„Absolute Katastrophe für Demokratie“: Deutsches Ja zu EU-Rüstungspakt Pesco

Als Skandal und als Katastrophe bezeichnen Kritiker, dass die alte Bundesregierung am neuen Bundestag vorbei die Vereinbarung von EU-Mitgliedsstaaten für eine engere Zusammenarbeit im militärischen und im Rüstungsbereich mitunterzeichnet hat. Sie warnen vor der Entwicklung hin zu einer weiter militarisierten EU und kritisieren das Feindbild Russland.

Die Außen- und Verteidigungsminister von 23 der 28 EU-Staaten hatten am Montag in Brüssel die Vereinbarung für die sogenannte ständige strukturierte Zusammenarbeit, offiziell Pesco genannt, unterzeichnet. Sie soll laut Nachrichtenagenturen offiziell im Dezember starten. Während Befürworter von einem „Schritt hin zu einer Europäischen Verteidigungsunion“ sprechen, warnen Kritiker vor einer weiteren Militarisierung der Europäischen Union (EU) und verweisen auf das undemokratische Zustandekommen.

Mit dem am Montag unterschriebenen Dokument verpflichten sich die 23 EU-Staaten zur Einhaltung von 20 konkreten Teilnahmebedingungen. Dazu gehören laut der Nachrichtenagentur DPA eine regelmäßige Erhöhung der Verteidigungsausgaben, die Beteiligung an gemeinsamen Rüstungsprojekten und die Bereitstellung von Soldaten für die Krisenreaktionskräfte der EU.

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) begründete Pesco laut DPA unter anderem mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Und: „Wenn es eine Krise gibt in unserer Nachbarschaft, müssen wir handlungsfähig sein.“ Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) habe erklärt, dies sei ein „großer Schritt in Richtung Selbstständigkeit und Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU“.

Alte Bundesregierung ignoriert neuen Bundestag

Gabriel und von der Leyen sahen den Agenturberichten zufolge kein Problem darin, dass sie für Deutschland unterzeichneten, obwohl in Berlin Sondierungen für eine neue Bundesregierung laufen und das alte Kabinett nur noch geschäftsführend im Amt ist. „Es sind damit keine konkreten Haushaltsverpflichtungen verbunden“, sagte Gabriel laut DPA.

Es handele sich nicht um eine unverbindliche Erklärung, sondern um einen rechtsverbindlichen Vertrag mit einem Aktionsplan, widersprach Claudia Haydt von der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) in Tübingen Gabriels Aussage. Gegenüber Sputnik wies sie darauf hin, dass zukünftige Regierungen der EU-Teilnehmer daran gebunden seien, wie vereinbart mehr Geld ins Militär zu stecken. Es sei eine grundlegende Entscheidung für mehr Rüstungsausgaben und mehr deutsche Soldaten in Auslandseinsätzen. Das Zustandekommen mit Hilfe der abgewählten Regierung am neugewählten Bundestag vorbei bezeichnete die Rüstungsgegnerin als „absolute Katastrophe, wenn wir Demokratie ernst nehmen“.

Das sei „schlichtweg ein Skandal“, stimmte der EU-Experte Andreas Wehr zu, „dass hier Festlegungen getroffen werden über eine langfristigere, intensivere Zusammenarbeit, die natürlich sehr viel Geld kosten wird.“ Darüber seien die zuständigen Bundestagsausschüsse für Europa und Verteidigung nicht angehört worden, wie es auch keine Bundestagsdebatte zu dem Thema gab. „Die ganze Sache hätte erst von einer Regierung akzeptiert werden dürfen, die vom Bundestag gewählt wird und dann im Amt ist.“

Feindbild Russland als „Irrweg“

Die Pesco-Pläne habe es bereits vor der Wahl von Trump zum US-Präsidenten gegeben, setzte IMI-Aktivistin Haydt den Aussagen von der Leyens entgegen. Dabei handele es sich nur um ein „Argument, das sich in der Öffentlichkeit gut verkaufen lässt“. Die IMI-Aktivistin widersprach ebenso der von den Rüstungsbefürwortern behaupteten russischen Bedrohung für die EU. Sie halte stattdessen „die Möglichkeit einer besseren Nachbarschaft für den richtigen Weg“ gegenüber einer zugespitzten Militärkonfrontation.

