Der österreichische Philosoph Robert Pfaller hat kein persönliches Problem mit Political Correctness und Gender Studies. Er kritisiert sie dennoch deutlich in seinem neuen Buch „Erwachsenensprache – Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“. Aus seiner Sicht wird mit derlei Nischenpolitik von den Folgen neoliberaler Verelendung abgelenkt.
Bei diesen Themen zeige sich ein gesellschaftliches Problem: Die „Propaganda der Verletzlichkeit und Empfindlichkeit“, erklärt der Professor für Philosophie und Kulturtheorie an der Kunstuniversität Linz im Interview mit Sputnik. Als Beispiel dafür berichtet er in seinem Buch zu Beginn, wie er bei einem Flug in die USA den Film „Amour“ von Michael Haneke sehen wollte und gewarnt wurde, dieser enthalte „Erwachsenensprache“. Das sei ein Zeichen für eine Veränderung in jüngerer Zeit, die „gravierende Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben und für die Politikfähigkeit der Menschen“ habe, schreibt Pfaller.
Er findet: „Political Correctness und Gender Studies sind zwei Praxisfelder, in denen sich diese Propaganda sehr massiv niederschlägt.“ Diese gesellschaftliche Tendenz zeige, schreibt er im Buch, dass es „den Profiteuren der neoliberalen Umverteilung“ gelungen sei, „die Verlierer in lauter irrelevante, rivalisierende oder verfeindete Untergruppen auseinanderzudividieren“. Darüber hinaus werde so der öffentliche Raum zerstört, in dem sich solche Gruppen solidarisieren und gemeinsame Interessen verteidigen könnten. Die Folge:
„Anstatt wie erwachsene Menschen das Allgemeine im Auge zu behalten und sich zusammenzuschließen, wollten die empfindlich Gemachten nur noch ihre eigenen Besorgnisse bevorzugt behandelt oder wertgeschätzt sehen.“
„Identitätspolitik“ verhindert Solidarität
Pfallers Buch setzt sich vorrangig mit Sprache als Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse auseinander, kritisiert diese aber zugleich analytisch und grundsätzlich. Ob Menschen als Erwachsene und mündige Bürger behandelt werden, sei auch eine Frage der Sprache. In dieser zeige sich „Erwachsenheit“ in der „Widerstandskraft gegenüber den notwendigen Übeln des Lebens“ und der Fähigkeit, die eigenen Empfindlichkeiten zu zügeln, „um andere nicht für störende Worte sofort zu brandmarken“.
„Nur erwachsenes Sprechen ermöglicht solidarisches Sprechen und Verhalten – in einer Gesellschaft, für die Gleichheit kein Ding der Unmöglichkeit darstellt.“
Doch genau das versuchen die Herrschenden im Neoliberalismus zu verhindern, indem sie Erscheinungen wie die „Identitätspolitik“ befördern, stellt der Philosoph fest. Im Buch beschreibt er das so:
„Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen in Armut und Aussichtslosigkeit getrieben werden, und in der man zugleich Erwachsene vor Erwachsenensprache warnt. Das eine hängt offenkundig mit dem anderen zusammen: Denn es sind dieselben Mächte, die das eine und das andere vorantreiben.“
Das habe Methode, erläutert er im Interview. Beim Blick auf die Interessen dahinter zeige sich „eine tiefe Komplizenschaft“ zwischen der massiven neoliberalen Umverteilung des Reichtums in den letzten 20 bis 30 Jahren in Europa zugunsten der Eliten und der „Propaganda des Zartsprechens und des Zartgefühls“.
Waffen für die Medienmächtigen
Letzteres sei ein „aktiver Beitrag zur Zerstörung gesellschaftlicher Gleichheit“, betont er und bezeichnet es als „perfide“, dass die Menschen so von ihren Interessen abgelenkt werden.
„Plötzlich sind sie angehalten, nur noch ihre Empfindlichkeiten zu suchen, die Macke oder die Schwäche, durch die sie besonders verletzlich sind, und daraus Kapital zu schlagen und mit anderen zu wetteifern, die andere Schwächen haben. Belohnt wird nur der Allerschwächste.“
Dieses „perfide System“ entsolidarisiere:
„Jeder und jede schaut nur noch auf seine Identität, egal welcher Art, und achtet nicht mehr darauf, hinsichtlich welcher Perspektiven man sich eigentlich mit anderen Gruppen verbinden könnte, weil die ökonomischen Interessen eigentlich viele Gruppen zusammenschließen und es ermöglichen würden, dass man etwas für alle erreicht.“
Zugleich würden solche Erscheinungen wie die „#MeToo“-Bewegung gegen angebliche oder tatsächliche sexuelle Belästigungen Wut und Empörung in einer Gesellschaft auf einzelne Punkte und auch Personen lenken, die sich gegen berechtigte oder falsche Vorwürfe gar nicht mehr wehren könnten. Darin liege eine Gefahr, betont Pfaller, denn mit solchen Mitteln könnten auch unliebsame politische Gegner „sehr schnell kaputt gemacht“ werden.
