„Ohne Stalingrad keine Befreiung vom Faschismus“ – Historiker kritisiert Regierung

Die Schlacht bei Stalingrad und der Sieg der Roten Armee im Februar 1943 sind in ihrer weltweiten Wirkung ein Wendepunkt im 2. Weltkrieg gewesen. Das sagt der Historiker Werner Röhr. Er lobt die bundesdeutsche Geschichtsforschung zum Thema und kritisiert deutlich die Haltung der Bundesregierung, die der Opfer von Stalingrad nicht gedenken will.

Prof. Werner Röhr (Foto: F. Schumann)

„Stalingrad ist der Ort, wo mein Vater im 2. Weltkrieg geblieben ist“, erklärte der Berliner Historiker und Faschismus-Forscher Werner Röhr zu Beginn des Sputnik-Interviews. Das gehöre zu seinen Motiven, sich damit zu beschäftigen. Er schätzt den aktuellen Stand der bundesdeutschen Geschichtsforschung zum Thema Stalingrad als „gut, solide und zum Teil weltbestimmend“ ein. Sie habe wahrheitsgemäße Erkenntnisse über diese Schlacht zu Tage gefördert. Besonders hob Röhr dabei den Beitrag von Bernd Wegner zu Stalingrad in Band 6 der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ hervor. Darin würden Geschehen, Ursachen und Wirkungen am besten beschrieben. Diese Ergebnisse seien bis heute gültig. Röhr selbst ist Mitherausgeber der noch in der DDR begonnenen Reihe „Europa unterm Hakenkreuz“ über die faschistische Okkupationspolitik. Er sagte:

„Stalingrad ist nicht der einzige Wendepunkt im 2. Weltkrieg. Die historische Forschung hat festgestellt, dass operativ-militärisch die Schlacht bei Moskau die erste entscheidende Niederlage der faschistischen Wehrmacht ist. Stalingrad ist unter dem Gesichtspunkt der weltweiten Wirkung dieser Niederlage der entscheidende Wendepunkt insofern, als er die Überzeugung stärkte, dass diese Wehrmacht geschlagen werden kann, dass der faschistischen Bestie das Genick gebrochen werden kann und sie die strategische Angriffsfähigkeit verloren hat.“

Nach Stalingrad sei die Wehrmacht gezwungen gewesen, grundsätzlich zur strategischen Defensive überzugehen. Das habe die westlichen Alliierten wie auch die Widerstandsbewegungen in Europa gegen die deutschen Faschisten ermutigt, ihren Kampf fortzusetzen, „weil sie nun eine klare Aussicht hatten: Dieser Gegner ist zu schlagen!“

„Der Sieg über den Faschismus war kein Automatismus“

Vor allem seit dem Untergang der Sowjetunion 1991 sind deren Akten aus der Zeit des „Großen Vaterländischen Krieges“ bekannt. Die zeigen unter anderem, dass der Sieg der Roten Armee über die faschistische Wehrmacht gerade in den ersten beiden Jahren alles andere als sicher war – anders als es die sowjetische Propaganda seit 1945 behauptete. Das bestätigte Röhr im Interview:

„Einen Automatismus hat es nie gegeben. Es war auch nicht so, dass mit Stalingrad die Sowjetunion automatisch auf der Siegesstraße war. Um den Faschismus endgültig zu schlagen, bedurfte es weiterhin ungeheurer, blutiger, opferreicher Anstrengungen. Aber sie waren gewiss: Es ist zu schaffen.“

Deutschland sei auch in der Defensive ein gefährlicher und nicht zu unterschätzender Gegner geblieben. Der mögliche und auch tatsächliche Sieg über die Wehrmacht sei durch Stalingrad deutlich geworden, sagte der Historiker dazu. „Dass Deutschland den Gegner unterschätzt hatte und die faschistische Führung auch nicht in der Lage war, ihn nüchtern einzuschätzen, auch nicht nach ihren ersten Niederlagen, daran hat sich auch nach Stalingrad nichts geändert.“

Die deutsche „Operation Blau“ im Jahr 1942 mit dem Ziel, die sowjetischen Ölquellen um Baku zu erobern, habe schon eine veränderte Lage gezeigt. „Nur mit diesen Ölquellen sowie mit Eisen, Mangan und anderen Rohstoffen aus der Ukraine glaubte sich die faschistische Führung in der Lage, die strategische Situation nach dem US-Kriegseintritt zu bestehen und auf lange Sicht diesen für sie schweren, auch unterschätzten Gegner Sowjetunion doch noch zu schlagen.“ Doch nach Stalingrad war klar, dass die Zielstellung der „Operation Blau“ nicht mehr erreichbar war, betonte Röhr.

Wider den „deutschen Blick“ auf die Schlacht

Was das denn sei, wollte er auf die Frage nach dem besonderen „deutschen Blick“ auf Stalingrad, der vor allem in der alten Bundesrepublik durch die Perspektive der überlebenden Soldaten als Opfer geprägt war, wissen. Die deutschen Widerständler und Antifaschisten, ob im KZ oder selbst in der Wehrmacht, hätten darauf gehofft, dass die Sowjetunion durchhält.

„Ein deutscher Blick ist auch derjenige des Helmuth James Graf von Moltke, des Leiters der Rechtsabteilung im Amt Ausland des Oberkommandos der Wehrmacht, der schon 1942 gesagt hat, dass dieser Krieg von Anfang an ein einziges Kriegsverbrechen ist.“

Für Röhr geht es darum, „welche Deutschen welchen Blick haben. Diejenigen Soldaten, die von ihren Erfahrungen auf dem Schlachtfeld her diesen Krieg und diese Schlacht beurteilen, das können keine Maßstäbe sein!“ Er verwahrte sich gegen den Anspruch der deutschen Faschisten, „die deutschen Interessen und den deutschen Blick zu verkörpern“.

