„Merkels ‚werteorientierte‘ Außenpolitik ist gescheitert“ – Politikmagazin

Klare Kritik an der Außenpolitik unter Merkel bietet die neueste Ausgabe der Potsdamer Zeitschrift „WeltTrends“ geübt. Politologen analysieren darin auch, wie die Kanzlerin den aktuellen Konflikt mit Russland förderte, statt sich für Verständigung einzusetzen.  Und: Berlin hat die derzeitigen Krisen und Konflikte sowie deren Folgen mitverursacht.

Kanzlerin Angela Merkel hat mit ihrem „fehlgeleiteten Weitblick auf Russland“ und ihrer „moralisierenden Werte-Litanei“ dafür gesorgt, dass die Bundesrepublik und Russland heute weiter auseinander liegen als vor ihrer Amtsübernahme im Jahr 2005. Das ist das Fazit des Politologen Alexander Rahr, der in dem aktuellen „WeltTrends“-Heft über „Merkels Russlandpolitik“ schreibt. Der Programmdirektor im Deutsch-Russischen Forum und Chefredakteur des Onlinemagazins russlandkontrovers.de meint, dass die Kanzlerin nach den für sie sicheren Wahlen am 24. September „vor einer außenpolitischen Zäsur“ stehe. Dazu gehöre, sich für einen „europäischen Frieden mit Russland“ einzusetzen, ohne den sich die EU nicht von den US-amerikanischen Interessen loslösen könne.

Rahr wirft Merkel vor, dass sie sich mit der Amtsübernahme 2005 „von der Leitlinie ihrer Vorgänger entfernte“:

„Alle vorangegangenen Bundeskanzler respektierten die Sowjetunion (später Russland) als europäische Großmacht und suchten – auch im Kalten Krieg – nach einem strategischen Ausgleich mit Moskau in Europa.“

„Vermutlich wurde Merkel in einer Zeit Kanzlerin, als es keine deutsche, sondern nur noch eine europäische Russlandpolitik geben konnte“, sieht der Politologe als einen der objektiven Gründe für den Bruch. Das hänge mit dem Eintritt der ehemals sozialistischen mittelosteuropäischen und baltischen Staaten in EU und Nato zusammen. Deren Eliten sei es gelungen ihre antirussische Haltung und Sicht auf die bisherigen Mitglieder zu übertragen. Merkel habe sich entschlossen, diese Sichtweise zu übernehmen, „um den deutschen Führungsanspruch in EU und Nato nichts aufs Spiel zu setzen“, schätzt Rahr ein. Das sei geschehen, „statt über einen schwierigen Dialog mit Russland nach dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung zu suchen“. Zugleich habe die Kanzlerin starke Rücksicht auf die Grünen und deren antirussische Haltung genommen, da sie 2009 eine Koalition mit ihnen anpeilte.

Große Entfernung zwischen Berlin und Moskau

Hinzu komme die „100-prozentige Loyalität und Gefolgschaft“ der Kanzlerin gegenüber den USA. Merkel habe sogar die Modernisierungspartnerschaft mit Russland gekündigt, erinnert der Politologe – weil sich der Kreml angeblich von den liberalen Werten des Westens verabschiedet habe. Das Ergebnis heute: „Deutsche und russische Auffassungen können heute unterschiedlicher nicht sein.“

Rahr zieht allerdings in einem Punkt den Hut vor Merkel: „Sie hat alles getan, um einen schweren Konflikt zwischen dem Westen und Russland zu vermeiden.“ Ein Beispiel sei, dass sie sich 2008 gegen die Aufnahme von Ukraine und Georgien in die Nato stimmte. Die Kanzlerin sei auch „reserviert“ gegenüber der „Östlichen Partnerschaft der EU gewesen, die mit in den Ukraine-Konflikt führte und mit diesem scheiterte. Zudem gebe es ohne Merkel das Normandie-Format und Minsk II nicht:

„Sie verhinderte einen gesamteuropäischen Krieg, der viel verheerendere Auswirkungen gehabt hätte als die Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre.“

Der Politikwissenschaftler August Pradetto kritisiert in dem Heft mit dem Schwerpunktthema „Außenpolitik im Zeichen der Raute“ diese noch deutlicher. Er war Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Er nennt das deutsche Nein 2008 zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato sowie 2011 zum „desaströsen regime change in Libyen“ als positive Beispiele. „Aber in beiden Fällen gab es ein falsches Entgegenkommen, das sich schließlich von interessierter Seite instrumentalisieren ließ.“, so Pradetto. So habe die Nato 2008 den beiden Ländern einen nicht zeitlich festgelegten Beitritt zugesagt. Und 2011 habe Berlin Washington, London und Paris gegen Libyen politisch unterstützt und zugestimmt, dass Gaddafi „wegmüsse“ und militärische Unterstützung dafür zugesagt. So gehöre die Ukrainekrise seit 2014 zu den „negativen Ergebnissen“ der deutschen Kompromissbereitschaft, ebenso der „failed state“ Libyen.

