Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion doch erfolgreich?

In Folge ihrer riesigen Verluste durch den faschistischen Vernichtungskrieg hat die Sowjetunion auf Dauer keine Chance gehabt, zu bestehen. Das meint der Historiker Sebastian Gerhardt. Er weist anhand der Statistiken der sowjetischen Kriegswirtschaft nach: Der Sieg hat mehr gekostet als danach wieder aufgebaut werden konnte.

Die Sowjetunion hat für ihren Sieg über den deutschen Faschismus im 2. Weltkrieg einen unglaublich hohen Preis gezahlt, von dem sie sich bis zu ihrem Ende 1991 nicht wieder erholt hat. Das hat der Historiker Sebastian Gerhardt am Mittwoch in Berlin bei einem Vortrag in der Linkspartei-nahen Berliner Stiftung „Helle Panke“ über die sowjetischen Kriegskosten erklärt. Vor allem die sowjetische Landwirtschaft habe bis zuletzt darunter gelitten. Es handele sich bei dem Thema um eine „höchst schwierige Geschichte“, weil die sowjetischen Statistiken jahrzehntelang geheim gehalten wurden und die Moskauer Propaganda bis zum Ende der Sowjetunion von einem „gesetzmäßigen Sieg“ sprach.

Warum blieben die Verluste und Folgen des Krieges geheim?

Dieser Sieg vom 8. Mai 1945 sei lange Zeit alles andere als sicher gewesen, wies Gerhardt anhand der seit den 1990er Jahren öffentlich gemachten sowjetischen Zahlen über die Kriegsfolgen und -kosten nach. Wegen des unheimlich hohen Preises an Menschenopfern – heute gilt die Zahl von 27 Millionen Toten als gesichert – und an Schäden an der gesamten Infrastruktur sowie der Folgen für die Bevölkerung sei die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ für die Führung in Moskau „stets riskant“ gewesen, schrieb Gerhardt in Heft 39 der Zeitschrift „Lunapark 21“ (Oktober 2017): „Schon 1948 wurde der 9. Mai wieder ein normaler Arbeitstag. Nach der Siegesparade am 24. Juni 1945 gab es die nächste Militärparade aus Anlass des Sieges erst wieder 1965, wobei Leonid Breschnew auch den 9. Mai erneut als Feiertag etablierte.“ Deshalb seien ebenso lange Zeit die einzigen sowjetischen Denkmäler im Ausland errichtet worden, berichtete er.

Sebastian Gerhardt (rechts) neben dem Historiker Dr. Stefan Bollinger

Warum das so war, zeigte der Berliner Historiker anhand der statistischen Zahlen. Dazu gehörten die Verluste der Roten Armee von jeweils über drei Millionen Toten und Vermissten in den ersten beiden Jahren nach dem faschistischen Überfall vom 22. Juni 1941. Hinzu kamen Millionen Verwundete. Erst 1945 sank die Zahl der Toten unter die Millionen-Grenze, weil der Krieg am 9. Mai 1945 offiziell endete. Aufgrund dieser immensen Verluste, auch bei der Ausrüstung, sei die Rote Armee praktisch zweimal völlig neu aufgestellt worden, betonte der freie Mitarbeiter des Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst.

War Stalingrad nur ein symbolisches und militärisch sinnloses Ziel?

Die faschistische deutsche Wehrmacht habe nach dem Überfall auf die Sowjetunion deren „Kraftzentrum“ im europäischen Teil des Landes besetzen können, samt etwa 65 Millionen Einwohner. Die verheerenden Folgen hätten dazu geführt, dass die deutschen Truppen im Sommer 1942 bis Stalingrad kamen. Die Stadt sei „nicht irgendein Punkt auf der Landkarte“, erinnerte Gerhardt. Ihre Bedeutung sei weit über ihren symbolischen Namen hinausgegangen. Sie war ein wichtiges Rüstungszentrum mit Fabriken für Geschütze und den Panzern T-34, so der Historiker. „Und wer auf die Karte guckt, der sieht: Wer Stalingrad kontrolliert, der kontrolliert den Verkehr auf der Wolga.“ Das sei besonders wichtig für den Transport des Erdöls aus der Region um Baku gewesen.

