Armutszeugnis für Deutschland: Millionen Kinder wachsen dauerhaft in Armut auf

„Kinder, die einmal von Armut betroffen sind, bleiben es meistens länger“, stellt eine am Montag veröffentliche Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung fest. Danach wächst etwa jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf – und das dauerhaft. Sozialorganisationen fordern die Politik auf, endlich zu handeln.

Rund 21 Prozent aller Kinder in Deutschland leben über eine Zeitspanne von mindestens fünf Jahren dauerhaft oder wiederkehrend in Armut. Das gehört zu den Ergebnissen der am Montag veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Für weitere zehn Prozent sei dies ein „kurzzeitiges Phänomen“. Das betrifft insgesamt über drei Millionen Kinder im Alter bis 15 Jahre. „Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand“, erklärte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, dazu in einer Pressemitteilung. „Wer einmal arm ist, bleibt lange arm. Zu wenige Familien können sich aus Armut befreien.“

Die Forscher haben für die Studie nach Angaben der Stiftung über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg die jährliche Einkommenssituation von Familien untersucht. In Armut leben laut Definition Kinder in Familien, die entweder mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens auskommen müssen oder staatliche Grundsicherungsleistungen beziehen. Diese Grenze lag 2016 für eine Familie mit zwei Kindern bei 2035 Euro im Monat. Die Studie verweist auf drei überproportional gefährdete Gruppen: Kinder von alleinerziehenden Eltern, solche mit mindestens zwei Geschwistern oder mit geringqualifizierten Eltern.

„Unglaubliches armuts- und gesellschaftspolitisches Versagen“

„Es ist besorgniserregend, wie verbreitet Kinderarmut in Deutschland ist“, kommentierte Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. „Es ist ein unglaubliches armuts- und gesellschaftspolitisches Versagen, das sich in diesen Zahlen ausdrückt“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, in einer Erklärung zu der Studie.

„In einem Land wie Deutschland zeichnet sich Kinderarmut nicht allein durch materielle Entbehrungen, sondern auch durch Ausgrenzung und damit fehlende Teilhabe an Aktivitäten aus, die für andere Kinder selbstverständlich sind“, erklärte Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, am Montag. Ähnlich wird es in der Studie beschrieben.

Im Wahlkampf kaum Thema – Hoffnung auf neue Regierung

Das Kinderhilfswerk stellt der letzten Bundesregierung „in der Gesamtschau ein schlechtes Zeugnis bei der Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland aus“, so Geschäftsführer Hofmann. „Die wenigen Lichtblicke der letzten Legislaturperiode wie die Anhebung des Kinderzuschlags oder die Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss reichen bei weitem nicht aus.“ Die Organisation warnt wie andere schon seit Jahren vor der anhaltend hohen Kinderarmut und deren Folgen für die Heranwachsenden. Darauf wies Nina Ohlmeier, beim Kinderhilfswerk für Politische Kommunikation zuständig, im Gespräch hin.

Sie bedauerte, dass das Thema im Wahlkampf nur „eine kleine Rolle“ gespielt habe. „Da hätten wir uns mehr gewünscht. Manche Parteien haben es ja stark gemacht. Aber auch darüber hinaus hätte man das Thema noch mehr angehen können. Wir hoffen natürlich jetzt, dass das Thema Kinderarmut auch im Koalitionsvertrag auftaucht und aus den Sondierungsgesprächen heraus konkrete Maßnahmen kommen.“ Dafür sei es sinnvoll, dass eine solche Studie zum jetzigen Zeitpunkt erscheine.

„Die zukünftige Familien- und Sozialpolitik muss die Vererbung von Armut durchbrechen. Kinder können sich nicht selbst aus der Armut befreien – sie haben deshalb ein Anrecht auf eine Existenzsicherung, die ihnen faire Chancen und ein gutes Aufwachsen ermöglicht“, hob Bertelsmann-Stiftungs-Vorstand Dräger hervor.

„Kinderarmut ist immer auch Elternarmut“

Für das Kinderhilfswerk geht es „nicht nur um die Ausstattung von Kindern mit dem Allernötigsten, sondern für alle Kinder muss gesellschaftliche Teilhabe ausreichend möglich sein.“ Verbandsvertreter Hoffman stellte klar: „Kinderarmut darf nicht kleingeredet, sondern sie muss durch konkrete politische Maßnahmen beseitigt werden“. Er verlangte eine zeitnahe Anhebung der Kinderregelsätze auf ein armutsfestes Niveau, eine Reform des Kinderzuschlags hin zu einer Kindergrundsicherung sowie ein Bundeskinderteilhabegesetz. Auch die Infrastruktur für sozial benachteiligte junge Menschen müsse durch den Bund gefördert werden.

Das Kinderhilfswerk sieht für einen „Bundesweiten Aktionsplan gegen Kinderarmut“ einen besonderen Schwerpunkt im Bildungsbereich. Hier vermisse die Kinderrechtsorganisation „an vielen Stellen den politischen Willen, sich dem drängenden, strukturellen Problem der schlechten Bildungschancen der von Armut betroffenen Kinder in Deutschland anzunehmen“, so ihr Geschäftsführer Hoffmann. Kinder aus armen Familien haben hierzulande unverändert schlechtere Bildungschancen, wie kürzlich die Studie „IQB-Bildungstrends 2016“ erneut bestätigte.

Geschäftsführer Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband warnte allerdings:

„Wir werden die Kinder auch mit noch so vielen Bildungsprogrammen niemals aus der Armut herausbekommen, wenn wir nicht die finanzielle Situation für die ganze Familie verbessern. Es gibt keine armen Kinder ohne arme Familien.“

Er verlangte neben „einer Kindergrundsicherung in Höhe von 573 Euro, einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Angebote der Jugendarbeit, eine bedarfsgerechte Erhöhung der Regelsätze auch für die Eltern in Hartz IV, einen Ausbau öffentlich geförderter Beschäftigung und weitere passgenaue Hilfen für Langzeitarbeitslose sowie gezielte Angebote zur Unterstützung Alleinerziehender“. VdK-Präsidentin Mascher forderte ebenfalls höhere Regelsätze für Kinder und erinnerte: „Kinderarmut ist immer auch Elternarmut. Gute armutsfeste Arbeit, Ganztagsbetreuung und eine familienfreundlich umgestalte Arbeitswelt sind u.a. notwendig, damit Eltern ihre Kinder besser materiell absichern können.“