Ohne Zukunft und enttäuscht über Gegenwart – letzte Ausfahrt Vergangenheit?

Ein sonniger Samstag im August, vier Wochen vor der Bundestagswahl: Im thüringischen Gotha wird das „Barock-Fest“ im Schloss Friedenstein der Stadt gefeiert. Doch nur wenige Einwohner und Touristen finden den Weg auf den Schlosshof, der über der historischen Innenstadt von Gotha thront.

Gotha im Freistaat Thüringen ist eine eher typische ostdeutsche Stadt: In der DDR und bereits zuvor ein Industriezentrum, wo unter anderem Flugzeuge, Straßenbahnen und Autos gebaut wurden. Heute sind hier das Landrats- und das Arbeitsamt sowie die Bundeswehr die größten Arbeitgeber. In der DDR lernten mehrere tausend Studenten an mehreren Fachschulen der Kreisstadt. Heute sind ihre Zahlen deutlich kleiner und nur noch zwei der Bildungseinrichtungen übrig. Von über 55.000 Einwohnern in den Jahren der DDR gibt es heute nur noch knapp über 45.000 – und das nur dank eingemeindeter Dörfer im Umland. Für die Jahre bis 2030 wird damit gerechnet, dass die Einwohnerzahl weiter sinkt.

An dem Augustsamstag gehe ich durch die Stadt und höre mich um. Ich will wissen, was die Menschen von den Bundestagswahlen am 24. September erwarten, wen sie wählen wollen – und was sie von der grünen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt halten, die aus Gotha stammt. Im Schloss Friedenstein, das über der Innenstadt thront, wird das „Barock-Fest“ gefeiert.

Bleibt nur der Blick zurück?

So wird begrüßt, wer von Eisenach her nach Gotha einfährt

Weil Gegenwart und Zukunft wenig zu bieten haben, landen in Gotha anscheinend viele mit der Hoffnung auf bessere Zeiten nur in der Vergangenheit. Das geht selbst jenen so, die im Rathaus am historischen Hauptmarkt regieren. Gotha ist nicht nur mehr als 1200 Jahre alt, die Stadt gehörte früher zum Herzogtum Coburg-Sachsen und Gotha. Das hatte europaweit verwandtschaftliche Verbindungen zu anderen Herrscherhäusern, bis ins englische Königshaus. Und so wird ganz offiziell mit dem Spruch „Gotha adelt“ geworben. Knut Kreuch, Sozialdemokrat und Oberbürgermeister, träumt gar davon, Mitglieder des britischen Königshauses zum Besuch in die Stadt zu holen. Doch die Gothaer, die mir an dem Augustsamstag davon kopfschüttelnd erzählen, berichten auch von Absagen aus London. Die Vergangenheit zieht nicht so richtig, selbst mit Veranstaltungen wie dem „Barock-Fest“ an dem Samstag nicht.

Während in der Innenstadt die Vergangenheit gefeiert wird, erinnert am Stadtrand an der Straße Richtung Eisenach ein Großplakat der Partei Bündnis 90/Die Grünen an den Wahlkampf. Beinahe trotzig heißt es darauf: „Eine bessere Zukunft kommt nicht von allein.“ Gotha gehört zum Wahlkreis der grünen Spitzenkandidatin Göring-Eckardt. Als solche ist sie nur wenigen, die ich nach ihr frage, ein Begriff, trotz des fast ganzseitigen Beitrages über sie in der Regionalzeitung „Thüringer Allgemeine“ am Vortag.

„Wenn es nur um das Grüne ginge, um die Umwelt, dann würde ich sie wählen, sofort“, erklärt die 73jährige Rentnerin Uta. Aber sie sei eigentlich enttäuscht von allen Parteien und wähle „wahrscheinlich wieder Frau Merkel“. Die habe sie „als Person gern“. Hans-Ulrich Zwetz kennt die Grünen-Politikerin persönlich. Er will sie nicht wählen, fordert aber von ihr, sie solle „nicht nur grün predigen, sondern in der konkreten Situation auch grün handeln“. Der Rentner, immer noch als Stadtführer in Gotha unterwegs, verweist auf den aktuellen Bus-Streit in der Stadt. Bei dem können sich seit Monaten Kommune und Unternehmen nicht einigen, wer nun die öffentlichen Bus-Linien betreibt. Die Folge: Auf jeder Linie fahren immer gleich zwei Busse hintereinander – ein ungewöhnlicher Luxus. Doch nicht nur darum scheint sich Göring-Eckardt bisher wenig gekümmert zu haben, soweit sie Einfluss darauf hat.