Gerhardt verwies auf einen interessanten Aspekt: Das anscheinend sinnlose Weiterkämpfen der deutschen 6. Armee bis zum Ende am 2. Februar 1943  „war leider für das faschistische Oberkommando höchst effektiv“, indem es die sowjetischen Kräfte band. Durch die aus deutscher Sicht Katastrophe bei Stalingrad sei immerhin der Versuch der Roten Armee, noch im Winter 1942/43 bis zum Dnjepr zu kommen, gescheitert. „Es wird sie noch ein volles halbes Jahr kosten, bis sie da sind, wo sie eigentlich schon Mitte März 1943 sein wollten.“ Danach sei das Deutsche Reich immer noch ein ernst zu nehmender Gegner gewesen.

Warum der Sieg bei Stalingrad trotz schlechter Voraussetzungen?

Die Rote Armee habe trotz der verheerenden Kriegsfolgen bis dahin gesiegt, weil das Deutsche Reich seine Möglichkeiten bis dahin maßlos überschätzt und überdehnt hatte, erklärte der Historiker. Jossif Stalin habe diesen Sieg wie auch die nachfolgenden bis zum 8. Mai 1945 als Rechtfertigung seiner Politik der Industrialisierung, der Kollektivierung der Landwirtschaft und des Terrors gegen alle, die zu Feinden erklärt wurden, gesehen und benutzt – obwohl der Sieg über den deutschen Faschismus alles andere als „gesetzmäßig“ gewesen sei.

Schon die Voraussetzungen dafür seien denkbar schlecht gewesen, schrieb Gerhardt bereits in „Lunapark 21“. So hätten die Kennzahlen der sowjetischen Industrie, des Transportwesens und der Landwirtschaft Ende der 20er Jahre in Folge des 1. Weltkrieges und des Bürgerkrieges nach der Revolution unter dem Niveau von 1913 gelegen. Für die von der Moskauer Führung beschlossene forcierte Industrialisierung sei „nicht viel zu holen“ gewesen: Die Mittel für die neuen Projekte, die vom Sozialismus künden sollten, seien nur durch massive Einschnitte in der Lebenshaltung der Menschen und der betrieblichen Reproduktion ermöglicht worden. Das schwächte die Ausgangslage der Sowjetunion vor dem faschistischen Überfall ebenso wie die Enthauptung der Roten Armee durch die Inhaftierung und Ermordung eines Großteils ihrer Führungskader Ende der 1930er Jahre.

War die Sowjetunion zu wenig auf den Krieg vorbereitet?

Es habe in Moskau nach dem Sieg im Bürgerkrieg mit seinen unzähligen Opfern keinerlei Pläne für einen Krieg gegen die „imperialistischen Feinde“ gegeben, betonte Gerhardt. Die Propaganda habe zwar immer vor einer „imperialistischen Einkreisung“ gewarnt, aber die Planungen für die Wirtschaft wie die beiden ersten Fünf-Jahr-Pläne hätten das ignoriert. Allerdings sei das Ziel des faschistischen Deutschlands, die Sowjetunion zu überfallen, der sowjetischen Führung unter Stalin bereits kurz nach der Machtübergabe an Adolf Hitler bekannt gewesen, sagte Gerhardt.

„Als Hitler am 3. Februar 1933 vor den Chefs des deutschen Militärs im heutigen Bendler-Block in Berlin eines Abends erscheint und eine große Rede hält, sagt er ganz klar: Wenn wir über Lebensraum reden, reden wir natürlich über den Osten und die Vorbereitung auf einen Krieg. Das war in keiner Weise strittig und vor allem, das war in Moskau bekannt. Drei Tage später liegt eine Mitschrift dieser Rede in Moskau auf dem Tisch – denn nicht alle Töchter des Generals Hammerstein (damaliger Chef der Heeresleitung – Anmerk. d. Red.) waren vom Beruf ihres Vaters begeistert.“

Allerdings habe Stalin die Kriegspläne Deutschlands bis zuletzt nicht wahrhaben wollen. Die dennoch eingeleiteten Vorbereitungen auf die Gefahr seien der Sowjetunion schwer gefallen, schätzte Gerhardt ein. Dazu gehöre das grundsätzliche Problem, dass es unmöglich sei, sich auf einen solchen Krieg einzustellen. Er zitierte den Schriftsteller Konstantin Simonow, der in einem seiner Romane schrieb: „Wohl hatten alle gespürt, dass ein Krieg in der Luft lag, doch als er wirklich ausbrach, traf er sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel; offenbar ist es nicht möglich, sich auf ein so großes Unglück vorzubereiten.“ Wer in Friedenszeiten versuche, einen Krieg vorwegzunehmen, wäre pleite, habe schon nach dem 1. Weltkrieg ein polnischer Ökonom festgestellt.

