„Pure Heuchelei“ – Historiker kritisiert „künstlichen Mauer-Gedenktag“

Die Öffnung der Berliner Mauer vor mehr als 28 Jahren ist nicht überraschend gekommen, sagt der Historiker Stefan Bollinger. Nur der konkrete Zeitpunkt hat überrascht. Die DDR-Führung hat damals aus seiner Sicht übersehen, dass sich der Grund für den Mauerbau verändert hat. Die Unterschiede zwischen Ost und West bleiben auch ohne Mauer, so der Historiker.

Der Fall der Berliner Mauer sei nicht überraschend gekommen. Nur der konkrete Zeitpunkt und die Art und Weise sei überraschend gewesen, infolge der Pressekonferenz des hohen SED-Funktionärs Günter Schabowski am 9. November 1989. Das erklärte der Historiker Stefan Bollinger am Montag gegenüber Sputnik. An dem Tag war die Mauer ebenso lang nicht mehr trennend, wie sie von 1961 bis 1989 Berlin teilte.

Bollinger erinnert daran, dass DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker noch Anfang 1989 verkündete, solange die Gründe für den Bau der Mauer nicht beseitigt seien, werde sie „noch 50 oder 100 Jahre stehen“. Das sei eine „typische Fehleinschätzung“ gewesen. Honecker habe die veränderten Gründe übersehen, „weil sich die Bedingungen verändert hatten“.

Dazu habe die internationale Entwicklung mit der friedlichen Koexistenz der beiden Blöcke in Ost und West und auch der beiden deutschen Staaten gehört, was 1961 nicht der Fall gewesen sei. Damals habe die Frage des Untergangs der DDR und auch eines Krieges zwischen Ost und West akut gestanden. Hinzu sei die tiefe Krise des Realsozialismus in den 1980er Jahren gekommen, „aus der er aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage war, herauszukommen“, so der Historiker.

„Die Menschen erwarteten mehr Konsummöglichkeiten und zugleich mehr demokratische Öffnungen.“

Bundesrepublik war vorab informiert

Die Perestroika in der Sowjetunion schien dafür einen Weg anzubieten, „der aber offenbar nicht ausgearbeitet war“. Zudem habe die DDR-Führung festgestellt, dass das nicht mit ihr abgestimmt war, übersah aber, was diese Entwicklung bedeutete.

„Insofern war es nicht überraschend, dass es 1989 zu solch einer Krise kommt, in der dann die Öffnung der Mauer eine Option sein konnte, um bestimmte Zuspitzungen zu entschärfen.“

Davon hätten unter anderem die vor dem 9. November begonnenen Arbeiten an dem DDR-Reisegesetz gezeugt, sagte Bollinger.

Die Bundesrepublik sei zwei Tage zuvor über die Möglichkeit einer solchen Entscheidung durch Alexander Schalck-Golodkowski inoffiziell informiert worden. Laut dem Historiker war damals Wolfgang Schäuble der entsprechende Ansprechpartner in Bonn. Allerdings hätten niemand die Tragweite der Umsetzung erkannt.

„Künstliche Erfindung“ und „pure Heuchelei“

Es handele sich bei dem Rummel um diesen Tag und das „Mauer-Gedenken“ um eine „künstliche Erfindung“ und „pure Heuchelei“, sagte Bollinger.

„Man hat sich diesen Gedenktag augenscheinlich in dem Bedürfnis konstruiert, mehr Aufmerksamkeit den Ostdeutschen zuzuwenden, die sich derzeit wie in den letzten 28 Jahren nicht ganz konform mit den politischen Erwartungen in der Alt-Bundesrepublik verhalten. Am Anfang haben sie zu viel PDS gewählt. Jetzt wählen sie zu viel AfD. Man steht vor einem Rätsel und weiß nicht so richtig, was da passiert.“

Die historischen Fakten würden in der Diskussion „eine relativ geringe Rolle“ spielen. Es ginge darum, „noch einmal deutlich zu zeigen: Wir haben in dieser Auseinandersetzung mit der DDR gewonnen und alle haben jetzt die Chance, von den tollen Vorzügen der alten Bundesrepublik mit zu profitieren.“

Dabei werde übersehen, betonte der Historiker, dass sich besonders in Ostdeutschland weiter die ungelösten Fragen der alten und der wiedervereinigten Bundesrepublik zeigen:

„Die sozialen Unterschiede, die Einkommensunterschiede, die für viele ehemalige DDR-Bürger ein Problem sind, zusammen mit den Brüchen in ihrer Biografie und der Erfahrung, dass sie offenbar, auch wenn es ihnen materiell nicht so schlecht geht, die Verlierer dieser Einheit sind.“

Bollinger glaubt nicht, dass die Unterschiede zwischen Ost und West in absehbarer Zeit verschwinden. Das habe nicht nur damit zu tun, dass es keine Vereinigung „auf gleicher Augenhöhe“ war.

Solche Brüche würden lange wirken, wie in anderen Regionen wie Katalonien in Spanien oder Quebec in Kanada erkennbar sei, wo die Vereinigungen mehr als 100 Jahre zurückliegen. „Manches wird sich nicht verändern.“ Ostdeutschland sei nicht nur ein Refugium für eine inzwischen gesündere Natur, sondern auch ein Gebiet, indem vor allem Ältere leben und die Jüngeren selten zurückkehren, nachdem sie vor allem wegen Ausbildung und Arbeit wegzogen. Aber die jüngeren Ostdeutschen hätten weiterhin einen Nachteil:

„Sie sind nicht in den Netzwerken und sozialen Verbindungen, die ihre westdeutschen Altersgenossen haben. Ihre Eltern sind in der Regel nicht die Besitzer von großen Vermögen und Unternehmen. Das ist die Ausnahme.“

Das sorge weiter mit für die bleibenden Unterschiede.