Ratschlag: „Auch an die Leute denken, nicht nur an die Umwelt“

Christine Grenke, Rentnerin, gehört ebenfalls zu jenen, die die Fraktionschefin der Grünen persönlich kennen. Sie findet:

„Sie sollte manchmal auch an die Leute denken, nicht nur an die Umwelt. Es gibt auch andere Probleme, die noch ganz wichtig sind und die Leute betreffen.“

Michael Dehmel ist der Nächste, der die prominente Gothaerin kennt, wusste aber noch nicht, dass sie als Spitzenkandidatin antritt. Sie mache „eine gute Arbeit“, meint der 45jährige Angestellte.

„Sie taugt nichts“, ist dagegen für Lothar Brandt klar, weil Göring-Eckardt im Unterschied zu dem anderen Grünen-Spitzenkandidaten Cem Özdemir „nicht ganz ehrlich ist“ und nur „drumrum“ rede.

Rentner Peter Kley sagt, dass er von der Grünen-Frau, die 1984 mit seinem Sohn Abitur machte, nichts halte. Das geht Carsten Jacobs ebenso, dessen Ex-Freundin mit ihr zur Schule ging: Weil sie „eine von denen ist, die momentan am meisten Unfrieden stiften … Mit ihren ganzen Aussagen, die sie in letzter Zeit getroffen hat, wie zum Beispiel, die Frauenkirche hätten die Nazis zerbombt, und, es sind eine Milliarde Flüchtlinge weltweit auf der Flucht und davon kommen ja nur 6,5 Prozent nach Europa. Das sind nach meiner Rechnung 65 Millionen.“

Von der SPD zur AfD

Wann die grüne Spitzenkandidatin das gesagt haben soll, vergesse ich zu fragen. Dafür will ich von dem 51jährigen Logistiker wissen, wen er denn am 24. September wählt. Die Antwort kommt direkt und offen: AfD. „Ich bin dieses Jahr reiner Protestwähler“, erklärt mir Jacobs, „weil ich mit der ganzen Politik, die im Moment hier so betrieben wird, überhaupt nicht einverstanden bin.“ Vor vier Jahren habe er noch SPD gewählt. Aber nun liegt ihm die Ausländerzuwanderung „sehr groß im Magen“, wie er sagt. Ebenso machen ihm „die Kriminalität, die Arbeitslosigkeit, die Billiglöhne usw.“ Sorgen.

Auch Rentner Kley will der AfD seine Stimme geben:

„Weil die anderen Parteien alle kein Konzept haben und vor allem die ganze Flüchtlingspolitik, die da getrieben wird, die schmeckt mir nicht. Wir haben bald keine eigenen Rechte mehr hier.“

Er sei gleichfalls 2013 noch SPD-Wähler gewesen. Doch die Partei mit Kandidat Martin Schulz habe wie die CDU keine Konzepte mehr.

Idealisierte Geschichtsbilder beim „Barockfest“ auf dem Schloßhof

Inzwischen sorgt die Stadt immer wieder für Schlagzeilen, weil manche ihrer Bewohner die faschistischen Jahre 1933 bis 1945 wohl als die „besseren Zeiten“ ansehen. Nun ist die AfD zwar nicht zu diesem Spektrum zu zählen, aber viele ihrer Lösungsvorschläge für aktuelle Probleme klingen wie aus den „guten alten Zeiten“. Und die liegen für die rechtskonservative Partei anscheinend in manchen Punkten noch weiter zurück als die Gründung der Bundesrepublik. Offen Rechtsradikale, die Gotha wiederholt in die Nachrichten bringen, sind an dem Samstagnachmittag in der Innenstadt nicht zu sehen. Auch nicht jene, die als Arbeits- und Chancenlose oder für Arbeit Schlechtbezahlte zu den gesellschaftlich Abgehängten gehören. Sie werden an dem Tag eher in ihren Stadtvierteln geblieben sein, zu denen im Westen Gothas ein großes Plattenbau-Gebiet gehört.