Sieg über den Faschismus nur dank westlicher Hilfe?

Gerhard gab ausführliche Statistiken über die Verluste der Roten Armee und die sowjetische Wirtschaft infolge des faschistischen Vernichtungskrieges wieder. So sei die Stahlproduktion von 18,3 Millionen Tonnen 1940 auf 8,5 Millionen Tonnen 1943 zurückgegangen, bevor sie 1945 wieder 12,3 Millionen Tonnen erreichte. Ähnliches stellte er für andere grundlegende Produkte fest: Die Getreideproduktion sei von 95,5 Millionen Tonnen im Jahr 1940 auf 29,4 Millionen Tonnen 1943 gesunken und habe 1945 erst wieder die Hälfte erreicht. Die Zahl der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft habe sich von fast 50 Millionen 1940 auf die Hälfte 1943 reduziert und 1945 nur den Stand von 36 Millionen erreicht.

Alle Kennzahlen des Nationaleinkommens und des gesellschaftlichen Gesamtproduktes der Sowjetunion hätten 1945 deutlich unter den Zahlen von 1940 gelegen, zum Teil um die Hälfte geringer. Zwar sei die Kriegsproduktion als einziger Bereich gestiegen, aber selbst der Produktionsverbrauch sei von fast 300 Milliarden Rubel 1940 auf knapp 200 Milliarden Rubel fünf Jahre später gesunken. Dabei habe sich gezeigt, dass alle Maßnahmen wie die 7-Tage-Arbeitswoche und Arbeitstage mit 12 Stunden und mehr nicht halfen, die Produktion zu steigern.

Selbst die produzierten Waffen wie zum Beispiel der legendäre Panzer T-34 hätten oft nicht die notwendige Leistungsfähigkeit und Qualität gehabt. Hinzu seien die aufgrund der Kriegsbedingungen oft schlecht ausgebildeten neuen Soldaten gekommen. Und: Ohne die westlichen Hilfslieferungen im „Land-Lease“-Programm hätte die Rote Armee zwar Berlin erreicht, aber erst später und „zu Fuß“, so der Historiker. Diese Lieferungen seien nicht kriegsentscheidend gewesen, hätten es aber der Roten Armee ermöglicht, so wie geschehen Osteuropa zu befreien und bis nach Berlin zu kommen. Sie hätten zudem die sowjetische Wirtschaft entlastet und bis 1945 etwa zehn Prozent des Nationaleinkommens des Landes ausgemacht.

Untergang der Sowjetunion als späte Kriegsfolge?

Der Umfang der Verluste und Zerstörungen durch den Krieg hätten eine materielle Wiedergutmachung unmöglich gemacht, hob Gerhardt hervor. Ab 1943 sei über zukünftige deutsche Reparationsleistungen diskutiert worden. Moskaus Botschafter in London, Iwan Maiski, sei damit beauftragt worden gewesen. Er habe erkannt: „Selbst wenn wir den Deutschen den letzten Wasserhahn wegnehmen, damit könnten wir unser Land nicht wiederherstellen. Die haben so viel zerstört, das gibt es in Deutschland gar nicht alles. Das geht gar nicht.“ Die Menschen hätten als Arbeitskräfte noch stärker gefehlt als die Maschinen.

Deshalb habe Maiski einen bis 1989 geheim gehaltenen Vorschlag gemacht: „Es reicht nicht, aus Deutschland Reichtümer zu beschlagnahmen und Maschinen zu holen. Der größte Posten in seiner Berechnung, was Deutschland zu leisten in der Lage ist, ist eine Arbeitsleistung. Maiski geht davon aus, dass etwa fünf Millionen Deutsche etwa zehn Jahre lang für den Wiederaufbau in der Sowjetunion arbeiten müssen.“ Die Riesenverluste an Menschen durch den faschistischen Krieg seien das größte Problem des Wiederaufbaus für die sowjetische Gesellschaft und Wirtschaft gewesen. In seinem „Lunapark 21“-Beitrag zieht Gerhardt folgendes Fazit:

„Kombiniert mit den Lasten der Hochrüstung im Kalten Krieg hatte die Sowjetunion so keine Chance.“

Die Stiftung „Helle Panke“, Berliner Ableger der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, wird das Manuskript von Sebastian Gerhardt in Kürze in ihrer Broschüren-Reihe „Pankower Vorträge“ veröffentlichen.