Mauerbau 1961: Westen setzt sich durch – Mauer verhindert Atomkrieg

In einer dreiteiligen Serie geht es um die Hintergründe des Mauerbaus am 13. August 1961. Der dritte Teil vollzieht nach, wie der Westen Moskau zu einer Kompromisslösung drängte, einen Friedensvertrag vermied und seine Interessen sicherte. Am Ende haben alle etwas gewonnen, als die Mauer gebaut wurde, so ein Zeitzeuge.

Keinen Zufall sieht Herbert Graf, ehemaliger Mitarbeiter von DDR-Staatschef Walter Ulbricht, darin, dass mit dem mutmaßlichen Abschuss einer U-2-Spionagemaschine über der Sowjetunion am 1. Mai 1960 die Chance der Pariser Konferenz zerstört wurde. „Powers hat man verheizt, nur damit man einen Skandal hat, wo man wusste, das kann Chrustschow nicht hinnehmen.“ Nach der Wahl von John F. Kennedy zum US-Präsidenten habe es einen erneuten Anlauf gegeben, über die Probleme zu reden und die Lage zu klären. Kennedy traf sich mit Chruschtschow am 3. und 4. Juni 1961 in Wien.

Doch die anfangs freundliche Begegnung der beiden führte beim Thema Nachkriegsdeutschland zu keinem Ergebnis, schilderte Graf das Ereignis. In einem inoffiziellen Vier-Augen-Gespräch hätten beide einen letzten Versuch unternommen, gab der Autor im Interview wie im Buch das Geschehen in Wien wieder. Doch das endete unter anderem laut Gesprächsprotokoll damit, dass Chruschtschow Kennedy erklärte:

„Ich will Frieden und einen Friedensvertrag mit Deutschland. Wenn ich Grenzen ändern oder andere Völker erobern wollte, dann wären Sie tatsächlich verpflichtet, sich zu verteidigen. Wir wollen jedoch nur den Frieden. Drohungen von Ihrer Seite werden uns nicht aufhalten. Wir wollen keinen Krieg, wenn Sie ihn uns aber aufzwingen sollten, wird es einen geben. …“

Der US-Präsident daraufhin: „Ja, es scheint einen kalten Winter zu geben in diesem Jahr.“ Worauf sein Gesprächspartner noch einmal wiederholte, er hoffe auf Frieden und glaube an eine friedliche Lösung.

Aber die schien nach dem Treffen in Wien wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Beide Seiten versetzten ihre Truppen in Alarmbereitschaft und veranstalteten „gefährliche militärische Planspiele“, berichtet Graf in seinem Buch von 2011 „Interessen und Intrigen: Wer spaltete Deutschland?“. Das reichte bis hin zu US-Plänen für einen Atomschlag gegen die DDR und die UdSSR, von denen der ehemalige bayrische Ministerpräsident Strauß in seinen nach seinem Tod 1988 veröffentlichten „Erinnerungen“ berichtet. Die USA hätten solche Gedanken gewagt, weil sie gewusst hätten, die Gegenseite war nicht in der Lage, annähernd passend und präzise zu reagieren. „Aber ich kenne aus der Sowjetunion nicht eine Information, die über Atombomben gesprochen hätte“, so Graf dazu. „Aber von Strauß kenne ich sie und aus Amerika kenne ich sie auch.“ In seinem Buch schreibt er auch von Berechnungen, die Kennedy über mögliche US-Opfer eines Atomkrieges anstellen ließ. „Der Grat zwischen Krieg und Frieden war im Sommer 1961 sehr schmal. Es wurde höchste Zeit zum Umdenken!“

Status Quo als Ausweg

Graf im Rückblick auf die damalige Lage: „Was passiert, wenn eine Konferenz so ausgeht? Dann fahren beide nach Hause, holen ihre Berater und klären: Was kann man machen?“ Kennedy habe Mitte Juli 1961 den Diplomaten John McCloy nach Moskau geschickt. Er sollte darüber reden, wie eine nukleare Katastrophe verhindert und die Berlin-Krise entschärft werden könnte. McCloy sprach den Informationen zufolge mit verschiedenen Mitgliedern der sowjetischen Führung und zuletzt mit Chruschtschow. Danach teilte der Diplomat dem Präsidenten in Washington unter anderem mit, die Lage sei „zu gefährlich“, um sie „an einen Punkt treiben zu lassen, wo ein

