Die deutschen Wähler machen sich weniger Sorgen um soziale Probleme als um den Frieden, die Kriminalität, die Zuwanderung ebenso wie um Ausländerfeindlichkeit. Das stellt eine aktuelle Studie über die Wählerschaft fest. Danach sind die meisten Deutschen mit ihrer eigenen Situation zufrieden. Kann das wahlentscheidend sein?
Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Partei, die CDU, könnten sich zurücklehnen: Die Bundestagswahl am 24. September scheint ihnen sicher. Darauf deutet zumindest hin, was das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin über die Wählerschaft der Parteien und die Stimmung unter den Wählern insgesamt herausfand und am Mittwochgegenüber der Presse vorstellte:
„Über alle Wählergruppen hinweg überwiegt die persönliche Zufriedenheit mit der eigenen materiellen Lage.“
Daraus lässt sich schließen, dass das Thema soziale Gerechtigkeit, anders als zu Beginn des Jahres erwartet und von der SPD erhofft, für den Wahlausgang nur wenig entscheidend sein wird. Dazu gehört: Laut DIW machen sich die Wähler insgesamt am meisten Sorgen um den Erhalt des Friedens.
„Ebenfalls verbreitet ist die Furcht vor zunehmender Kriminalität sowie vor Zuwanderung zum einen und vor Ausländerfeindlichkeit zum anderen.“
Vereinzelte Unterschiede gibt es nur je nach Parteiorientierung.
„Insgesamt ist die Anhängerschaft der AfD auffallend häufiger besorgt als die Klientel der meisten anderen Parteien.“
Karl Brenke vom DIW-Vorstand, Mitautor der Studie, beschrieb das beim Pressegespräch so:
„Die Bundestagswahl wird, was die Sorgen angeht, nicht von der Wirtschaft beeinflusst werden.“
Sie könne aber davon beeinflusst werden, dass die Menschen sich keine ausgeprägten Sorgen machen. Das würde „gewiss den Regierungsparteien in die Hände spielen“. „Keine Partei hat jemals eine Wahl schon in der Tasche, so zurücklehnen kann man sich nicht“, ergänzte Alexander Kritikos, Forschungsdirektor des DIW und neben Brenke Mitautor der Studie, im Gespräch.
„Aber in der Tat wird deutlich, dass wirtschaftliche Themen diese Wahl wahrscheinlich nicht so stark ausschlaggebend beeinflussen werden wie es in der Vergangenheit der Fall war. Das schließt soziale Themen ein. Wir sehen gleichzeitig, dass gerade die Nichtwähler die sind, die sehr besorgt sind.“
Die Nichtwähler wieder „stärker als die Sieger“?
Kritikos betonte:
„Wir sehen, dass viele Menschen mit ihrer eigenen Lage eigentlich zufrieden sind. Die einzigen Ausnahmen sind dort tatsächlich die AfD-Wähler, die mit ihrer eigenen Lage unzufrieden sind, und vor allen Dingen auch die Nicht-Wähler.“
Die Nichtwählenden haben laut DIW „kaum vom Einkommenswachstum der letzten 15 Jahre profitiert“. Bei den Umfragen, die die Wissenschaftler auswerteten, habe der Anteil jener, die sagten, sie würden nicht wählen, bei nur über fünf Prozent gelegen. Es ist laut Brenke nicht überraschend und seit langem bekannt, dass sich bei der Wahl dann selbst viel mehr Wahlberechtigte entscheiden, doch nicht ihre Stimme abzugeben. Das taten bei der letzten Bundestagswahl 2013 allein fast 18 Millionen Menschen – sie waren damit „stärker als die Sieger“ von der CDU, worauf die „Süddeutsche Zeitung“ damals hinwies.
Auch in Frankreich spielten bei den vielbeachteten jüngsten Wahlen in diesem Jahr Millionen Wähler eine mitentscheidende Rolle. „Nur 43 Prozent der Stimmberechtigten haben sich an der zweiten Runde der Parlamentswahl beteiligt“, berichtete unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“ im Juni über den Höhepunkt der Politikverdrossenheit im Nachbarland. Selbst bei der entscheidenderen Präsidentschaftswahl blieben mehr als Viertel der wahlberechtigten Franzosen in der zweiten Runde fern.
