„Jamaika-Koalition wird Probleme des Landes nicht lösen“

Eine schwarz-gelb-grüne Regierung halten Politikexperten für möglich. Das kann aber nur eine Übergangsregierung sein, so der Parteienforscher Nils Diederich. Ohne bessere Lage der Menschen geht der Rechtsruck weiter, sagt der Linken-Politiker Klaus Ernst. Politologe Alexander Rahr glaubt, eine mehr konservative CDU gewinnt Wähler von der AfD zurück.

von links: MdB Klaus Ernst, Prof. Nils Diederich, Dr. Alexander Rahr

„Eine starke Mehrheit der Wähler hat sich ein Ende der großen Koalition, der GroKo, gewünscht“, so das Fazit des Parteienforschers und Ex-SPD-Bundestagsabgeordneten Nils Diederich zur Bundestagswahl. Ein beachtlicher Teil der Wähler habe zudem enttäuscht von den etablierten Parteien für die AfD gestimmt. Der Politikwissenschaftler, der an der Freien Universität (FU) Berlin lehrte, sagte das am Montag in Berlin bei einer von der Medienagentur MIA Rossiya Segodnya organisierten Videokonferenz deutscher und russischer Politiker und Politikexperten. Diese beschäftigte sich mit den Ergebnissen der Wahl am Sonntag. Neben der Frage, was das Wahlergebnis für das künftige deutsch-russische Verhältnis bedeutet, ging es um die Folgen für die Bundesrepublik selbst.

Diederich verwies auf die Wählerwanderungen von der Union (eine Million), der SPD (500.000) und auch von der Linkspartei (400.000) hin zur AfD. Diese zeige eine „langfristige Enttäuschung der Menschen, der Abgehängten, die Protest gewählt haben“. Dem stimmte der Politologe Alexander Rahr zu. Der Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums verwies darauf, dass die AfD auch deutliche Zustimmung in Westdeutschland bekam, wenn auch nicht so stark wie im Osten. Er sprach von einem „Denkzettel für die CDU und Angela Merkel“ als eine Reaktion auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Rahr schätzte ein, „dass die Menschen sehr schnell wieder die CDU oder andere Parteien wählen würden, wenn Frau Merkel sich wieder von links Richtung Mitte und Richtung der konservativen Wählerschaft bewegen würde“.

Ausländerfrage als Ventil für Unzufriedenheit?

Parteienforscher Diederich erinnerte an die „alte Erfahrung, dass unzufriedene Wähler oftmals ein Thema wählen, das für sie die gesamte Politik repräsentiert. Das ist genau die Ausländerfrage. In Ostdeutschland, wo es den meisten Zulauf für die AfD gegeben hat, ist der Anteil der zugewanderten Ausländer besonders gering.“ Der Effekt sei auch in Berlin festgestellt worden. „Die Ausländer sind sozusagen ein Gleichnis oder eine Metapher für die Wähler, wo sie ihren gesamten Unmut hineinpacken.“

Das bedeutet laut Diederich nicht, das mit einem gelösten Problem der Zuwanderung alles wieder in Ordnung ist. Die Politik müsse den Wählern zeigen, dass sie ihre Probleme ernst nimmt und berücksichtigt. Der Parteienforscher hält es für diskussionswürdig, ob das in Zukunft mit einer neuen schwarz-grün-gelben Regierung gelingt.

Die bisherigen Regierungsparteien „haben sich um einen großen Teil der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr gekümmert, um all jene, die als Ausgegrenzte gelten“. Das sagte der wiedergewählte Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Klaus Ernst, in der Diskussionsrunde. „Das betrifft zum Beispiel die Rentnerinnen und Rentner, von denen viele wissen, dass ihre Rente nicht mehr zum Leben reicht.“ Das habe er selbst oft an Infoständen im Wahlkampf erlebt, so Ernst, der auch an die Niedrigverdiener erinnerte.