„Das liefert den Medienmächtigen eine große Waffe, während es den Frauen nicht wirklich nützt, wie ich glaube.“
Linke Parteien als Komplizen des Neoliberalismus
Auf die Frage, ob seine Kritik an Political Correctness und ähnlichem nicht Argumente für rechte Kräfte liefert, reagiert er mit dem Hinweis, dass sämtliche Parteien in Westeuropa, die seit den 1980er Jahren regierten, immer neoliberale Politik machten – „egal ob es rechte oder Mitte-Links-Regierungen waren“. Dazu gehörten Privatisierungen, Rückzug des Staates und Austeritäts-, also Sparpolitik um jeden Preis. Bei der Suche nach dem Unterschied zu rechten Parteien hätten die linken Parteien sich dann der Ebene der Minderheitenpolitik, „der Ebene der sehr kleinen, sehr billigen Schutzmaßnahmen“ zugewandt. Daraus sei ein „infames System“ entstanden, das nur noch die Alternative zwischen zwei neoliberalen Optionen lasse
„Eine, die ein bisschen Political Correctness betreibt, und eine andere, die als Krokodil in diesem Kasperletheater auftritt und als Rechtspopulismus mit vulgären Formeln daherschimpft, die rassistisch, frauenfeindlich und fremdenfeindlich ist.“
Aber das sei „eine falsche Alternative angesichts der ökonomischen Entwicklung“, macht der Philosoph im Interview klar:
„Genau durch diese Pseudopolitik der neoliberalen Linken ist die Rechte erstarkt. Ich würde den Vorwurf umkehren. Ich würde sagen: Das ‚Zartsprechen‘ hat die Rechte stark gemacht und dazu beigetragen, dass die Linke immer mehr verliert.“
Das habe sich unter anderem in den USA bei der Niederlage von Hillary Clinton gezeigt. Wer arbeitslos wurde und nicht mehr wusste, wie er zum Beispiel die Schule für die Kinder bezahlen konnte, interessierte sich nicht für die vielbeachteten, elitär wirkenden Sorgen sexueller Außenseitergruppen, so Pfaller. So etwas führe „zu jenem Zorn, der die Wähler ins Lager der Rechten treibt, ohne dass sie von dort überhaupt eine andere ökonomische Politik erwarten dürften.“
Warnung vor gefährlicher Hysterie unter Linken
In seinem Buch fordert der Philosoph, „solche postmodernen Pseudopolitiken müssen endlich von links kritisiert werden, damit diese notwendige Aufgabe nicht länger zur Beute der Rechten werden kann.“ Er kritisiert dabei vor allem die Sozialdemokratie, die mit ihrer Politik das Erstarken der Rechten ermöglicht habe, deren Angriffe sie dann dazu nutze, sich als „einzige Alternative zu präsentieren“. Mit der Folge:
„Wer immer ihre Pseudopolitik wirklich von links kritisiert, wird sofort von ihren Mitläufern als Rechter oder als ‚Verschwörungstheoretiker‘, wenn nicht überhaupt gleich als Sexist oder Rassist beschimpft“.
Diese Diskursmuster hätten Politiker wie Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht ebenso wie Wissenschaftler wie Daniele Ganser „oft genug am eigenen Leib erfahren“:
„Alles, was geeignet scheint, die Interessen der verarmenden Klassen zu wahren und der Rechten endlich den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird von den strammen Opportunisten der pseudoprogressiven politischen Mitte sofort mit dem vernichtenden ‚Querfront‘-Vorwurf bedeckt.“
Das passende Schauspiel boten am Tag des Interviews mit Pfaller in Berlin Einige aus der Partei mit dem anmaßenden Namen „Die Linke“. Eine Auszeichnungsveranstaltung für den Publizisten Ken Jebsen am Donnerstag war Anlass für Vertreter der Linkspartei, die Veranstaltung verhindern zu wollen und vor der „Querfront“ zu warnen. „Die Linke ist derzeit sehr schnell bereit, Leute auszuschließen und nicht sprechen zu lassen“, kommentierte das der österreichische Philosoph. Es wäre besser, das freie Sprechen Anderer und den Austausch von Argumenten zuzulassen. Wenn diese schlecht seien, hätte die Linke genug gute Argumente, diese zu widerlegen.
„Wenn sie gute Argumente haben, dann sind wir vielleicht in der Lage, von ihnen zu lernen. Das ganz rasche Stempeln von Menschen zu Unpersonen, mit denen man nicht spricht und die nicht sprechen dürfen, ist eine sehr gefährliche Hysterie.“
Pfaller warnte vor „schnellen standrechtlichen Urteilen“ mit Hilfe der sogenannten sozialen Medien.
Am Schluss seines Buch betont er:
„Das entscheidende politische Problem der nächsten Zukunft westlicher Gesellschaften wird die Frage sein, ob die Empörung und Verzweiflung der aufgrund neoliberaler Politik um elementare Lebensstandards gebrachten und zunehmend verarmenden Bevölkerungsgruppen einen Ausdruck finden kann – und zwar einen anderen als jenen, den rechtspopulistische Parteien ihr geben wollen.“
Das sei auch eine Frage der Sprache.
Robert Pfaller: „Erwachsenensprache – Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“
Fischer Taschenbuch Verlag 2017, Paperback; 247 Seiten; Preis € (D) 14,99 / € (A) 15,50
ISBN: 978-3-596-29877-8