„Dramatisch“: Immer mehr Rentner müssen arbeiten – Armut trotz Arbeit nimmt zu

Fast eine Million Rentner in Deutschland arbeiten trotz „Ruhestand“. Ihre Zahl steigt laut einer Studie. Viele von ihnen haben keine Wahl, warnen Sozialverbände vor der Altersarmut. Zugleich steigt die Zahl derer, die trotz Arbeit als arm gelten. Von der Wirtschaftsentwicklung profitieren dagegen nur jene, die bereits zu den Gewinnern zählen.

Immer mehr Menschen in Deutschland im Alter über 65 Jahre müssen trotz Rente oder Pension arbeiten. Das hat das Statistische Bundesamt am Mittwoch gemeldet. Danach hat 2016 „jede neunte Person zwischen 65 und 74 Jahren“ hierzulande gearbeitet. Das sind den Angaben zufolge 942.000 der 8,3 Millionen Personen in diesem Alter. Ihre Zahl habe sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, melden die amtlichen Statistiker.

Laut ihren Angaben waren 15 Prozent der Männer in der Altersgruppe und 8 Prozent der gleichaltrigen Frauen 2016 erwerbstätig. Bei beiden Gruppen hätten sich die Anteile innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Immerhin mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Älteren ab 65 (346.000 Menschen) müssen den Angaben nach arbeiten, um überhaupt ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die Mehrheit, etwa 58 Prozent, verdiene sich etwas zur Rente oder Pension hinzu, so die Statistiker. Keine Angaben machen sie zu den Gründen dafür, ob zum Beispiel die Alterseinkünfte durch die vorherige Arbeit nicht reichen.

„Die wenigsten arbeiten aus Freude länger“

Aus Sicht des Sozialverbandes VdK ist es „dramatisch, dass sich innerhalb von 10 Jahren  die Zahl der erwerbstätigen Ruheständler verdoppelt hat und nun schon jeder neunte betroffen ist“. VdK-Pressesprecherin Cornelia Jurrmann sagte auf Nachfrage:

„Von den 58 Prozent Rentner, die überwiegend von ihrer Rente leben, werden die wenigsten aus Freude an der Arbeit insbesondere mit Reinigungsarbeiten und in Hausmeisterjobs bis 74 dazuverdienen, sondern weil die Rente nicht reicht. Die Zahlen sind für den VdK daher ein wichtiges Indiz für steigende Altersarmut. Bei den Hinzuverdiensten handelt es sich überwiegend um Minijobs.“

VdK-Präsidentin Ulrike Mascher hatte bereits 2015 auf einer Tagung festgestellt:

„Laut Statistik lässt der Renteneintritt das verfügbare Einkommen um etwa ein Viertel sinken.”

„Bemerkenswert dabei ist, dass die gesetzliche Rentenversicherung und andere Alterssicherungssysteme aktuell rund 85 Prozent der Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 in Deutschland darstellen“, betonte sie damals. Immer mehr Menschen werden „Probleme haben, mit ihrer Rente auszukommen und Wege suchen, sich im Alter finanziell über Wasser zu halten“, warnte Mascher vor zwei Jahren.

„Ältere Menschen arbeiten aus unterschiedlichen Gründen in der Rentenphase“, erklärte der Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), Adolf Bauer, auf Nachfrage. „Dabei können und wollen insbesondere höher Gebildete und viele Selbstständige ihre Arbeit manchmal gerne fortsetzen.“ Gleichzeitig seien immer mehr Senioren auf eine Beschäftigung im Alter angewiesen, weil ihre Rente nicht zum Leben reich oder weil sie nicht in den Grundsicherungsbedarf abgleiten möchten, bestätigte Bauer.

