Ex-Diplomat Ischinger: Russland verantwortlich für neuen Ost-West-Konflikt

Berlin will wie der Westen insgesamt ein besseres Verhältnis zu Moskau. Das behauptet Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Russland will das aber nicht, meint er und macht dieses für die Krise seit 2014 verantwortlich. Ischinger ignoriert dabei Kritik an der westlichen Haltung, die auch sein Vorgänger Horst Teltschik übt.

Das „Ziel, eine möglichst konfliktfreie Beziehung zu Russland herzustellen“, sei „Teil der deutschen Staatsräson“. Das behauptet Wolfgang Ischinger, seit 2008 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), in einem Interview mit der Zeitschrift „Internationale Politik“ (IP), veröffentlicht in deren aktueller Ausgabe (Januar/Februar 2018) Darin erklärt der Ex-Diplomat, dass Russland-Politik in Deutschland „nicht nur rationale Politik“ sei. Es gebe „da ein emotionales Element, das mit der Vergangenheit zu tun hat“. Deshalb sei deutsche Politik gegenüber Russland in ihrem Denken „häufig etwas romantischer“, was sie auch erschwere.

Die Zeitschrift wird von der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP) herausgegeben, dem führenden bundesdeutschen Thinktank für Außenpolitik. Ischinger meint in dem IP-Interview, dass Deutschland im Vergleich zur „existenziellen Krise der EU“ die Krise mit Russland „emotional deutlich stärker als die Partner“ treffe. Diese habe sich bereits 2008 angekündigt. Für die Krise macht der Ex-Diplomat aber Russland verantwortlich. Bereits die Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin in München 2007 sowie der Krieg in Georgien 2008 hätten gezeigt, „dass eine neue Epoche in den West-Ost-Beziehungen angebrochen war“. Der damals „neu aufbrechende Ost-West-Gegensatz“ sei inzwischen zu einem Konflikt geworden. Der Westen habe noch bis Mitte der 1990er Jahre gedacht, „alles im Griff zu haben“ und dass dem Ost-West-Konflikt eine „neue Phase“ folge.

Weggelassene Tatsachen

Ischinger lässt nicht nur aus, dass die russischen Truppen 2008 den georgischen Angriff auf die Republik Südossetien auf Basis internationaler Abkommen zurückschlugen und mit einem international vereinbarten Mandat dort agierten. Sie handelten damit „rechtskonform“, wie der Politologe Reinhard Mutz 2014 in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ feststellte. Der Westen habe das dagegen als „eine Art Betriebsunfall“ gesehen, so Ischinger. Aus seiner Sicht hat Putin 2008 „umgeschaltet“ und das westliche Angebot einer „Modernisierungspartnerschaft“ ausgeschlagen, „aus einer ganzen Reihe von Gründen“.

Zudem wirft er Russland vor, „2014 mit der Annexion der Krim“ eine neue Ära eingeläutet zu haben und den Glaube „plötzlich“ zerstört zu haben, „dass wir mit der Charta von Paris 1990 dauerhafte, nachhaltig wirksame, verlässliche Strukturen für die euro-atlantische Gemeinschaft geschaffen hätten, an die sich alle halten würden“. Das hatten Anfang Dezember 2017 bei einer Veranstaltung in Berlin ehemalige hochrangige deutsche Politiker und Diplomaten, darunter sein Vorgänger als MSC-Vorsitzender Horst Teltschik, anders beschrieben: Die westliche Seite habe die Instrumente für gemeinsame Sicherheit mit der Sowjetunion bzw. Russland und den anderen osteuropäischen Staaten, wie sie 1990 in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vereinbart wurden, nicht genutzt.

Russland verantwortlich für Flüchtlingskrise?

Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz sieht das anscheinend anders und meint: „Die Reparaturarbeiten, die wir seit 2014 zu erledigen haben, sind zwar angelaufen, aber bislang nicht erfolgreich gewesen.“ Er sagt mit Blick auf ein mögliches besseres Verhältnis zu Russland als angeblichem Teil der bundesdeutschen Staatsräson:

„Die andere Seite muss es auch wollen, und im Augenblick will sie nicht. Sie will jedenfalls nicht dorthin zurück, wo Putin mit seiner Bundestagsrede 2001 war, als er sagte: ‚Ich will nach Westen, ich will zu euch.‘ Das ist gescheitert – jedenfalls vorerst.“

Ischinger behauptet sogar, dass die Flüchtlingskrise „letztlich eine Folge“ der seit 2014 erfolgten „russischen Intervention in der Ukraine und in Syrien“ sei. Und erklärt betont „halbironisch“: „Dank Putins Politik“ bräuchte er sich keine Sorgen um die weitere Existenz der von ihm geführten MSC zu machen.“ So würden die Themen für das Treffen jeweils zu Jahresbeginn in der bayrischen Hauptstadt nicht ausgehen.

„Schritt für Schritt“ wieder in den Krieg – auch gegen Russland?

Dort hatte 2014 der damalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck für Aufsehen gesorgt, als er in einer Rede eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt einforderte. Das begründete er – von einem US-Präsidenten Donald Trump war noch nichts zu ahnen – bereits damals unter anderem mit den Bestrebungen der USA, ihr globales Engagement zurückzufahren. Ischinger bestätigt in dem Interview auch, dass das, was Gauck einforderte und auf zahlreiche Kritik stieß, schon lange angestrebt wird: Der Auftritt des Bundespräsidenten „war von langer Hand geplant“. Das gilt wohl ebenso für die Tatsache, dass inzwischen auch „zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen in ein NATO-Partnerland geschickt (wurden), um dieses gegen äußere Gefährdungen zu verteidigen“, nämlich Litauen:

„Das haben wir, glaube ich, durch diesen ‚Slow-motion‘-Prozess ganz gut hinbekommen. In der Ära Kohl beginnend, dann unter Gerhard Schröder ein bisschen munterer, mit dem Kosovo-Einsatz.“

Bereits 1992 hatte der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) in einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“ erklärt, dass es „Schritt für Schritt“ um das Ziel neuer deutscher Kampf- und Kriegseinsätze gehe:

„Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten. Bei Blauhelm-Einsätzen ist das schon gelungen: Zwei Drittel der Bevölkerung stimmen zu.“

Ischinger liefert mit seinen Äußerungen eine der späten Bestätigungen dafür und dass Gaucks Rede vor vier Jahren nur ein weiterer dieser Schritte war – ein entsprechender „Impuls“, wie er es nennt. Wie erfolgreich diese „Slow motion“-Strategie war und ist, zeigt zum Beispiel, dass der Einsatzbefehl für 1.000 deutsche Soldaten nach Mali seit 2013 gesellschaftlich kaum Proteste auslöste – „ich staune jetzt noch darüber, dass das auf so geringen Widerstand gestoßen ist“, so der Ex-Diplomat.

Was mit Blick auf das Verhältnis zu Russland von Ischingers Aussagen zu halten ist und von der weiteren Entwicklung dabei zu erwarten sein könnte, deutet ein Arbeitspapier der offiziellen Bundesakademie für Sicherheitspolitik von November 2017 an. Darin heißt es:

„Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben bzw. den Eindruck aufkommen lassen, dass der derzeitige Konflikt mit Russland von vorübergehender Dauer sei und wir in absehbarer Zeit wieder zur Normalität zurückkehren könnten. Vielmehr sollten wir uns an diesen Konfliktzustand gewöhnen.“

Der Autor Marek Menkiszak, Leiter der Russlandabteilung des Zentrums für Oststudien (OSW) in Warschau, macht ebenfalls Moskau dafür verantwortlich und empfiehlt, die Konfrontation samt antirussischer Sanktionen und Nato-Truppen an der russischen Grenze aufrechtzuerhalten. Zwar heißt es bei dem Papier, es gebe nur die „persönliche Meinung des Autors“ wieder, aber offizieller Widerspruch dazu war bisher nicht zu vernehmen.