Zweikampf durchaus zu einer unglücklichen Aktion führen konnte“. McCloy hat aus Sicht des ehemaligen Ulbricht-Mitarbeiters „ ein Meisterwerk vollbracht“. Beide Seiten hätten sich auf eine Lösung geeinigt:

„Die Absprache hieß im Grunde: Wir schaffen einen Status Quo in Europa. Ihr könnt auf Eurem Gebiet machen, was Ihr wollt.“

Die USA hätten auf drei Essentials bestanden: Die Rechte der West-Alliierten in West-Berlin werden nicht verändert; West-Berlin wird nicht in die DDR einbezogen; und alles andere wird auf Verhandlungsbasis gelöst. „Das war der Kompromiss in einer Situation, die hoch gespannt war.“

Die Mauer in Berlin sei die Konsequenz und zugleich „ein Element der Kriegsabwendung“ gewesen. Sie habe, verbunden mit dem vereinbarten Status Quo, ein atomares Inferno verhindert.

„Auch das gehört zur Wahrheit der Berlin-Krise 1961 und ihrer international vereinbarten Lösung!“

Graf betonte, dass sie nicht zuerst deshalb gebaut wurde, um die zunehmende Fluchtbewegung aus der DDR zu stoppen, die gerade 1961 auch in Folge der spürbaren Konfrontation beider Seiten angestiegen sei. Die sei mitverursacht worden, weil „ständig getrommelt wurde, irgendwas passiert mit West-Berlin“. Die Mauer habe aber geholfen, das „Ausbluten der DDR“ einzuschränken: „Da musste etwas passieren.“ Das sahen den bekannten Dokumenten nach auch westliche Politiker so.

DDR wollte statt Mauer vertragliche Lösung

Der Zeitzeuge betonte gegenüber Sputnik, DDR-Partei- und Staatschef Ulbricht habe in der Zeit nach Wien mehrmals mit der Presse über die Kernfrage aus seiner Sicht, den Friedensvertrag, gesprochen. Das sei für ihn neben soliden und klaren Verhältnisse entscheidend gewesen. „Ulbricht war für die Verhandlungslösung und nicht für die Mauerlösung. Die Mauerlösung kam erst später.“ Im Buch schreibt Graf:

„Die Regierung der DDR und die Führung der SED waren über die mit der Errichtung der Grenzanlagen gefundene Lösung der Berlin-Krise keinesfalls erfreut. Der Abschluss eines Friedensvertrages und damit auch die Eliminierung der EAC-Vereinbarung von 1944 wären im Interesse der Souveränität des Landes und einer nachhaltigen Stabilisierung der inneren Situation ohne jeden Zweifel die bessere Lösung gewesen.“

Den von Moskau versprochenen Friedensvertrag habe die DDR dennoch nicht bekommen, weil die Schutzmacht mehr Rücksicht auf den Westen nahm, der dagegen war. „Die DDR war nicht der Taktgeber der Sowjetunion“, erklärte das Graf im Interview und fügte hinzu: „Weltpolitik ist immer ein bisschen anders und man kann nicht alles haben.“ Ein Friedensvertrag sei nicht entscheidend für die Situation der DDR gewesen und hätte nur wenig gebracht, schätzte er ein.

Der endgültige Beschluss, die Mauer zu errichten, sei am 3. August in Moskau bei einer Tagung der Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages, des östlichen Militärbündnisses, gefallen. Alle Schritte seien in Absprache mit dem Oberkommando der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Vertrages in Wünsdorf durchgeführt worden.

