Wenn russische Truppen die Ostflanke der Nato überraschend angreifen, hat diese angeblich keine Chance. So machen deutsche Medien und der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK), Wolfgang Ischinger, Stimmung. „Alles nicht so gemeint“, sagt er dazu auf Nachfrage. Er beklagt den neuen Rüstungswettlauf – ohne Blick auf die westliche Rolle dabei.
Das Verhältnis zu Russland und die vermeintliche neue „russische Gefahr“ werden zu den Themen der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK) vom 16. bis 18. Februar gehören. Das kündigte der MSK-Vorsitzende Wolfgang Ischinger am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Berlin an. Bei der nun schon 54. Konferenz werde wie in den letzten Jahren auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow zugegen sein.
Ischinger machte unter anderem auf einen Vergleich der militärischen Stärke der russischen Truppen im Westen des Landes und der Nato-Truppen an Russlands Grenze aufmerksam. Der Vergleich findet sich im „Munich Security Report 2018“ (MSC-Report 2018), den Ischinger vorstellte. Er basiere auf einer Analyse der konservativen US-Denkfabrik Rand-Corporation.
Russische Bedrohung herbeigeschrieben
Diese Analyse wurde am selben Tag von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) unter dem Titel „In dramatischer Unterzahl“ veröffentlicht. Ausgangspunkt sei der „Fall einer überraschenden russischen Operation, die vom westlichen Militärdistrikt aus vorgetragen wird“. Die in Polen und den baltischen Staaten seit 2014 stationierten Nato-Bataillone und die in Polen bereitstehende US-Brigade wären mit 32.000 Soldaten gegenüber 78.000 aus Russland deutlich unterlegen, so die FAZ. Das gelte auch für die Waffensysteme – bis auf die Zahl der einsatzfähigen Kampfflugzeuge.
Ischinger nannte die Zahlen „bedenklich“. Auf die Frage von Sputnik, wie realistisch er denn einen solchen russischen Angriff auf die Nato-Ostflanke einschätze, wich der MSK-Chef aus. Es gehe um die Kräfteverhältnisse bei einem möglichen Konflikt, nicht darum, „dass hier irgendjemand morgen früh gegen irgendjemand einen Angriff startet“. Es seien aber „besorgniserregende“ Zahlen: „Hier sind Ungleichgewichte entstanden, die Instabilitäten nicht verhindern können, sondern im Falle eines Konfliktes Instabilitäten eher verstärken würden.“ Deshalb sei wieder mehr Rüstungskontrolle notwendig, so der Ex-Diplomat.
Statistische Tricks und ausgelassene Fragen
Der Nato-Aufmarsch an der Westgrenze Russlands wird unter anderem mit der Angst der baltischen Staaten vor Moskau seit der angebliche Annexion der Krim 2014 begründet. Ischinger sieht einen Grund für die ausgemachten militärischen Ungleichgewichte darin, „dass Europa massiv abgerüstet hat in den letzten längeren Jahren, Russland aber durchaus aufgerüstet hat“.
Den Vorwurf illustriert eine Grafik im MSC-Report, nach der die russischen Rüstungsausgaben seit 2007 auf fast 200 Prozent gestiegen sein sollen, während die Ausgaben Deutschlands, Frankreichs, der USA, Großbritanniens und Italiens sich um das alte Niveau bewegten. Mit diesem statistischen Trick wird suggeriert, dass Russland mehr rüste als die westlichen Staaten. Nicht gezeigt wird, dass die russischen Ausgaben für 2016 mit 69,2 Milliarden Dollar nur etwas über zehn Prozent der US-Ausgaben von 611 Milliarden Dollar ausmachen.
Die Frage, warum Russland seine Militärtechnik nach einer langen Pause wieder modernisiert, ließ Ischinger aus. Ebenso, warum Präsident Wladimir Putin vor knapp einem Jahr ankündigte, Moskau werde die Militärausgaben deutlich kürzen. Dafür warf der bundesdeutsche Ex-Botschafter in den USA sowohl Russland als auch China vor, das Völkerrecht nicht mehr beachten zu wollen. Auch deshalb gebe es keine internationale Ordnung mehr, „die von allen respektiert wird“.
Bei seiner Kritik schloss Ischinger immerhin die USA und deren Invasion im Irak 2003 ein. Er ließ aber jüngere westliche Völkerrechtsverstöße wie im Fall des Kosovo oder des Kriegs gegen Libyen 2011 ungenannt. Er beklagte einen zunehmenden Rüstungswettlauf, für den er auch China verantwortlich machte.
„Zunehmende ‚Verbiesterung‘ in Moskau nicht ernst genommen“
Der Westen habe Putins Warnungen auf der MSK 2007 und die Angebote des damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew vom Juni 2008, die Pariser Charta zu einem neuen euro-atlantischen Sicherheitsvertrag weiterzuentwickeln, nicht ernstgenommen. Das sagte der frühere WDR-Journalist Thomas Nehls am selben Tag bei der MSK-Auftaktveranstaltung in Berlin.
Nehls wollte von Ischinger wissen, ob die europäische Sicherheitslage besser wäre, wenn Politik und Medien des Westens nicht so ignorant gewesen wären. Der MSK-Chef meinte dazu, das sei eine hypothetische Frage zur Vergangenheit. Er gab dennoch eine Antwort: „Der gesamte Westen hat vor zehn, zwölf Jahren die zunehmende ‚Verbiesterung‘ in Moskau nicht ernst genug genommen.“ Und: „In der Tat wären wir heute woanders, wenn man damals mit größerer Intensität versucht hätte, ins Gespräch zu kommen.“ Er habe 2017 erfolglos versucht, Putin nach München zu bekommen, um Bilanz zu ziehen.
Bei der Auftaktveranstaltung zur MSK nach der Pressekonferenz in Berlin ging es vor allem um die Rolle der EU als globaler Akteur, und was aus dem Koalitionsvertrag der möglichen neuen großen Koalition folgt. Auch darüber soll in München diskutiert werden – neben Themen wie der Rolle Chinas und der USA, der nuklearen Abrüstung und den Gefährdungen der internationalen Sicherheit zum Beispiel durch die Migration.
Hochkarätige Konferenz in München
Zu den mehr als 500 Teilnehmern der 54. Auflage der renommierten Konferenz werden laut Ischinger allein 21 Staats- und Regierungschefs gehören, darunter der Emir von Katar, der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim, Israels Premier Benjamin Netanjahu und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres werde dabei sein, ebenso Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Von den Außenministern kommen neben Lawrow dessen Kollegen aus Deutschland, Frankreich, der Ukraine und zahlreichen anderen Ländern nach München. US-Verteidigungsminister James Mattis reise ebenfalls an, mitsamt Sicherheitsberater Herbert McMaster und US-Abgeordneten aus Senat und Repräsentantenhaus. Auch eine Reihe russischer Politiker und Diplomaten sei angekündigt.
Ischinger hat zudem nicht nur zahlreiche Unternehmensvertreter eingeladen, sondern ebenso Nichtregierungsorganisationen wie „Medicins Sans Frontieres“ (MSF), das Internationale Rote Kreuz, das mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnete Antiatomwaffen-Bündnis ICAN, Human Rights Watch und Amnesty International. Es gehe bei diesem Spektrum an Eingeladenen darum, auch kritische Stimmen in die Debatte um die globale Sicherheit einzubeziehen.