Die oberen zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben seit rund 100 Jahren einen gleichmäßig hohen Anteil von 40 Prozent am Volkseinkommen. Daran haben trotz aller Schwankungen selbst die beiden Weltkriege geändert. Das stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Analyse fest, die es am Dienstag veröffentlicht hat.
In dem aktuellen Wochenbericht des DIW macht Autorin Charlotte Bartels darauf aufmerksam, dass seit der Wiedervereinigung die Einkommensungleichheit in Deutschland wieder ansteigt. „In den vergangenen Jahrzehnten hat vor allem die untere Hälfte der Bevölkerung verloren: Erhielt sie 1960 noch mehr als 30 Prozent des Volkseinkommens, waren es 2013 nur noch 17 Prozent (vor Steuern und staatlichen Transferleistungen). Während sich in den siebziger und achtziger Jahren vergleichsweise wenig in der Einkommensverteilung der alten Bundesrepublik änderte, steigt seit der Wiedervereinigung die Einkommenskonzentration in Deutschland.“
Die DIW-Studie basiert auf den Steuerdaten aus Deutschland von 1871 bis 2013. Sie ist Grundlage für das Deutschland-Kapitel des „World Inequality Report 2018“. Der beschreibt die Entwicklung der Einkommensunterschiede in etwa 70 Ländern und wurde am Dienstag in Berlin vorgestellt.
Hitler sorgte für Plus für Unternehmen und Besitzende
Bartels macht in der Analyse auf interessante historische Fakten aufmerksam. Dazu gehört nicht nur dass das oberste Ein-Prozent der Einkommensgruppen am stärksten von der Industrialisierung nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 profitierte. Der 1. Weltkrieg habe mit den Profiten aus den staatlichen Rüstungsausgaben nochmal für einen Schub und einen Anstieg von 18 Prozent (1913) auf 23 Prozent des Anteils am Volkseinkommen gesorgt. Das Kriegsende und die Weimarer Republik hätten das wieder sinken lassen, auch durch den gewachsenen Einfluss der Gewerkschaften. So sank laut Bartels der Anteil des Top-Ein-Prozents am Volkseinkommen auf elf Prozent – wo er bis 1933 verharrte.
Adolf Hitler wirkte dann „sehr positiv für die Unternehmer“, stellte die DIW-Forscherin in einem Interview fest. „In den ersten Jahren unter Hitler stiegen die Spitzeneinkommen rasant an“, ist dazu in der Analyse zu lesen. Das passe „kaum zur anfänglichen Anti-Kapitalismus-Propaganda der Nationalsozialisten“. Dazu gehört ebenso, das vor allem die Gewinne der Industrieunternehmen zwischen 1933 und 1939 rasch anstiegen, besonders von den Firmen mit Verbindungen zu den Faschisten.
Bartels‘ Ergebnisse widerlegen auch neuere Behauptungen über „Hitlers Antikapitalismus“ und den „nationalen Sozialismus“ der deutschen Faschisten. Die Parole von der „nationalsozialistischen Revolution“ gehörte zu den „Reklameschlagern der NSDAP“, schrieb der verstorbene Historiker Kurt Pätzold 2013. „Diese ‚Revolution‘ nun war noch kein halbes Jahr alt, als von der Führung der faschistischen Partei erklärt wurde, sie sei beendet“, erinnerte er. Doch der faschistische „Reklameschlager“ wird bis heute benutzt, um linke Alternativansätze zu diffamieren.
Deutsche Kontinuitäten
Es habe entgegen aller Legenden in der Zeit des deutschen Faschismus „keine Umverteilung“ von oben nach unten gegeben, stellte Pätzold fest. Das bestätigt die DIW-Analyse jetzt, wohl eher ungewollt. Sie belegt eine besondere deutsche Kontinuität, nämlich dass die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse trotz aller politischen Schwankungen in den letzten 100 Jahren nicht grundlegend verändert wurden – bis auf die Ausnahme DDR.