Berlin mitverantwortlich für Erosion des Völkerrechts

Politikwissenschaftler Pradetto hatte bereits den Krieg der Nato gegen Jugoslawien wegen des Kosovo 1999 kritisiert. Zu den Folgen der von Deutschland aktiv mitgetragenen westlichen Interventionspolitik seitdem gehört für ihn „eine neue Ära der Erosion völkerrechtlicher Prinzipien und der sie repräsentierenden Organisationen wie UNO und OSZE“.

„Mittlerweile versinkt die Nachbarschaft Europas, von der Ukraine über die Türkei, Syrien, Irak, Jemen, Somalia bis Libyen in Krieg, Intervention, Chaos und Flucht. Kaum jemand hält sich noch an die mit dem Ende des Kalten Krieges getroffenen Vereinbarungen und Prinzipien. Eine vor zehn Jahren für nicht möglich gehaltene Aufrüstungsspirale hat eingesetzt.“

Pradetto wird noch deutlicher: „Nichts stärkte den internationalen Terrorismus wie den ‚homegrown terrorism‘ so sehr wie die Kriege in Afghanistan, Irak und Libyen sowie die Intervention in Syrien.“ Für ihn ist auch klar, dass der „Islamische Staat“ (IS) „eine Folge US-amerikanischer Interventionspolitik im Nahen Osten ist“. Terrorismus und Migration würden auf die Interventionsländer einschließlich der Bundesrepublik zurückschlagen, die wiederum ihre inneren Maßnahmen dagegen verstärken. Die Folge ist die „zunehmende Militarisierung von Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, stellt der Politikwissenschaftler fest.

Statt einer „selbstkritischen Analyse“ der bisherigen Politik würden nur die Rüstungsausgaben erhöht, „ohne auch nur den Ansatz einer Analyse bisheriger Ausgaben im Rahmen offenkundig verfehlter Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vorzulegen“. Der gegenwärtige Kurs Berlins, aber auch der EU, setze nur fort, „was das gravierendste Problem der Sicherheitspolitik aller Koalitionen unter Angela Merkel seit 2005 gewesen ist: die fehlende Analyse, wie diese Mittel eingesetzt worden sind, was sie bewirkt haben, welche Defizite festzustellen und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.“

Vereinte Nationen stärken statt mehr Rüstung

Der frühere Bundeswehr-Professor spricht sich dafür aus, durch „ein klares, auf völkerrechtlichen Prinzipen basiertes Auftreten Mehrheiten für eine Sicherheitspolitik“ zu organisieren, die diesen Namen verdiene. Statt Souveränitätsverletzungen, Waffenlieferungen, Interventionen und Unterstützung von „Gewaltgruppen“ in anderen Ländern sei eine „Orientierung auf eine gemeinsame europäische Verteidigung und die Unterstützung der vereinten Nationen“ notwendig, samt unterem anderen einer „eigenständigen Ostpolitik“.

Die Chancen stehen dafür schlecht, wie Jürgen Wagner in dem „WeltTrends“-Heft zeigt. Er schreibt darüber, wie die deutsche Politik unter dem Stichwort der „Verantwortung“ vorantreibt, die globale Ordnung aktiv mitzugestalten, auch mit militärischen Mitteln. Er warnt vor einer neuen deutschen Großmachtpolitik, für die die Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck Anfang 2014 die Richtung wies. Zum Schwerpunktthema der Zeitschrift tragen außerdem Beiträge über die polnische und die tschechische Perspektive bei. Ein weiterer beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Deutschland und der UNO.

Der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Alexander Neu und der Abrüstungsexperte Wolfgang Schwarz äußern sich zudem zur aktuellen Debatte um eine „Europäische Verteidigungsunion“.  Am Ende des Heftes stellt Lutz Kleinwächter, Politikwissenschaftler und Vorsitzender des „WeltTrends“-Vereins fest:

„Merkels ‚werteorientierte‘ Außenpolitik ist gescheitert und die national-egoistische Exportpolitik wirft Konflikte auf.“