„Armut grenzt aus, Armut tut weh!“ – Seit Jahren fast drei Millionen Kinder betroffen

Trotz positiver Wirtschaftsentwicklung sind in Deutschland weiter Millionen Kinder von Armut betroffen und bedroht. Auf diesen Zustand hat in Berlin erneut eine Veranstaltung aufmerksam gemacht. Selbst Bundesfamilienministerin Katarina Barley findet das „unakzeptabel“. Doch die Politik macht zu wenig gegen Kinderarmut, so die Kritik.

Wer hat, dem wird gegeben – das sagt ein altes Sprichwort. Die grüne Bundestagsabgeordnete Katja Dörner hat es am Dienstag in Berlin auf einer Veranstaltung zum Thema Kinderarmut bestätigt. Als es darum ging, dass gesetzliche Leistungen für Familien und Kinder wie der Kinderzuschlag jene überfordern, die anspruchsberechtigt sind, berichtete sie: „Für mich als Bundestagsabgeordnete mit einer hohen Abgeordnetendiät macht das alles das Finanzamt. Ich profitiere überproportional über die steuerliche Erleichterung von der staatlichen Unterstützung für Familien. Ich muss mich überhaupt nicht darum kümmern.“

Dagegen müssten Familien, die Anspruch auf solche Leistungen habe, mehrseitige komplizierte Antragsformulare ausfüllen. Dörner forderte deshalb: „Diese Art von Umgang müssen wir eigentlich beenden.“ Doch das werde auch nicht von der neuen Großen Koalition (GroKo) in Angriff genommen, bemängelte sie. Ihr Vorschlag: Leistungen wie der Kinderzuschlag, den bisher nur etwa 30 Prozent der Anspruchsberechtigten erhalten, soll an diese automatisch ausgezahlt werden.

„Soziale Gerechtigkeit fängt bei den Kleinsten an“

Das war eines der Beispiele, die bei einer Diskussionsrunde am Dienstag, dem internationalen „Tag der sozialen Gerechtigkeit“ zum Thema Kinderarmut in Deutschland zeigten, warum das Selbstlob der Regierenden dabei fehl am Platz ist. Dazu hatte die Organisation „SOS Kinderdorf“ in die neue „Botschaft für Kinder“ in Berlin eingeladen. Die Überschrift „Reiches Land, arme Kinder – ist das gerecht?“ war dabei nur rhetorisch gemeint, wie unter anderem Kay Vorwerk, Vorstandsvorsitzender der Organisation, betonte.

„Soziale Gerechtigkeit fängt bei den Kleinsten an“, stellte Vorwerk klar, denn gerade die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft leiden unter Ungerechtigkeit und sozialen Härten.“ Er fügte hinzu:

„Armut grenzt aus, Armut tut weh! Armut hat viele Gesichter und zeigt sich nicht nur durch den Mangel an materiellen Dingen! Es bedeutet zusätzlich, dass die Gesundheit leidet und den Jüngsten in der Gesellschaft der Zugang zu Freizeitaktivitäten und Bildung verwehrt bleibt.“

„Formale Rechte reichen nicht“

Das trifft 20 Prozent der Kinder, rund 2,8 Millionen, in der Bundesrepublik – und das unverändert seit 2005. Darauf machte in der Veranstaltung die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger aufmerksam. Sie und andere machten auf den Widerspruch dieser Situation zu den aktuellen positiven Wirtschaftsmeldungen aufmerksam. Das einzig Gute sei heute, dass inzwischen mehr über Kinderarmut geredet werde, so die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Es komme aber darauf an, nicht nur darüber zu reden, sondern auch „entschlossen etwas zu tun“.

Das vermisse sie seit Jahren bei der Politik, betonte die renommierte Wissenschaftlerin. Es habe sich bisher nichts verändert. Und: Die betroffenen Kinder hätten zwar ein „formales Recht, ein formales Menschenrecht, aber sie können dieses Recht nicht leben“. Sie hätten dazu nicht die notwendigen gleichen Startchancen wie ihre bessergestellten Altersgenossen. Die Rechte der Kinder würden nicht umgesetzt.

