Der Westen wird seinen möglichen Machtverlust durch eine multipolare Weltordnung nicht ohne Widerstand hinnehmen. Davor hat der Bundestagsabgeordnete Alexander Neu in einer russisch-deutschen Video-Konferenz gewarnt. Diese hat die Münchner Sicherheitskonferenz 2018 ausgewertet. Es droht kein großer Weltkrieg, meint der Politologe Lutz Kleinwächter.
Die Münchner Sicherheitskonferenz (MSK) am vergangenen Wochenende hat offenbart, worum es der westlichen Politik geht. So schätzte Alexander Neu, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, am Montag die hochrangige Veranstaltung ein, an der er selbst teilgenommen hat. Deshalb sei diese für ihn „sehr spannend gewesen“, während Journalisten die MSK als langweilig einschätzten, weil kaum offen ausgetragene dramatische Konflikte zu melden waren.
Aus geopolitischer und machtpolitischer Perspektive habe die Konferenz viel über deutsche Politik deutlich werden lassen, sagte Neu bei einer Video-Konferenz Moskau-Berlin mit deutschen und russischen Politologen. Zu dieser hatte Rossija Sewodnja eingeladen. Der Linken-Politiker verwies dabei auf den Beitrag von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel in der Ausgabe der für die MSK herausgegebenen Zeitung „Security Times“. Darin sei erstmal von deutscher Seite eingeräumt worden: „Die multipolare Weltordnung ist da, so Gabriel. Die Frage sei nur, welche Rolle die Europäische Union darin einnehmen könne.“
„Vokabular wie vor dem 1. Weltkrieg“
Der Außenminister hatte in München erklärt: „Als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“ Damit begründete er die Forderung, die er und andere auf der MSK wiederholten, die EU müsse militärisch aktiv werden. Für Neu ist das nicht nur die Aufforderung, „auch ein Fleischfresser werden zu müssen, um nicht unterzugehen“:
„Das ist ein Vokabular, das doch an die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert, als es darum ging, einen ‚Platz an der Sonne‘ zu haben, seinerzeit vom deutschen Kaiserreich auch so formuliert.“
Aus Sicht des Linken-Politikers gibt es derzeit eine Umbruchphase von der unipolaren Weltordnung zu einer multipolaren. Das bemerke der Westen aber erst seit kurzem. Dieser verneine aber Folgendes: „Die aufstrebenden Mächte fordern ihren Platz. Sie fordern Augenhöhe. Sie fordern, dass sie mit ihren Interessen respektiert werden.“ Die westliche Reaktion sei Aufrüstung und Abschreckung, um einen Machtverlust zu verhindern, wie sich in München gezeigt habe. Das ergibt laut Neu eine „sehr gefährliche und konfliktträchtige“ Zwischenphase. „Ich habe den Eindruck, dass im Westen eine hohe Bereitschaft besteht, diesen Kampf aufzunehmen, wenn es sein muss, auch mit militärischen Mitteln.“
„Keiner will Krieg“
Die Konferenz in München habe kein konstruktives Klima gehabt, bedauerte er. „Egal, was von den USA oder den Transatlantikern dort formuliert wurde“, es habe hohen Applaus bekommen. „Die russische oder die chinesische oder die iranische Delegation haben dort natürlich keine Chance, ernstgenommen zu werden mit ihren Positionen.“ Die westliche Sichtweise sei als „einzig gültige“ verkauft worden – „als die einzig sinnvolle und vernünftige“.
„Alle anderen Sichtweisen und Interessen gelten als unvernünftig und irrational und sollten sich unterordnen.“
Es sei in diesem Jahr deutlich geworden, dass der Westen „nicht im Traum daran denkt, Machtpolitik mit anderen auf Augenhöhe zu betreiben“.
Eine multipolare Welt bilde sich erst in einem längeren Prozess heraus, erklärte der Politologe Lutz Kleinwächter von der Zeitschrift „WeltTrends“ bei der Videokonferenz. Er widersprach dabei Befürchtungen, dass die Gefahr eines Krieges mit Atomwaffen zwischen den Großmächten zunehmende. Davor wurde auch auf der Münchner Konferenz mehrfach gewarnt. „Keiner möchte das und es wird auch nicht passieren“, so Kleinwächter.