„Ich halte das für einen kompletten Irrweg, zu glauben, dass man mit einer solchen EU-Armee oder einer ‚Koalition der Willigen‘ als EU-Armee zu einer besseren Nachbarschaft mit Russland kommen wird. Ich befürchte, diese bessere Nachbarschaft ist auch gar nicht gewollt.“

EU-Experte Wehr meinte dazu im Sputnik-Interview: „Natürlich muss man, wenn man mehr Geld für Rüstung, für Verteidigung, also für den militärisch-industriellen Komplex ausgeben will, auch ein Feindbild entwickeln, am besten sogar mehrere.“ Beim Feindbild Russland würden die EU-Staaten ihre eigene Verantwortung übersehen, so zum Beispiel durch die Unterstützung der Ereignisse in der Ukraine 2013/2014, die die Situation verschärft hätten. Auch für die angebliche russische Bedrohung der baltischen Staaten gebe es keinerlei Grundlage. Das Feindbild werde seit einigen Jahren eingesetzt, um die höheren Militärausgaben gegenüber der eigenen Bevölkerung begründen zu können und sie daran zu gewöhnen.

Mehr Nato-Integration statt mehr EU-Autonomie?

Wehr sieht Pesco unter anderem als Reaktion auf den Brexit. Ein deutsch-französisches Papier vom September 2016 habe darauf reagiert und die Vereinbarung von Montag vorbereitet. Mit Großbritannien verliere die EU „einen der wichtigsten militärischen Mitspieler“. Der aktuelle Druck der US-Regierung auf die Nato-Mitglieder, mehr Rüstungsgüter in den USA zu kaufen, spiele zudem eine Rolle. Pesco sei „ein Versuch, sich erst einmal zusammenzuraufen nach dem Austritt von Großbritannien. Der große Durchbruch ist es nicht.“

Für IMI-Aktivistin Haydt geht es erkennbar auch um mehr strategische Autonomie der EU von der Militärmacht USA. In der Praxis werde es aber „eher nicht der Fall sein, dass es hier im größeren Ausmaß um mehr unabhängige EU-Politik gehen wird“. Es würden dagegen „faktisch durch die Hintertür“ Staaten in die Nato integriert, die bisher neutral waren, so Österreich, Zypern und Schweden. Alle in Pesco geplanten Schritte seien „vollständig kompatibel mit der Nato“.

Haydt sieht in Pesco einen Schritt hin zu einer EU-Armee und „mehr und mehr zu einem losgelösten europäischen Militär mit so gut wie keiner demokratischen Kontrolle“. Aus ihrer Sicht soll die Bevölkerung mit wechselnden Begriffen daran gewöhnt werden. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD von 2013 wurde bereits als Ziel beschrieben: „Wir streben einen immer engeren Verbund der europäischen Streitkräfte an, der sich zu einer parlamentarisch kontrollierten europäischen Armee weiterentwickeln kann.“

Haydt hatte im Vorfeld der EU-Vereinbarung am Montag auf der IMI-Homepage in dem Beitrag „Pesco ist kein Fisch“ vor einem zunehmend „undemokratischen und militaristischen Kerneuropa“ gewarnt. Aus ihrer Sicht geht es um „neue koloniale Einsätze, schwerpunktmäßig in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten, aber ohne geografische Eingrenzung“.

Sozialdemokratische Widersprüche und Täuschungen

Die Militärkritikerin widersprach Behauptungen von Gabriel und anderen Befürwortern wie dem ehemaligen verteidigungspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagesfraktion, Rainer Arnold, die bei Pesco von einem „Beitrag zur Kostensenkung“ sprachen. Letzterer hatte das in einem Beitrag für die Zeitschrift „Welttrends“ im August dieses Jahres erklärt. Gabriel verspricht sich laut DPA eine „sinnvollere Ausgabenpolitik“.

„Es wird nicht billiger, wie behauptet wird, sondern es wird deutlich teurer für die europäischen Steuerzahler“, stellte Haydt mit Blick auf die bei Pesco vereinbarten höheren Rüstungsausgaben fest. „Ich gehe davon aus, dass hier nicht mehr gespart wird, sondern dass man für das ausgegebene Geld mehr Rüstungsgüter kaufen kann.“ Es gelte das Motto „More Bang for the buck“ (deutsch: „Mehr Knall für das Geld“).

EU-Kritiker Wehr meinte dazu mit Blick auf die SPD und deren letzten Wahlkampf, diese müsse mit sich ausmachen, was sie denn nun wolle, ob mehr Rüstungsausgaben oder weniger. Die Unterstützung für Pesco gehe in eine ganz andere Richtung als das, was die führenden Sozialdemokraten im Wahlkampf erklärt hatten.