Münchner Ex-OB kritisiert Moral-Politik wider die Realität – auch beim Thema Flucht

„Macht endlich Politik!“ fordert der frühere Oberbürgermeister von München, Christian Ude, von den Regierenden und den Parteien, ebenso von den Bürgern. Die sollen sich einmischen, ruft er in seinem neuen Buch „Die Alternative“ auf. Für den Titel und seine Kritik zum Beispiel an der Flüchtlingspolitik wird er angegriffen, vor allen von links.

Das Problem ist, dass die Bevölkerung keine politischen Prozesse mitbekommt und dabei auch nicht einbezogen wird.“ So beschrieb Münchens Ex-Oberbürgermeister (OB) Christian Ude (SPD) im Gespräch, was ihn bewog, das Buch zu schreiben, für das er viel Zuspruch von Bürgern erhalte, aber auch heftig kritisiert wird. Am Montag stellte er es gemeinsam mit dem Verleger Wolfgang Ferchl vom Knaus Verlag und dem SPD-Vizevorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel in der Berliner SPD-Zentrale vor.

Kritiker werfen ihm vor, er sei nach rechts gerückt, weil er zum Beispiel Fragen zur Flüchtlingspolitik stellt. Dafür sorgt unter anderem folgende Passage in dem Buch:

„Aber ist deshalb jede Nachfrage, warum Deutschland alle Flüchtlinge aufnimmt, die von anderen europäischen Ländern abgewiesen oder durchgewunken werden, warum fast alle anderen europäischen Länder mit Flüchtlingen anders verfahren, obwohl sie demselben Völkerrecht unterliegen, warum nach monatelanger Prüfung auch jene Migranten, die kein Bleiberecht haben, nicht des Landes verwiesen werden, warum die Terrorangst heute allgegenwärtig ist, obwohl doch jedes Sicherheitsrisiko bis zum Überdruss bestritten worden ist, warum immer mehr Milliarden für die Bewältigung des Problems bereitgestellt werden, obwohl die Flüchtlinge doch ein großes Geschäft für die sozialen Kassen sein sollten, kurz: Ist jede dieser Nachfragen in einen Topf zu werfen mit Naziparolen oder kriminellen Taten, als wären lästige Fragesteller zwingend rechtsextrem oder kriminell?“

Auch die Linke ohne Antwort auf soziale Fragen

Auf die Frage, ob die fremdenfeindlichen Reaktionen Deutscher auf die mehr als 800.000 Flüchtlinge im Jahr 2015 etwas mit der sozialen Entwicklung hierzulande zu tun haben könnte, geht Ude in seinem Buch nicht weiter ein. Wer jahrelang zu hören bekommt, dass gespart und verzichtet werden müsse und deshalb Jobs ebenso wie viele soziale und öffentlichen Leistungen gestrichen werden, von Krankenkassenleistungen über Arbeitslosengeld bis hin zur Bus- oder Bahnlinie zum eigen Dorf, der wundert sich verständlich, warum plötzlich so viel Geld da sein soll für Menschen, die nach Deutschland flüchten. Das rechtfertigt keine fremdenfeindliche Gewalt als Ersatzhandlung, aber die Antwort auf die Frage nach den Ursachen und Interessen dafür  macht den Unterschied aus. Immerhin kritisiert der Ex-OB kurz „den reichlich neoliberalen Agenda-Kurs“ seiner eigenen Partei, der zwar die Arbeitslosenzahlen gesenkt habe, „aber neue Missstände schuf oder verschärfte, vor allem die prekären Arbeitsverhältnisse“. Damit habe sich die SPD selbst „entkernt“.

„Es tut mir in der Seele weh, das die gesamte demokratische Linke in Deutschland viele soziale Fragen – auch beim Euro- und beim Flüchtlingsthema – genauso ‚übersehen‘ hat wie die Linke in Großbritannien vor dem Brexit und die Demokraten vor den US-Präsidentschaftswahlen“, schreibt Ude in seinem Buch. Er fordert:

„Einfach die Realität nehmen, wie sie ist“.

Es sei „keine Paranoia und keine rechte Stimmungsmache“, wenn die künftigen Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa in Millionenhöhe geschätzt würden. Das lasse sich auch nicht per Dekret auf eine bestimmte Zahl beschränken. Der SPD-Politiker fordert Unterscheide zu machen zwischen jenen, die nach Deutschland kommen.