Enttäuscht von den Regierenden

Rentnerin Uta ist zwar von den etablierten Parteien auch enttäuscht, doch sie ist sich sicher: „Die AfD würde ich nie wählen.“ Das begründet sie so:

„Weil sie immer nur den Leuten, die wie ich benachteiligt sind, vorgaukelt, als ob sie sich kümmern würden und könnten. Nein, sie würden nicht und sie können auch nicht.“

Ein inhaltsloses Versprechen auf Zukunft , aus dem nichts wurde, fotografiert 2016

Der 63jährige Lothar Brandt, der in einem Gothaer Café arbeitet, sieht eine andere Alternative und will am 24. September die Linkspartei wählen:

„Weil wir einen Gegenpol brauchen zu dieser Regierung, die wir jetzt haben. Ob das jetzt die SPD und CDU ist – die bringen nichts für das Land. Die bringen das Land nur in den Ruin.“

Für ihn ist aber klar:

„Alleine geht das nicht mit der Linken, das steht fest, nur gemeinsam, so wie das hier in Thüringen läuft: Rot-Rot-Grün. Dann wird sich was verändern. Ansonsten verändert sich hier nichts mehr.“

Nur die 73jährige Uta weiß vier Wochen vorher noch nicht, ob sie wählen geht. Die anderen aus dem Dutzend befragter Gothaer betonen, dass sie das auch jeden Fall machen werden. Michael Dehmel findet „ es ganz wichtig, wählen zu gehen“. Für den körperlich behinderten Mitarbeiter des Landratsamtes ist es „eine demokratische Grundverpflichtung, seine Stimme wahrzunehmen“. Er werde wahrscheinlich am 24. September SPD und Grüne wählen.

Ändert sich am Ende nichts?

Drei sagten auf meine Frage, wen sie wählen werden, sie seien noch unentschlossen. Während drei andere es mir nicht verraten wollen, antwortet neben den beiden AfD-Wählern und dem Linken-Wähler eine Frau, sie gebe wie vor vier Jahren der CDU ihre Stimme. Olaf Messing, 51 und Fahrlehrer aus Gotha, weiß noch nicht, ob er das auch macht. Was er von Angela Merkel wissen wolle, wenn sie nach Gotha käme, frage ich ihn:

„Auf alle Fälle, wie sie sich das weiter denkt mit der Ausländerproblematik. Ich bin nicht gegen Ausländer. Aber die Leute brauchen hier Arbeit, die müssen in Lohn und Brot. Die brauchen Wohnungen irgendwo. Ich komme durch meinen Beruf sehr viel rum. Wenn man sich das so anschaut, sieht es überall nicht so gut aus. Die Leute wollen ja im Prinzip auch leben. Und Leben heißt Arbeit und nicht immer nur Sozialamt. Das wäre eine berechtigte Frage.“

Wahlkampfversprechen á la Angela Merkel

Die Kanzlerin war bereits zum Wahlkampfauftritt in Thüringen und wurde dabei nicht nur freundlich empfangen, so in Apolda. Ein 48jähriger, der anonym bleiben und nicht verraten will, wen er wählt, antwortet, er würde gar nicht hingehen, falls sie nach Gotha käme. Er will zwar seine Stimme abgeben, erhofft sich aber nichts von der Bundestagswahl:

„Auf keinen Fall eine Veränderung. Es wird die Frau Merkel wieder gewählt, wir haben leider einen demografischen Wandel und da sind zu viele Rentner unterwegs. Die wollen schließlich ihre Rente haben, da werden die auch die Frau Merkel wählen.“

Als wolle sie das bestätigen, sagt die noch unentschlossene Rentnerin Uta kurz danach: Wenn sie wählen gehe, dann wahrscheinlich wieder „Frau Merkel“. Das Motiv: „Was man hat, hat man. Was man kriegt, weiß man nicht.“

Natürlich gibt es neben denen, die auf verschiedene Weise auf die Vergangenheit hoffen, und jenen, die kaum Veränderungen erwarten, noch Optimisten in der Stadt, die versuchen, nach vorn zu schauen. Davon kündet unter anderem das örtliche Kulturprojekt „art der stadt e.v.“, mit dem OB Kreuch als Geschichts- und Adel-Fan seine Probleme habe, wie mir erzählt wird. Positiv wirkt auch der städtische Kinder- und Jugendtreff „Zelle“ im Plattenbaugebiet Gotha-West. Dort treffen sich nicht nur Kinder aus der Stadt, sondern genauso jene, die kürzlich auf der Flucht in Gotha landeten oder einst als Russlanddeutsche in den 90er Jahren kamen.

Grünes Pfeifen im Wald …

Aber das Grünen-Plakat kurz vor dem Ortsausgang mit seinem Aufruf „Eine bessere Zukunft kommt nicht von allein.“ wirkt in Gotha wie das berühmte Pfeifen im Walde – und nicht nur dort. Bis auf die Plakate war übrigens an dem sonnigen Samstag vier Wochen vor der Wahl von keiner der Parteien in Gothas Innenstadt irgendetwas zu sehen, was wie Wahlkampf wirkt – als hätten sie die Stadt und ihre Bewohner tatsächlich schon aufgegeben.