Migration: Was Russland Deutschland voraushat – und wo es Gemeinsamkeiten gibt

Für Deutschland bedeutet Einwanderung etwas anderes als für Russland. Gemeinsam haben beide Länder die Aufgabe der Integration. Wie diese durch soziale Arbeit gelingen kann, damit hat sich am 13. und 14. November eine deutsch-russische Tagung in Bad Sooden-Allendorf (Hessen) beschäftigt. Eine Erkenntnis: In Russland gibt es sehr moderne Ansätze.

Insgesamt etwa 70 Wissenschaftler und Studenten der privaten deutschen „Diploma Hochschule“ und der Moskauer Universität waren nach Bad Sooden-Allendorf gekommen. „Soziale Arbeit und Migration im Ländervergleich Russland und Deutschland“ war das Thema des zweitägigen Austausches. Die Vorträge und Workshops beschäftigten sich mit „Fragen der soziokulturellen Adaption und Integration von Migranten“ in Russland, mit Rahmenbedingungen für die Integration in Deutschland, mit den politischen Vorgaben für soziale Arbeit mit Geflüchteten bis hin zur Arbeit mit Kindern und wissenschaftlichen Fragen.

Die beiden Hochschulen arbeiten seit etwa einem Jahr zusammen, berichtete Natalja Komarowa, Professorin an der Staatlichen Regionalen Universität Moskau (MGOU). Die erste gemeinsame Tagung habe es 2016 in Moskau gegeben. In diesem Jahr sei es nun nach Deutschland gegangen. „Es ist ein wissenschaftlicher Austausch über Migration und die Herausforderungen in den jeweiligen Gesellschaften“, erklärte Birgit Wartenpfuhl, Professorin und Studiendekanin der „Diploma Hochschule“.

Geringere Sprachbarrieren in Russland

Zu den Unterschieden der Migration nach Russland im Vergleich zu der nach Deutschland gehört unter anderem, dass Einwanderer nach Russland vor allem aus den früheren sowjetischen Teilrepubliken in Zentralasien wie Tadschikistan oder Usbekistan kommen und allein einen Anteil von 85 Prozent stellen. Vor allem die dortigen Lebensverhältnisse und geringeren Arbeitsmöglichkeiten führen zur Migration. Das berichtete MGOU-Wissenschaftlerin Komarowa auf der Tagung.

Damit verbunden ist nach ihren Angaben, dass etwa 60 Prozent dieser Migranten russisch sprechen und damit Sprachbarrieren für die Integration niedrig sind. Nach Deutschland kommen dagegen Migranten aus EU-Staaten und aus aller Welt, insbesondere aus den Maghreb-Staaten sowie aus Syrien, Afghanistan, Irak und einigen afrikanischen Staaten. Sie kommen aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen und zumeist ohne Deutschkenntnisse.

Insgesamt gebe es in Russland rund zehn Millionen Einwanderer bei einer Gesamtbevölkerung von rund 142 Millionen. Die meisten würden Arbeit suchen, um mit dem Geld ihre Familien zuhause zu unterstützen. Ein Problem sei die illegale Beschäftigung, erklärte die Wissenschaftlerin im Sputnik-Interview. Nach ihren Angaben arbeiten allein in Moskau etwa eine Million Migranten. Doch nur rund 400.000 seien offiziell gemeldet. Die Kehrseite des Prozesses sei, dass Russen mit einem höheren Bildungsabschluss ihre Heimat Richtung Westen verlassen würden, während junge Männer mit einem niedrigeren Bildungsabschluss aus den GUS-Staaten einwandern. Und: Die illegalen Migranten würden von der Bevölkerung oft als Gefahr gesehen, sagte Komarowa.

Ähnliche Probleme, aber andere Konzepte

Es sei um Konzepte in den beiden Ländern ebenso wie um gute Beispiele („Best practice“) für Integration gegangen. Aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen bis hin zur UN-Kinderrechtskonvention und die Menschenrechte hätten eine Rolle gespielt, so Wartenpfuhl. „Wir haben insbesondere über die Aufgaben der sozialen Arbeit gesprochen, zu der die anwaltliche Aufgabe gehört – also die geflüchteten Menschen zu begleiten, weil das sonst niemand hier in der Gesellschaft tut.“

Die deutsche Wissenschaftlerin meinte im Sputnik-Gespräch, dass die Probleme in beiden Ländern ähnlich seien. Das habe sich im Verlauf der Tagung gezeigt. Beide Länder  stünden vor der Aufgabe der Integration von Zuwanderern. Im Unterschied zur generalistischen, also sehr allgemeinen Ausbildung für Sozialarbeiter in Deutschland sei diese  in Russland spezialisierter, auch mit Blick auf die Migration, was vorteilhaft sei..