„Es gab keine Mine, die nicht dort vereinbart wurde, ob sie eingebaut wird, ob sie abgebaut wird … es gab keine Geschichte, die nicht gemeinsam beschlossen wurde. Das war ein Stück der gemeinsamen Verteidigungslinie des Warschauer Vertrages von Wismar bis zur Adria. Man darf ja nicht vergessen: Diese Grenzziehung zog sich ja durch ganz Europa. Wir gucken immer bloß auf die Berliner Mauer.“

Es sei ein System mit vielen Aufgaben gewesen: „Ein Alarmsystem, ein Abschottungssystem, ein Fluchtverhinderungssystem. Und auf beiden Seiten wurde gelauscht, beobachtet, getrickst – das war Kalter Krieg.“

Westen behielt „Pfahl im Fleische der DDR“

War für den Bau der Berliner Mauer weniger der Osten als der Westen verantwortlich? Mit dem Status Quo wurden ja vor allem die Sonderrechte der westlichen Alliierten für Westberlin endgültig festgeschrieben, nachdem sie zuvor ohne völkerrechtliche und vertragliche Grundlage waren. Um ihre Interessen an dem „Pfahl im Fleische der DDR“, wie der einstige Westberliner Regierende Bürgermeister Ernst Reuter die Stadt nannte, zu sichern, drohten die USA selbst mit einem Atomkrieg. Passend, aber eigentlich eher unangemessen, hatte Reuter sogar von der „billigste Atombombe“ der westlichen Welt gesprochen. Die Sowjetunion wollte 1958 nicht mehr und nicht weniger  als ein Ende einer unklaren und auf Dauer untragbaren Situation, samt eines Friedensvertrages als endgültigen Schlussstrich unter dem Zweiten Weltkrieg. Sie gab ein weiteres Mal nach, weil sie vieles anstrebte, aber keinen neuen Krieg, schon gar keinen nuklearen.

Doch Graf sieht den Westen nicht als Sieger des Konfliktes, auch weniger als eigentlichen Nutznießer des Mauerbaus. Im Gespräch meinte er rückblickend, der DDR sei es nach dem 13. August 1961 von Jahr zu Jahr besser gegangen, nicht nur wegen der Mauer, sondern weil auch eine andere Politik innerhalb des Landes möglich gewesen sei. Dazu habe auch eine Debatte, „ein bisschen untergründig“, über den Weg zum Sozialismus, gezählt.

Ulbricht habe zum 15. Jahrestag der DDR 1964 eine sehr interessante Rede gehalten, erinnerte er sich. Dabei sei davon gesprochen worden, dass die „Aufgaben der Diktatur gelöst“ seien und die DDR sich nun in Richtung Volksstaat entwickeln könne. Bei der Veranstaltung sei der anwesende Chruschtschow-Nachfolger Leonid Breschnew in seiner Rede nicht auf Ulbricht eingegangen. Dafür habe Breschnew bereits zuvor in der DDR den Putsch gegen seinen eigenen Vorgänger vorbereitet. Später habe er dafür gesorgt, mit Erich Honecker wieder einen moskautreueren DDR-Partei- und -Staatschef zu installieren.

„Dann nahm das Schicksal seinen Lauf“, sagte Graf im Interview mit Blick auf die weitere Entwicklung der DDR und ihrer östlichen Schutzmacht. Der Westen habe aktiv daran mitgewirkt, hob er hervor und ergänzte, „das ist ein anderes Thema, aber das zieht sich weiter“.  Sein Hinweis, warum es auch 1990 nicht zu einem Friedensvertrag der einstigen Alliierten mit dem wiedervereinigten Deutschland kam, erinnerte an den Ausgangspunkt der Krise, die zum Mauerbau 1961 führte:

„Ein Friedensvertrag wäre eine ganz andere Lösung gewesen. Die Westdeutschen wollten auf jeden Fall die kleine Lösung, damit niemand kommt und Ansprüche erhebt. Die USA haben das mitgemacht, weil für sie das Wichtigste war, weiter nach Osten zu kommen. Deshalb kein Friedensvertrag. Das war Interessenpolitik – so wird Politik gemacht.“

Hier geht es zu Teil 1 und zu Teil 2 der Serie.

Herbert Graf beschäftigt sich in einem 2017 in der „edition ost“ erschienenen Buch mit „Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee: „Von der Demokratie zur Agonie“.