Das DIW beschreibt die Nichtwählendenhierzulande so:
„Sie sind vergleichsweise jung, leben häufiger in Ostdeutschland, sind kaum im öffentlichen Dienst vertreten, haben oft keine Berufsausbildung und nur einfache Jobs oder sind arbeitslos.“
Die Zahl der Menschen, auf die diese Kriterien zutreffen, nimmt zumindest nicht ab. Aber: „Sie werden in Deutschland nicht der größte Teil sein“, zeigte sich DIW-Forschungsdirektor Kritikos mit Blick auf die Bundestagswahl in diesem Jahr sicher. Es handele sich bei ihnen oft um klassische Arbeiter oder Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten und eben meist Jüngere. Das sollte von den Parteien stärker aufgegriffen werden, sagte der Forscher.
„Wenn man also um Nichtwähler kämpfen möchte, dann ist doch wieder die Frage der eigenen wirtschaftlichen Situation von zentraler Bedeutung.“
„Der Ausgang bleibt offen“
Mit seinem Mitautor Brenke stellt er in der Studie fest:
„Die ehemaligen ‚West-Parteien‘ Union und SPD, aber auch FDP und Bündnis90/Die Grünen rekrutieren ihre Wählerschaft auch heute noch eher in den alten Bundesländern. Die Linke und die AfD haben im Osten eine stärkere Basis. In den Großstädten wird eher ‚links’ gewählt, also SPD, Linke und Grüne. Die Wählerschaft der ‚alten‘ Parteien (Union, SPD und FDP) ist überdurchschnittlich alt. Frauen neigen eher zu den Grünen, Männer mehr zur Linken, zur FDP und insbesondere zur AfD.“
Die Alterung der Gesellschaft und der Wandel der Arbeitswelt wirke sich auf die Wählerpräferenzen aus, sodass manch altes Muster wie etwa das von der SPD als klassischer Arbeiterpartei verblasst sei, sagte Kritikos. „Die Wählerschaften von Union und SPD ähneln sich dagegen immer mehr.“ Bei den Grünen sei der Anteil an Beschäftigten im öffentlichen Dienst besonders hoch. CDU/CSU und AfD würden eher in den ländlichen Gebieten, SPD, Grüne und Linke mehr in den Großstädten gewählt.
Die Präferenz für eine Partei stehe in einem Zusammenhang mit der Höhe des Einkommens, so die Studie. Die FDP ist danach weiterhin die Partei der „Besserverdienenden“, vor den Grünen und der Union. Bei der AfD gebe es eine „erhebliche Einkommensspreizung: Neben einem bedeutenden Teil an Gutverdienenden finden sich immer auch in erheblicher Zahl Personen mit geringem Einkommen.“ DIW-Forscher Kritikos beschrieb im Interview die typischen Wähler der rechtspopulistischen Partei so:
„Es fallen zwei Merkmale auf: Das ist der hohe Anteil an Arbeitern und auch Menschen, die einfachen Tätigkeiten nachgehen. Es ist auf der anderen Seite ein hoher Anteil von Menschen in Selbständigkeit.“
In den Haushalten von AfD-Wählern gebe es häufig nur einen mit einem Arbeitseinkommen. Zu Studien, nach denen die Partei vor allem Zustimmung weniger von den „Verlierern“, sondern von denen bekommt, die Angst vor einem sozialen Absturz haben, meinte der Wissenschaftler:
„Rund die Hälfte der Wähler sind tatsächlich solche Menschen, die dieses Gefühl haben, keinen gerechten Anteil am Einkommen zu haben.“
Diese Angst vor dem Absturz zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit zeige sich in der bei AfD-Wählern am meisten verbreiteten Sorge vor vielen Problemen sowie bei deren stärkeren Unzufriedenheit mit dem eigenen Zustand und dem Glaube, keinen gerechten „Anteil vom Gesamtkuchen“ zu bekommen.
„Gleichwohl muss offen bleiben, in welchem Maße die kommende Bundestagswahl von der materiellen Situation beeinflusst wird“, schreiben Brenke und Kritikos am Ende ihrer Analyse. Sie weisen zwar daraufhin, „dass nicht wenige Personen den wahrgenommenen gesellschaftlichen Verhältnissen kritisch gegenüberstehen“. Aber sie meinen, angesichts der Tatsache, dass unverändert wie „schon vor zwei Jahren die Ängste um Arbeitsplatz und Einkommen weit hinter anderen Sorgen lagen“, könnten „daher andere Themen bei der Wahl den Ausschlag geben – oder die verbreitete Zufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation.“