Moderne Ansätze in Russland

Bereits seit 2012 gebe es in Russland eine Konzeption für die Migrationspolitik, berichtete die MGOU-Wissenschaftlerin Komarowa. Dabei stünden vor allem die soziokulturellen Aspekte der Integration und Anpassung von Einwanderern und ihren Familien im Mittelpunkt. Es gehe unter anderem darum, die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen auszugleichen. Deshalb widme sich auch die Regierung diesen Aufgaben. Laut der Professorin wird an einem russischen Migrationsgesetz gearbeitet, das spätestens 2019 verabschiedet werden soll. Aus ihrer Sicht lassen sich die sozialen und kulturellen Aspekte der Integration in der sozialen Arbeit nicht voneinander trennen. Entscheidend sei immer die jeweilige konkrete Situation der Migranten, wenn es darum gehe, welcher Akzent mehr Gewicht habe. Das Gesetz werde sich vor allem der sozialen Arbeit widmen und soll diese stärken.

„Diploma“-Dekanin Wartenpfuhl bezeichnete die politischen Ansätze in Russland beim Thema Migration zum Teil als sehr modern. Auf der Tagung war von deutschen Teilnehmenden kritisiert worden, dass sich der Staat hierzulande zunehmend aus der sozialen Arbeit zurückgezogen habe. Zwar könne die soziale Arbeit mit Migranten in Deutschland auf eine jahrzehntelange Praxis und Erfahrungen zurückgreifen und sei meist sehr professionell. Das sei für die russischen Partner interessant. Aber hierzulande sei mehr staatliche und politische Unterstützung bei den Rahmenbedingungen notwendig, wurde laut der Dekanin mehrfach geäußert.

Rückzug des Staates in Deutschland

Deutschland sei schon lange ein Einwanderungsland. „Wir können da viel mehr machen, und da ist auch die staatliche Gesetzgebung gefordert“, stellte Wartenpfuhl fest. „Migrations-Sozialarbeit ist Aufgabe der staatlich finanzierten professionellen sozialen Arbeit und darf nicht überwiegend von Ehrenamtlichen geleistet werden. Das ist ein grundsätzliches Problem, das wir haben, dass der Staat sich immer mehr zurückzieht. Das ist ein allgemeines Problem. Das ist auch ein Unterschied zu Russland,  dass der Staat dort stärker ist.“

Die Tagung sei für alle Beteiligten sehr interessant gewesen, findet Valeri Makarchenko, Berater des MGOU-Rektorats für internationale Fragen. Dazu habe der Austausch von unterschiedlichen Meinungen und Sichten auf die Migration beigetragen. Er unterstützte das deutsche Anliegen, dass die soziale Arbeit durch Fachleute geleistet werden müsse. Das sei schon wegen der komplexen rechtlichen Fragen in diesem Zusammenhang notwendig.

Austausch wird fortgesetzt

Eine gemeinsame Erkenntnis war laut einem Bericht der Organisatoren, dass der Spracherwerb und das Erlernen der kulturellen Gepflogenheiten ganz entscheidend für eine Integration von Migranten in das jeweilige Land seien. „Ein Augenmerk der sozialen Arbeit sollte auf Familien gelegt werden: Während die Eltern noch stark der Heimat verbunden sind, befinden sich Kinder und Jugendliche in dem Spannungsfeld der alten und neuen Heimat. Dies kann zu großen Spannungen in den Familien und zu großen Probleme für die Heranwachsenden führen.“ Deshalb sollte besonders die Familienarbeit für Migranten mit Blick auf das Kindeswohl gestärkt werden, hieß es.

Beide Hochschulen wollen den Austausch und die Zusammenarbeit fortsetzen, wie Komarowa und Wartenpfuhl gegenüber Sputnik bestätigten. Dazu gehörten nicht nur solche Tagungen, sondern auch gemeinsame Projekte und Studentenaustausche. So seien gleichzeitig zehn Studierende von der Moskauer Universität für mehrere Tage in Deutschland gewesen und hätten soziale Einrichtungen in Leipzig sowie den dortigen „Diploma“-Standort besucht.