Widerspruch zu Politikersprüchen

Allmendinger erinnerte daran, dass Armut sozial vererbt wird. Kinderarmut sei immer die Armut der Familien und Eltern. „Es kommen relativ wenige Kinder aus solchen Elternhäusern aus dieser Armut heraus.“ Das sei in den letzten Jahren noch deutlicher geworden. Die Wissenschaftlerin empörte sich über jene Politiker, die trotz der harten Fakten immer wieder erzählen: „Ich komme aus einem armen Elternhaus ohne jede Bildung und habe es trotzdem geschafft.“ Das klinge wie die Aufforderung: „Seid doch nur mal fleißig, dann schafft Ihr das!“ Damit werden den Eltern Faulheit vorgeworfen, dass sie nicht arbeiten wollen. Sie würden stattdessen nicht genügend Unterstützung bekommen, setzte die WZB-Präsidentin dagegen.

Sie verwies auf die jüngste Studie der Bertelsmann-Stiftung, die gezeigt hat, dass Kinder für immer mehr Familien in Deutschland ein Armutsrisiko sind. Das wurde in der Veranstaltung von Stiftungsmitarbeiterin Annette Stein noch einmal bestätigt. Sie verwies auf die „verdeckte Armut“, auf jene Betroffenen, die in keiner Statistik auftauchen, weil sie ihre Lage nicht offen eingestehen.

„Völlig absurde Situation“

Die Situation sei „weder akzeptabel noch gerecht“, stimmte zuvor Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) den kritischen Einschätzungen zu.

„Alle Kinder haben das Recht darauf, gut aufzuwachsen und die besten Chancen zu bekommen, unabhängig von ihrer Herkunft und dem Einkommen ihrer Eltern. Unsere Aufgabe als Politik ist es, dafür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.“

Es werde nur diskutiert, wie Kinderarmut bekämpft wird, nicht ob. Barley meinte, ohne die bisherigen politischen Maßnahmen wären doppelt so viele Kinder chancenlos.

Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD)

Sie sprach sich dafür aus, die Antragsverfahren für Leistungen für Familien und Kinder zu vereinfachen. Das stehe auch im neuen Koalitionsvertrag von Union und SPD. Es sei „völlig absurd“, dass Sozialleilleistungen gegeneinander verrechnet würden, so dass die anspruchsberechtigten Familien am Ende weniger hätten als vorher. So wird zum Beispiel das Kindergeld bei Hartz-IV-Leistungsbeziehern – zu denen oft Alleinerziehende gehören – angerechnet. Das muss aus Sicht der Ministerin geändert werden.

Gute Arbeit und gute Löhne helfen auch gegen Kinderarmut

Dieser Zustand wurde auch von der Grünen-Politikerin Dörner kritisiert. Barley betonte, dass die Eltern Arbeit bräuchten mit guten Löhnen, zugleich mit Arbeitszeiten, die ihnen ermögliche, für ihre Kinder da zu sein. Das unterstützte die Sozialforscherin Allmendinger. Beide wiesen wie Dörner und Marcus Weinberg, familienpolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, daraufhin, dass Betreuungsangebote für Kinder ausgebaut werden müssen, auch im Schulbereich.

Der CDU-Politiker betonte, dass Armut nicht nur eine materielle Frage sei, sondern auch eine kulturelle und Bildungsfrage. Zugleich machte er sich insbesondere Sorgen um den Mittelstand, der zunehmend verloren gehe und den die neue GroKo auch bei den Kindern entlasten wolle.

„Menschen zeigen, dass sie gebraucht werden“

Wie wichtig Angebote der Unterstützung und Betreuung für von Armut betroffene und bedrohte Menschen sind, zeigte in der Veranstaltung Sabine Genther. Sie leitet das SOS-Mütterzentrum in Salzgitter. Bei ihrer Arbeit begegne ihr die Armut und deren Folgen täglich. Vor allem an den Augen der Kinder sei sie erkennbar, an deren großer Bedürftigkeit nach Zuwendung.

Genther sprach sich dafür aus, die Eltern und die Kinder nicht als Hilfsbedürftige zu behandeln. Das mache sie nur kleiner. Sie müssten Räume bekommen, sich selber zu entwickeln, und dabei unterstützt werden. Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass sie gebraucht werden. „Das müssen sie wieder erfahren, dass sie etwas können und gebraucht werden.“ Die engagierte Frau forderte, die Gemeinschaft wieder mehr zu fördern. „Wir müssen in der Gesellschaft wieder mehr Solidarität fördern“, anstatt die Kinder zu „kleinen Ich-AGs“ zu erziehen, so Genther.