Er sei „fassungslos“ gewesen, „wie viele politische und kirchliche Vertreter für alle 890.000 Flüchtlingen des Jahres 2015 ihre Hand ins Feuer legten und beteuerten, dass diese Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Krieg allesamt keine Straftäter seien“. Es verbiete sich, „den Kreis der Bleibeberechtigten … grenzenlos auszuweiten“. Ude will, das genau hingeschaut wird, denn:

„Mich regt auf, dass solche nun wirklich atemberaubenden Fragen nicht öffentlich diskutiert werden, weil schon das Bewusstsein, was alles passieren könnte, unerwünscht ist und durch eine moralische Haltung, die sich wohlfeil über politische Notwendigkeiten erhebt, ersetzt werden soll.“

Kritik an moralischer Überheblichkeit

In Berlin warnte er davor, Politik allein an moralischen Kriterien auszurichten. „Moralische Überheblichkeit“ hätte beim Thema Flüchtlinge dazu geführt, „dass die Moralischsten aller moralischen Leute auch nicht davor zurückschrecken, die Tatsachen zurecht zu rücken, damit sie besser passen.“ Ude beklagte im Interview, „dass sich viele im Meinungsstreit selber moralisch überhöhen, um alle anderen verurteilen und verdammen zu können. Dann brauche ich keine politischen Argumente, wenn ich sage: Ich bin ein guter Mensch, wer anderer Meinung ist, ist ein schlechter Mensch, und dann beschimpfe ich ihn und dämonisiere ich ihn, ohne noch Argumente zu brauchen.“ Und:

„Die Rechten sagen dann: Ihr seid Volksverräter, Ihr seid deutschfeindlich! Also alles Parolen, die den Menschen schlecht machen sollen statt Argumente zu liefern. Aber leider gilt das auch für die Gegenseite, wenn sie sagt: Wer kritische Fragen stellt, gehört in die rechte Ecke.“

Das passiert dem Ex-OB mit seinem neuesten Buch selbst. In einem Bericht der Zeitung „Die Welt“ hieß es: „Schon das Wort Alternative im Buchtitel schlägt den Bogen zur Partei Frauke Petrys und Alexander Gaulands.“ Die „Süddeutsche Zeitung“, die Ude als Münchner Stadtoberhaupt (1993-2014) treu begleitete, meinte, dass manche Passagen des Buches „aus einer ganz anderen politischen Ecke“ zu erwarten wären. Das sei der „absurdeste Vorwurf, den man sich überhaupt vorstellen kann“, sagte er dazu.

„Also jetzt den Begriff Alternative bereits für rechts zu erklären, weil sich eine winzige gefährliche Splitterpartei mit diesem unzutreffenden Wort schmückt, das zeigt doch die ganze Hilflosigkeit der Linken, die immer mehr geistiges Terrain den Rechten überlassen haben und jetzt schon Begriffe, die zur linken Geschichte gehören, für kontaminiert erklären.“

Er sehe sein Buch in Tradition einer linken sozialdemokratischen Bewegung in der Bundesrepublik, die vor genau 50 Jahren unter dem Titel „Die Alternative“ einen gesellschaftlichen Aufbruch einforderte und mit zur Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler 1969 führte.

In seinem Buch fordert er dazu auf, wieder „im Sinne der Aufklärung Politik zu machen und damit Probleme zu lösen und Zukunft zu gestalten“. Im Interview beschrieb er seine Alternative so: 

„Ich habe Forderungen an den politischen Diskurs, den ich in den letzten Jahren vermisst habe. Dazu gehört: Man muss Konzepte anbieten, die Parteien müssen alternative Vorschläge machen, offen darüber diskutieren und der Bevölkerung wieder Richtungsentscheidungen ermöglichen. Meine Alternative ist: Legt wieder in sachpolitischer Arbeit erstellte Konzepte zur Abstimmung. Nur moralisch überlegen sein, wie in der Flüchtlingsfrage, oder nur den Gegner verteufeln, entweder als Vaterlandsverräter oder aber als Neonazi, das befähigt uns nicht, Probleme zu lösen.“

Christian Ude: „Die Alternative oder: Macht endlich Politik!“ Knaus Verlag 2017; 235 Seiten; Paperback, Klappenbroschur; ISBN: 978-3-8135-0774-4; 16,99 Euro