Der deutsche, national bewusste Blick sei der Blick der deutschen Antifaschisten gewesen – „die haben mit Stalingrad von vornherein die größten Hoffnungen und die größte Zuversicht verbunden“. Der Historiker erinnerte auch an jene oftmals deutschen Kommunisten, die auf sowjetischer Seite vor Stalingrad in die Schützengräben gingen, „um die irrgeführten deutschen Landser aufzuklären, ihnen die Augen zu öffnen“. Theodor Plievier habe mit seinem Roman „Stalingrad“ das „ernüchterndste Bild über den ‚deutschen Blick‘“ gezeichnet und beschrieben, „wie die deutschen Landser selbst im Dreck liegend, wenn sie schon am Krepieren waren, von ihren chauvinistischen Vorurteilen gegenüber den sowjetischen Soldaten nicht das Geringste abgelassen hatten“. Sie davon abzubringen, dazu sei die Niederlage vor Stalingrad das einzige Mittel gewesen. Selbst das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr habe mit seinen Erkenntnissen lange Zeit gegen apologetische Sichtweisen deutscher Offiziere ankämpfen müssen, die in der alten Bundesrepublik durch eine zahlreiche militaristische Erinnerungsliteratur tradiert werden konnten.

Deutsche Soldaten waren keine Helden

Röhr verwies auf Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, der am 2. Februar 1943 kapitulierte, und dessen Blick:

„Der hat überlebt. 300.000 seiner Leute haben auf seinen Befehl ins Gras gebissen – aber er nicht. So geht es der gesamten höheren Offiziersclique. Deren ‚deutscher Blick‘ auf Stalingrad ist zu vernehmen. Aber die 300.000, die dort in der Erde liegen, die haben keine Stimme und keinen ‚deutschen Blick‘ darauf mehr! Die, die dort überlebt haben und Antifaschisten wurden, deren ‚deutscher Blick‘ ist gültig. Diejenigen, die dort glaubten, sie würden dort auf Befehl des Führers eine Heldentat vollbringen, bis zu den kleinsten Soldaten, deren Gedächtnis und Blick nach dem Krieg kann kein Maßstab sein.“

Die Bundesregierung hat ein offizielles Gedenken an die Opfer von Stalingrad aus Anlass des Jubiläums abgelehnt. Gleichzeitig stufte sie in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag den Krieg der faschistischen Wehrmacht gegen die Sowjetunion nicht grundsätzlich als verbrecherisch ein. Das sei nur „einzelfallbezogen“ zu bewerten. Für den Historiker Röhr fällt die Regierung damit hinter die wissenschaftlichen Erkenntnisse der bundesdeutschen Geschichtsforschung zurück. So zeige sich eine „Kontinuität des faschistischen, blutbesudelten Mörderreiches“. Damit trete die Bundesregierung „in die Fußstapfen“ der Rede von Hermann Göring im Januar 1943 über Stalingrad, wonach der Opfer, auch der eigenen, nicht zu gedenken sei.

Deutsche imperialistische Kontinuitäten

„Das ist auch kein Wunder“, so Röhr.

„Die Bundesrepublik hat seit ihrer Gründung beansprucht, in jeder Hinsicht der gültige Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches zu sein. Wer die tatsächliche Heldentat, die weltkriegsmitentscheidende Funktion des Sieges in Stalingrad nicht würdigen will, so wie die Opfer von Auschwitz oder von Hiroshima zu würdigen sind, der setzt sich in diese Kontinuität. Das ist der Standpunkt des deutschen Imperialismus gegenüber dem russischen Reich. Wenn die heutige Bundesrepublik meint, sie müsse den verbrecherischen Charakter dieses Krieges, dieses Aggressions- und Raubkrieges, der von vornherein ein Kriegsverbrechen und mit lauter Kriegsverbrechen bepflastert ist, ignorieren und den Sieg und die Opfer von Stalingrad nicht würdigen, dann liegt das nicht daran, dass die Wehrmacht dort verloren hat. Entscheidend ist, dass die Ziele des deutschen Imperialismus, nämlich die Hegemonie erst in Europa und damals dann die Welthegemonie zu errichten, noch immer angestrebt werden und Deutschland wieder kriegsführungsfähig gemacht werden soll für diese Hegemonie.“

Der Historiker erinnerte daran, dass in der umstrittenen Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ in den 1990er Jahren auch der „Pfad mit Opfern, Verbrechen und blutigen Schlachten“ der deutschen 6. Armee nach Stalingrad nachgezeichnet wurde.

„Die 6. Armee, die dort untergegangen ist, nachdem sie zunächst von Hitler in den Tod geschickt und dann noch von Göring verhöhnt wurde, das waren keine ehrlichen, ritterlichen oder aufrechten Soldaten, die für Deutschlands Interessen gekämpft hatten. Das war eine Truppe von hochgradigen Kriegsverbrechern, wie durch diese Ausstellung bewiesen ist. Das waren keine Leute, die ihre Heimat verteidigt haben, wie behauptet wird. Sie sind als Mordbrenner in ein fremdes Land eingefallen. Und sie haben auf diesem Weg vor keinem Kriegsverbrechen zurückgescheut.“

Wenn Soldaten zu würdigen seien, „dann sind es in erster Linie die Sowjetsoldaten, die die Welt mit ihrem Sieg in Stalingrad vor einem siegreichen Faschismus gerettet haben“. Aber auch jene, die sich auf deutscher Seite bemühten, die deutschen Soldaten vor ihrem Tod zu bewahren, indem sie sie aufforderten, die Waffen niederzulegen, seien zu würdigen.