Medien haben. Während man vielleicht vor 10, 20, 30 Jahren als Journalist immer noch das machen konnte, was man politisch selber für richtig gehalten hat, was man den Leuten aufdrücken wollte, Bildungsinhalte zum Beispiel. Das funktioniert heute nicht mehr, weil die Leute wegschalten, umblättern, was anderes anmachen – und sie können das. Insofern konkurrieren Medien heute stärker um die Gunst des Publikums als jemals zuvor. Sie konkurrieren vor allen Dingen miteinander und nicht nur mit Medien, die auch die Vorgaben erfüllen müssen, die zum  Beispiel der deutsche Presserat ans sie stellt oder Rundfunkstaatsverträge an sie stellen, sondern sie konkurrieren heute mit Mitspielern, denen all das völlig egal ist, die das liefern können, was uns als Nutzer am meisten interessiert. Das sind eben Konflikte zwischen Spitzenpersonal, das sind romantische Geschichten, überhaupt Geschichten und eben nicht anstrengende politische oder Bildungsinhalte.

Gibt es dafür konkrete prägnante Beispiele?

Wir haben Inhaltsanalysen gemacht. Ich habe versucht, Ereignisse zu vergleichen, die sich im Zeitverlauf nicht so sehr verändern. Ich habe bei dieser Studie gemerkt, dass es das eigentlich nicht gibt: Ereignisse, die sich nicht verändern. Selbst ein Sturm, der die gleiche Windstärke hat wie vor 30, 40 Jahren, der vielleicht die gleiche Anzahl an Opfern hat wie vor 30, 40 Jahren, selbst der ist heute völlig anders – weil selbst die Katastropheneinsatzleute wissen, dass Medien darüber berichten werden, sich darauf einstellen und deshalb auch den Sturm verändern. Was wir festgestellt haben, ist, dass diese Ereignisse in der Medienrealität, wie sie in den Medien wiedergegeben werden, vollkommen anders geworden sind. Nicht nur Stürme, sondern auch Fußballspiele, Parteitage von den Grünen zum Beispiel. Wir haben uns das angeschaut, vom ersten Parteitag der Grünen in Deutschland bis zum letzten, mittlerweile wird das wie ein Musical inszeniert, mit vorgegebenen Rollen, mit vorgegebenen Kleidungen, mit perfekten Arbeitsbedingungen für die Medien. Vor 30, 40 Jahren lief das alles eher ungeplant. Da konnte auch mal so ein Podium gestürmt werden. Dann haben die Meiden darüber berichtet, haben über die inhaltlichen Richtungskämpfe in der Partei berichtet, während sie heute das aufnehmen, was sich PR-Strategen vorher ausdenken für diesen Parteitag, was sie in den Medien am liebsten sehen wollen.

Was Sie beschreiben klingt danach, dass das Publikum bestimmt, was Medien bringen. Hat die Macht im Medienbetrieb auf die Seite der Zuschauer, der Zuhörer und der Leser gewechselt?

Vordergründig scheint das so zu sein. Ich sage, dass Medien um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Es wird das gebracht, was unsere Aufmerksamkeit anzieht. Wenn man das genauer anschaut, sieht man, dass mächtige Akteure bestimmen können, was die Medien bringen, weil sie verstanden haben, nach welcher Logik die Medien Realität konstruieren. Mit mächtigen Akteuren meine ich Akteure wie die Bundeswehr, die seit der Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland begonnen hat, ihre Etats für Öffentlichkeitsarbeit zu vervielfachen.
Es gibt in Berlin den Showroom der Bundeswehr am Bahnhof Friedrichstraße, wo ein gecasteter Mensch sitzt, der für die Bundeswehr begeistern soll. Man kennt die „Tage der offenen Tür“, die die Bundeswehr veranstaltet. Man kennt die sogenannten Jugend-Offiziere, die in Schulen oder sonstige Jugendeinrichtungen gehen und dort Werbung für die Bundeswehr machen. Wenn man sich anschaut, wie die Berichterstattung über deutsche Militäreinsätze, über das deutsche Militär überhaupt, sich in den letzten Jahren verändert hat, dann sieht man, dass die Bundeswehr sehr großen Einfluss darauf genommen hat, wie in den deutschen Medien Militär dargestellt wird.
Man kann das für andere Bereiche genauso durchziehen. Bei den vorhin erwähnten Parteitagen sind es Partei-PR-Strategen, die bestimmen, wie so ein Parteitag auf der Bühne stattfindet, weil sie wissen, wie Journalisten ticken, weil sie wissen, was Journalisten lesen und hören wollen und deshalb genau das liefern, wonach Journalisten suchen.

Warum machen Medien und Journalisten das mit?

Das hat zum einen sicher ökonomische Gründe. Wir haben viel gehört und gelesen über die Medienkrise, über die Ausdünnung von Personal in den Medien. Wenn man hinter die vorgefertigten Fassaden blicken will, die einem die Bundeswehr oder die Parteien oder die Bundesregierung liefern, bräuchte man mehr Personal, um dieses durchschauen zu können. Allein das Bundespresseamt beschäftigt über 400 teuer bezahlte Mitarbeiter, die jeden Tag Material produzieren. Die größte deutsche Politikredaktion hat 30 Mitarbeiter und gar keine Chance, dagegen anzukommen.
Man bräuchte vor allen Dingen ein Bewusstsein, dass man von PR-Strategen manipuliert wird. Das ist ein Ziel dieses Buches, dieses Bewusstsein in Unternehmen, in Parteien, aber auch in unserem ganz normalen Alltag zu schaffen und uns in unserem alltäglichen Leben immer fragen zu lassen: Warum tun wir eigentlich das, was wir tun? Ist es das, was wir tun wollen, oder ist es das, was wir tun, damit wir in den Medien positiv rüberkommen?

Wenn das für Journalisten so schwierig ist, dem zu widerstehen, welche Chancen haben dann Mediennutzer dem konstruktiv zu widerstehen und nicht einfach nur auf die „Lügenpresse“ zu schimpfen?

Die „Lügenpresse“ ist eine andere Debatte. Da geht es um einseitige Berichterstattung, um das Auslassen von wichtigen Dingen. Da geht es um die westliche Perspektive, die viele Menschen nervt, vor allem mit Blick auf die journalistischen Qualitätskriterien wie Objektivität und Neutralität. Ich glaube, wir als Mediennutzer sollten uns in einem ersten Schritt fragen: Was erwarten wir denn von den Medien? Und im zweiten Schritt dann fragen: Was soll das kosten? Bei den kommerziellen Medieneinrichtungen, die ganz zwangsläufig auf Publikumsmaximierung und damit auf Aufmerksamkeitsmaximierung aus sind, werden wir sicherlich wenig tun können. Wir müssen eine gesellschaftliche Debatte anstoßen über die Gestaltung unseres Mediensystems. Wir müssen dabei über Stiftungsmodelle nachdenken, müssen vielleicht auch über die Ausweitung von öffentlich-rechtlichen Modellen jenseits von TV und Hörfunk nachdenken, oder über steuerfinanzierte oder spendenfinanzierte Medien. Wenn wir ein Bewusstsein dafür haben, was uns da auch jenseits konkreter Angebote in der generellen Konstruktionslogik von Medien angeboten wird, dann werden wir anfangen, uns nach Alternativen umzusehen und diese auch aktiv gestalten wollen.

Michael Meyen: „Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand – Wie uns die Medien regieren“ 2018
Westend Verlag; Klappenbroschur, 208 Seiten; 18 Euro; ISBN 9783864892066