Und so schreibt Bartels wenig überraschend, dass nach dem 2. Weltkrieg in Westdeutschland durch das „Wirtschaftswunder“ und trotz sozialer Leistungen „die Einkommenskonzentration beim obersten Perzentil (Ein-Prozent-Gruppe – Anmerk. der Red.) schnell wieder“ anzog. Sie sei in der Nachkriegszeit „auf einem vergleichsweise hohen Niveau“ geblieben und bis in die 1980er Jahre auf etwa 13 Prozent Anteil am Volkseinkommen angestiegen. Die Währungsreform 1948 in den Westzonen habe zwar Sparanlagen auf ein Zehntel ihres vorherigen wertes reduziert, „während Unternehmensvermögen und Immobilien nahezu unberührt blieben“.
Dennoch habe aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs in der jungen Bundesrepublik und des Einflusses der Gewerkschaften die untere Hälfte der Einkommensverteilung mit profitiert, schreibt Bartels. Ihr Anteil am Volkseinkommen stieg danach auf ungefähr ein Drittel, während er in den 1970er Jahren wieder auf ein Fünftel sank.
Einheit führte zu alten Verhältnissen
Die deutsche Wiedervereinigung 1990 nach dem Untergang der DDR hat laut der DIW-Analyse wieder zu einer „steigenden Polarisierung“ der Einkommensverteilung geführt. Zwar habe die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung in den ersten Jahren zu einem Plus auch der unteren Einkommensgruppen geführt, aber nur bei denen, die ihre Jobs behielten, wie Bartels bemerkt. Die von ihr als „kollabierende Produktion und Beschäftigung“ beschriebene Deindustrialisierung des DDR-Gebietes habe das beendet. Nur „sehr wenige Ostdeutsche“ hätten das oberste Prozent der Einkommensgruppen erreicht.
Seit 2000 sinke auch wieder bundesweit der leicht gestiegene Anteil der unteren Hälfte – „von 22 Prozent im Jahr 2001 auf 17 Prozent im Jahr 2013.“ Die Wissenschaftlerin meint dazu: „Dies steht im Kontrast zur positiven Entwicklung des Arbeitsmarkts seit dem Jahr 2005, wodurch viele Arbeitslose wieder ein Arbeitseinkommen erwirtschaften konnten. Gleichzeitig wuchs aber auch der Niedriglohnsektor überdurchschnittlich.“ Gleichzeitig seien die Einkommen der oberen Hälfte „zwischen 2010 und 2013 deutlich stärker als die der unteren Hälfte“ gestiegen.
Die Einkommensschere weiter geöffnet
„Die Top-Zehn-Prozent steigerten ihren Einkommensanteil ziemlich kontinuierlich von der Nachkriegszeit bis heute“, stellt die DIW-Forscherin fest. Sie ergänzt, „dass die steigende Bedeutung von Exporten am Bruttoinlandsprodukt sowie das zunehmende Gewicht von Kapitaleinkommen gegenüber Lohneinkommen stark mit dem Anstieg des Einkommensanteils des Top-Ein-Prozents“ verbunden seien. Und:
„Trotz der Krise nach der Wiedervereinigung und der weltweiten Wirtschaftskrise im Jahr 2009 stieg der Einkommensanteil des obersten Perzentils deutlich. Der Anteil dieser Gruppe wuchs zwischen 1983 und 2013 um gut ein Drittel, während der Anteil der unteren 90 Prozent um zehn Prozent zurückging.“
Diese Polarisierung werde zwar durch staatliche Transferleistungen und Steuern teilweise ausgeglichen. Das haben allerdings laut Bartels die Steuerreformen der letzten 20 Jahre wieder neutralisiert, indem die hohen Einkommen und Vermögen entlastet wurden. Dagegen seien mittlere und untere Einkommen durch höhere indirekte Steuern wie Mehrwertsteuer und Energiesteuer belastet worden. „Vermutlich wird die Einkommenskonzentration in Deutschland sogar noch unterschätzt“, so die Forscherin. Ihr Vorschlag:
„Wenn man politische Maßnahmen gegen eine zunehmende Polarisierung der Markteinkommen in Deutschland ergreifen will, müsste man die Teilhabe unterer Einkommensgruppen an der Unternehmensrendite verbessern.“
Die Geschichte zeigt, dass es eine Umverteilung von oben nach unten gewissermaßen nicht geschenkt gibt – auch nicht durch Kräfte wie die AfD.