„Dort funktioniert diese sehr problematische Abschreckungsphilosophie, auch wenn sie nicht zu befürworten ist.“
„Wir sind nicht bedroht“
Allerdings gebe es eine Ausweitung der Kriege durch die „katastrophalen Konflikte an der Peripherie“, die aber „keine Existenzbedrohung für die Kernzivilisationen, die großen Zivilisationen“ seien.
„Das ist aber keine Kriegsgefahr für die USA oder für Russland oder für China oder für Europa. Wir sind nicht bedroht und wir bedrohen uns auch gegenseitig nicht unmittelbar mit einem Krieg.“
Das klang aber in München zum Teil anders, wie selbst Teilnehmer bemerkten. Auch Neu zeigte sich damit nicht ganz einverstanden.
Für Kleinwächter ist die ökonomische Auseinandersetzung wichtiger als die militärische. „Wir sollten uns nicht in einen Krieg hineinreden“, entgegnete er auf den Hinweis von Neu, die westliche Rhetorik werde immer militärischer. Europa besinne sich neu und löse sich teilweise von den USA, so Kleinwächter. Deutschland und Frankreich müssten eine größere Rolle spielen. Er hoffe auch darauf, dass sich Berlin und Paris dafür einsetzen, sich gegenüber Osteuropa und Russland wieder zu öffnen.
„Geschichtlich absurde Konfrontation“
Der gegenwärtige krisenhafte Zustand der deutsch-russischen und europäisch-russischen Beziehungen wirke mit Blick auf die Geschichte der letzten 900 Jahre „absurd“, stellte der Politologe fest:
„Wir waren immer existenziell verbunden – Rohstoffe gegen Technologie, enge Zusammenarbeit. Es ist widersinnig, uns in eine Abspaltung hineinzubewegen.“
In dem „neuen Spiel“ käme China mit seinem neuen Seidenstraßen-Projekt hinzu, um gemeinsam Eurasien zu gestalten.
Andrej Sidorow von der Moskauer Lomonossow-Universität erinnerte in der Video-Konferenz daran, dass die USA seit Jahrzehnten alles unternehmen, um einen Zusammenschluss der Mächte auf dem eurasischen Kontinent zu verhindern. Dass sich daran nichts geändert hat, zeigte sich auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Diese sei „sinnlos und zwecklos“, meinte der Moskauer Politologe.
„Westen gibt nicht wie einst UdSSR Positionen ohne Widerstand auf“
Kleinwächter ist sicher, dass sich die multipolare Welt entwickeln werde, wenn auch mit großen Konflikten und einem ökonomischen Krieg.
„Ich schließe aber aus, dass es zu einem großen Weltkrieg kommt.“
Linken-Politiker Neu war skeptisch, ob der Westen den erwarteten Machtverlust durch eine multipolare Weltordnung ohne Widerstand hinnimmt – „wie einst die UdSSR sang und klanglos zerfallen ist, ohne größeren Widerstand“. Davon zeugen aus seiner Sicht die neuen westlichen Aufrüstungsprogramme, die in München mehrfach Thema waren.
Alexander Rahr, Politologe und Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums, bezeichnete es in der Runde als entscheidend, wie es gelingt, in regionalen Konflikten zusammenzuarbeiten. Die unterschiedlichen Sichten auf eine Lösung des Konfliktes in der Ostukraine zeigten beispielhaft, „dass wir noch lange davon entfernt sind, uns gegenseitig ernst zu nehmen und eine Balance herzustellen.
Nur dann, wenn wir uns gegenseitig verstehen und auf gemeinsame Lösungen aus sind, dann können wir von einem friedlichen Übergang in eine multipolare Welt sprechen.“
Iwan Timofejew, Programm-Direktor des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten, erinnerte die Teilnehmer der Video-Konferenz unter anderem daran, dass eine neue Weltordnung immer durch Konflikte entstanden sei und entstehe.