„Diese Menschen stehen für die wachsende Altersarmut, vor welcher der SoVD eindringlich warnt.“

Beide Verbände stellten klar, dass „arbeitende Seniorinnen und Senioren nicht den Jüngeren die Arbeitsplätze wegnehmen“. Es gebe keine entsprechende Konkurrenz, da Ältere viele wertvolle Erfahrungen mitbringen und eher an flexibleren Arbeitszeitmodellen sowie alternsgerechten Arbeitsplätzen interessiert seien, so SoVD-Präsident Bauer. Allerdings warnen die Sozialverbände sowie Gewerkschaften davor, Rentner nicht als billige Arbeitskräfte zu missbrauchen und ihre arbeits- und tarifrechtlichen Beteiligungs- und Schutzrechte nicht abzubauen.

Armut im Alter nimmt zu – aber auch Armut trotz Arbeit

Zu den Ursachen der Entwicklung gehört das mit den Rentenreformen ab 2001 politisch verursachte sinkende Rentenniveau. Dieser Wert beschreibt das Verhältnis des aktuellen Durchschnittseinkommens zu der Rente, die ein Durchschnittsverdiener nach 45 Arbeitsjahren erhält. Aktuell liegt er bei 48 Prozent. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und Einzelgewerkschaften beklagen seit langem, dass die Betroffenen nicht allein von ihrer Rente leben können und gezwungen sind, etwas dazuzuverdienen. Verantwortlich sei die Kombination aus niedrigem Lohn, Arbeitslosigkeit und Rentenkürzungen. Künftig werde sich das Problem noch drastisch verschärfen, betonen die Gewerkschaften. Deutschland habe den größten Niedriglohnbereich in Europa, fast jeder Vierte sei betroffen.  

Neben dem sinkenden Rentenniveau führen niedrige Löhne, prekäre Beschäftigung sowie verbreitete Kurz- oder Langzeit-Arbeitslosigkeit für immer mehr Menschen in den nächsten Jahren zu sinkenden Renten. Darauf hatte unlängst selbst eine Studie der elitennahen Bertelsmann-Stiftung aufmerksam gemacht. Unterdessen sind in Deutschland immer mehr Menschen arm, obwohl sie arbeiten. Das trifft inzwischen fast jede und jeden Zehnten der Beschäftigten, also rund vier Millionen Menschen. Darauf wies kürzlich die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hin. Laut einer Studie sei im EU-Vergleich die sogenannte Erwerbsarmut in den vergangenen Jahren in Deutschland am stärksten gestiegen. Von Erwerbsarmut ist die Rede, wenn eine erwerbstätige Person in einem Haushalt mit einem verfügbaren Einkom­men unterhalb der Armutsgrenze lebt, die derzeit hierzulande für einen Einpersonen­haushalt bei rund 11.800 Euro netto im Jahr liegt.  

„Zwischen 2004 und 2014 hat sich der Anteil der ‚working poor‘ an allen Erwerbstätigen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren verdoppelt“, so die Autoren der Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Stiftung. Das wird unter anderem damit erklärt, „dass Arbeitslose stärker unter Druck stehen, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen“. Die Forscher weisen darauf hin, zwar sei die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in jedem anderen europäischem Land, andererseits verzeichne Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut. Sie stellen fest:

„Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs niedrig entlohnt werden und/oder nur einen geringen Umfang haben.“

Von neuen gutbezahlten Jobs profitieren gerade nicht die, die sie bräuchten, also Beschäftigte der unteren Einkommensschichten.

Reguläre Arbeitsverhältnisse sind derzeit häufiger in den oberen Einkommensschichten als vor 20 Jahren, meldete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vor wenigen Tagen.

„Trotz deutlichem Rückgang der Arbeitslosigkeit sind die Einkommen heute ungleicher verteilt als noch vor 20 Jahren, was im Wesentlichen an einer Zunahme der Ungleichheit bis zum Jahr 2005 liegt.“

Die DIW-Forscher stellten fest:

„Zudem sei in den unteren Einkommensschichten der Anteil der Beschäftigten mit niedrigen Löhnen (für das Jahr 2015 entspricht das Stundenlöhnen unter 10,66 Euro brutto) stetig gestiegen, und zwar mehr als in anderen Schichten.“

Die Tendenz zu mehr Altersarmut und dadurch erzwungener Arbeit im Alter dürfte also anhalten, wenn die Ursachen nicht angegangen werden.