Die Regierung umgeht zunehmend das Parlament. Das kritisiert der Politikwissenschaftler Reinhard Mehring. Er ist Experte für das Werk des umstrittenen Rechtsgelehrten Carl Schmitt und sieht aktuelle autoritäre Tendenzen, die die Demokratie gefährden. Er warnt vor einem „Exekutivregime“, das den Parlamentarismus aushebelt.
Professor Mehring, Sie sind Experte für das Werk des umstrittenen Rechtsgelehrten Carl Schmitt. Sie haben kürzlich in einem Interview zu Schmitt interessante Dinge gesagt, was die aktuelle Politik und dadurch die Aktualität von bestimmten Aussagen von Schmitt angeht. Sie haben zum Beispiel von „raffinierten Techniken der Verschleierung“ durch die aktuelle Politik gesprochen, von „rhetorischer symbolischer Politik“, die sich alternativlos darstellt. Das klingt nach deutlicher Kritik an der derzeitigen Politik in der Bundesrepublik, aber auch in Europa. Wie begründen Sie das?
Carl Schmitt war ja ein Autor der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, der eine Krise des Liberalismus in der Weimarer Republik diagnostiziert hat und festgestellt hat, dass liberale Formen der Politik, Parlamentarismus, Grundrechte und anderes ihre Bedeutung gewandelt haben und quasi nicht mehr regierungsfähig sind. In dieser Sicht hat er dann gewissermaßen einen gewaltigen Sprung getan in die Verteidigung des Präsidialsystems und des Nationalsozialismus. Seine Aktualität liegt daran, dass er Tendenzen der Entliberalisierung sehr scharf beobachtet hat. Solche Tendenzen, glaube ich, sehen wir in der einen und anderen Form, sicher auch in neuen Formen, heute immer wieder.
Was mich von Carl Schmitt unterscheiden würde ist, dass ich normativ das liberale Erbe auf jeden Fall verteidigen würde, aber eben doch auch sehe, dass wir mit Tendenzen auch zu autoritären Prozessen, mit Tendenzen der Verschleierung von Entliberalisierungen zu tun haben. Carl Schmitt hat in der Weimarer Republik natürlich auch sehr scharf die Sieger des 1. Weltkrieges kritisiert und das war sozusagen seine Sicht auf die herrschende Politik, sein Impuls, diesen Siegern „die Maske des Rechts vom Leibe zu reißen“. Das muss man immer wieder machen, denn die Macht tarnt sich in der einen oder anderen Form.
Welche Beispiele haben Sie für die von Ihnen benannten Tendenzen, die Carl Schmitt schon an der Weimarer Republik kritisierte? Wo kommen diese Tendenzen her, warum wiederholt sich da anscheinend etwas?
Die Tendenz etwa, dass parlamentarische Formen umgangen werden und Politik sich zunehmend auf die Exekutive, die ausführende Ebene, verlagert. Oder auch auf Gremien der Exekution, etwa im Bereich der EU-Krisenpolitik, oder auch der hohen Verwaltungsbürokratie. Ich denke, das ist ganz offenbar. Wir haben natürlich auch Tendenzen, indem der Konflikt Freiheit versus Sicherheit quasi zugunsten eines Sicherheitsregimes ausgelegt wird, bei dem man gelegentlich auch wieder vom Standpunkt der Liberalität seine Zweifel hat. Wir haben etwa Einschränkungen im Bereich der Anwendungsregeln zum Beispiel des Asylrechts, „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ und anderes. Wir haben eine Zurücknahme der Praxis des Schengen-Abkommens und eine neue Entwicklung im Bereich der Grenzregimes. Wir bauen erneut Zäune, wir patrouillieren im Meer in der einen oder anderen Form. Bei jeder dieser Entwicklungen muss man sich sehr genau anschauen, was da eigentlich passiert. Sie sind im Einzelnen äußerst heikel und schwierig zu beurteilen. Aber da sind gewisse Ähnlichkeiten auch in der generellen Entwicklung zu exekutiven Regimes, die praktisch den klassischen Liberalismus und Parlamentarismus ein Stück weit überspielen.
Wer sich mit Schmitt beschäftigt, muss sich immer wieder dafür rechtfertigen, weil dieser nicht nur als Denker für die deutschen Faschisten galt, sondern auch als „Vordenker“ inzwischen für die sogenannte Neue Rechte. Warum sagen Sie gerade mit Ihren Kenntnissen, dass die „spiegelverkehrte Lektüre“ von Schmitt uns angesichts der benannten Probleme heute etwas geben kann?
Carl Schmitt war Jurist. Und er war ein Jurist, der nicht einfach nur als Rechtsdogmatiker die Gesetzestexte auslegte, sondern ein Jurist mit einem enormen Sinn für Politik und Macht. Er hat also das Verhältnis von Macht und Recht in einer ganz grundlegenden Weise neu rezipiert unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges, unter dem Eindruck auch der marxistisch-revolutionären Entwicklungen, die er dann mit einer gegenrevolutionären Theorie beantwortete. Diese genaue Betrachtung der Schnittmenge und der Berührungspunkte von Politik und Recht sowie von Macht und Recht, die brauchen wir eben, um wirklich differenziert zu urteilen. Ich plädiere dafür, hier nicht einfach nur auf die Politik zu schauen oder auf die großen Worte, die alle möglichen politischen Couleurs wählen, sondern auch eben auf die Rechtspolitik und auf die Frage, was im Bereich des Verfassungsrechts, des Völkerrechts und anderen Rechtsgebieten passiert. Hier haben wir eine sehr fragile Berührungsfläche von Macht und Recht.
Was wären Ihre Antworten auf die Fragen, die sich aus dem Werk von Carl Schmitt in kritischer Weise ergeben?
Dass wir in einem permanenten Prozess von Verfassungsbildung sind, in dem man sich immer fragen muss, wie es um die Funktionalität des politischen Systems und des Rechtssystems steht. Und wo wir genau schauen müssen, was im Bereich der Normen geschieht und was davon auch legitim zu bejahen ist und wo man der Macht auf die Finger klopfen muss und sagen muss: Also hier wird Recht in einer Weise instrumentalisiert, die einer zivilen bürgerlichen Gesellschaft und einer liberaldemokratischen Gesellschaft, wie ich sie mir wünsche, nicht entspricht.
Professor Reinhard Mehring ist Politikwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und hat zuletzt das Buch „Carl Schmitt: Denker im Widerstreit“ veröffentlicht.