Politik an der Realität der Menschen vorbei

„An diesen Menschen ist der Wohlstand vollkommen vorbeigegangen. 40 Prozent der Menschen haben Reallöhne wie vor 15 Jahren. Das ist deren Realität.“ Das habe den wiederholten Behauptungen von Merkel und ihres Koalitionspartners SPD widersprochen, sie hätten alles richtig gemacht oder sie würden als Sozialdemokraten nun alles anders machen. Dazu sei die Zuwanderung gekommen mit der Versorgung der Geflüchteten. „Das ganze Problem beim Flüchtlingsthema“ sei, „wenn man die eigenen Leute in diesem Land nicht deutlich besser sozial stellt und sich um die nicht kümmert“. Das habe für den Zulauf der AfD gesorgt, so der Linken-Politiker aus Bayern.

Parteienforscher Diederich hält eine bürgerliche „Jamaika-Koalition“ für möglich. Merkel werde mit ihrem Verhandlungsgeschick „jedem so viel geben, dass daraus eine Regierung zustande kommt.“ Der Drang auch bei FDP und Grünen, zu regieren, sei „so groß, dass sie sich einigen werden“, ergänzte Linken-Abgeordneter Ernst. Diederich bezweifelt, dass diese Regierung eine „vernünftige Reformpolitik“ machen werde. Er beschrieb als „Ausgangsposition der ‚Jamaika-Koalition‘“: „Wir werden weiter Marktwirtschaft haben, mit einer starken Tendenz zur Umverteilung von unten nach oben. Die Reichen, die Kapitalbesitzer sahnen den Zuwachs des Bruttosozialproduktes ab. Die Schwächeren kriegen zwar auch etwas, aber jedenfalls nicht das, was ein Gefühl der gerechten Verteilung entstehen lässt.“

Absturz von Merkel nur „verkleistert“

Wenn es zu einer schwarz-gelb-grünen Regierung komme, werde eine Diskussion um die Merkel-Nachfolge beginnen, schätzte der Politologe und Ex-Bundestagsabgeordnete ein. Der Absturz Merkel sei nur „verkleistert“ worden, weil andere Parteien auch verloren haben. Die Regierungszeit der Kanzlerin gehe zu Ende, meinte Diederich. „Eine ‚Jamaika-Koalition‘ kann nur eine Übergangsregierung sein, weil sie die großen Probleme in Deutschland gar nicht lösen kann, weil sie gezwungen ist, lauter kleine Kompromisse zu machen. Es beginnt jetzt eine spannende und sehr interessante Zeit, in der wir möglicherweise die Wiederbelebung einer großen politischen Diskussion in Deutschland und eine Neusortierung der Parteienlandschaft erleben können.“

Linken-Angeordneter Ernst, der darauf verwies, dass seine Partei zu den Wahlgewinnern gehöre, sagte zu möglichen Regierungsbildung: „Das Problem ist, dass es vier Parteien (einschließlich CSU – Anm. d. Red.) sind, die da koalieren müssen, und dass natürlich die Unterschiede gravierend sind, allein bei der Frage der Ökologie.“ Zur Absage der SPD an eine neue Große Koalition meinte Ernst: „Ich glaube, das ist noch nicht gegessen.“ Er halte nicht für ausgeschlossen, dass die Sozialdemokraten aus Staatsverantwortung wieder mitregieren, „wenn die anderen eine Regierung nicht zustande bekommen“.

„Wenn es allerdings zu dieser ‚Jamaika-Koalition‘ käme und diese es nicht schafft, tatsächlich die reale Lage der Menschen zu verändern, wird der Rechtsruck in dieser Republik weitergehen. Davon bin ich überzeugt.“ Wenn die sozialen Fragen nicht gelöst würden, dann blieben die Wähler in Größenordnungen bei „dieser diffusen AfD“. Eine Koalition aus Union, FDP und Grünen werde die Bundesrepublik nicht so verändern, „dass es wieder ein Land wird, wo alle vernünftig leben können“. Mit einer solchen Regierung werde die Umverteilung von unten nach oben weitergehen, stimmte Ernst dem Parteienforscher Diederich zu.