Der Krieg in Syrien ist derzeit der zentrale Konflikt im Nahen Osten. So sieht es der Nahostexperte Volker Perthes. Er fordert wie der UN-Gesandte Staffan de Mistura eine politische Lösung, die die Menschen in Syrien einbeziehen soll. Der Westen ignoriert die innersyrische Opposition, kritisiert der syrische Anwalt Mazen Darwish. Ein Bericht
In Syrien tobe der schlimmste Krieg seit 50 Jahren, sagte der erfahrene UN-Krisen-Diplomat Staffan de Mistura am Samstag vor etwa 2000 Menschen, die ihm im Berliner Dom zuhörten. Der Syrien-Gesandte der Vereinten Nationen sprach bei einer Veranstaltung des Evangelischen Kirchentages in Berlin zum Thema Naher Osten vor allem über den derzeit zentralen Konflikt in Syrien. Er habe noch nie eine solche Auseinandersetzung ohne Regeln, ohne Rücksicht auf Menschenrechte und mit gezielten Angriffen auf zivile Einrichtungen erlebt – es seien „Zustände wie im Mittelalter“. Es handele sich zudem um den kompliziertesten Konflikt mit einer anscheinend unübersichtlichen Kombination von Einflussfaktoren und Kräften. So seien mindestens zehn Länder involviert und im Verlaufe des Krieges ein „neues Schreckgespenst“ aufgetaucht, der „Islamische Staat“ (IS). Zudem würden in der Folge nicht nur die syrische Gesellschaft zerstört, sondern auch die Nachbarländer destabilisiert.
De Mistura übernahm die Aufgabe des UN-Sondergesandten für Syrien 2014 von Lakhdar Brahimi, der wie sein Vorgänger, Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan, aufgegeben hatte. Ihm sei wichtig, dass der Krieg in dem geschundenen Land nicht aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwinde, erklärte er seinen Zuhörern. Am Beispiel Aleppo benannter er als Problem, dass beide Seiten, die syrische Regierung wie auch die gegen sie kämpfenden „Rebellen“ immer noch glaubten, sie könnten militärisch gewinnen. Er forderte vom Westen mehr Druck für eine politische Lösung des Konfliktes und das Syrien nicht aufgegeben werden dürfe. „Die Syrer haben noch Hoffnung, sie lieben ihr Land“, berichtete der Diplomat. Er habe auf westlicher Seite ein „Aufwachen“ bemerkt, zum einen durch die Flüchtlingsströme, die auch die europäischen Staaten erreichte. Zum anderen habe das militärische Eingreifen Russlands im Herbst 2015 „vieles verändert“ und zu einer neuen Situation geführt.
Politische Lösung unter dem Dach der UNO
Auch der Vormarsch des IS habe dazu beigetragen, dass es nun wieder Hoffnungen gebe, dass sich mehr Länder für eine Lösung einsetzen. Davon hätten die zwei letzten Feuerpausen gekündet, unterem von den USA und Russland sowie von diesem gemeinsam mit der Türkei und dem Iran vereinbart und angeregt. De Mistura berichtete auch von seinem Angebot an Al Nusra-Kämpfern 2016, das umkämpfte Ost-Aleppo unter seinem persönlichen Schutz zu verlassen, um den Stadtteil vor der drohenden Schlacht zu bewahren. Als das von den Islamisten abgelehnt wurde, sei er wütend geworden, obwohl er sonst immer auf „strategische Geduld“ setze, die in solchen Konflikten notwendig sei, um etwas zu erreichen.
Eine politische Lösung könne es nur unter dem Dach der UNO geben, erklärte der Sondergesandte. Das dürfe nicht einzelnen wichtigen und einflussreichen Ländern wie den USA, Russland, der Türkei und dem Iran überlassen werden. Als Kind wollte er erst Feuerwehrmann und dann doch lieber Arzt werden, um anderen Menschen zu helfen, berichtete er den Zuhörenden. Doch dann überredeten ihn seine Eltern, seine Mutter aus Schweden und der Vater aus italienischem Adel, aufgrund seiner Sprachfähigkeiten doch „Arzt für Länder“ zu werden, erzählte der Diplomat. Nun sei er wie ein Doktor, der Konflikte behandele. Wenn ihm die dafür notwendigen Medikamente fehlten, würde er beten, verriet er im Berliner Dom als sein „Rezept“. Dann würde er sich bemühen, die Schmerzen zu lindern und die Patienten so lang wie möglich am Leben zu halten.
Zweifelhafte Rezepte
Zweifel, ob er der richtige „Arzt“ für den Konflikt und den Krieg in Syrien ist, könnten nicht nur deshalb aufkommen, weil er nicht nach den Ursachen und auch nicht nach der Verantwortung der westlichen Politik für die Situation fragte. Vielleicht lag es daran, dass er als UN-Vermittler die Aktivitäten der am meisten involvierten Staaten nicht kommentiert, wie er auf Sputnik-Nachfrage erklärte. Aber ein Mediziner sollte sich bekanntermaßen nie nur mit den Symptomen, sondern immer ebenso mit den Auslösern einer Krankheit beschäftigen, wenn er dauerhaft helfen will. Der Diplomat gab ebenfalls Anlass für Zweifel, als er sein Lieblingsrezept für solche Konflikte erwähnte: Das zu Beginn der 2000er Jahre im Westen entwickelte Prinzip der „Schutzverantwortung“ (englisch: Responsibility to Protect, abgekürzt: R2P).
Dieses schließt sogenannte humanitäre Interventionen ein, ungeachtet der Souveränität von betroffenen Staaten, um mutmaßliche schwerste Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern oder zu beenden, wenn die jeweiligen Regierungen ihre eigene Bevölkerung nicht vor solchen schützen. Dieser Freibrief für Interventionen unter dem Deckmantel der Menschenrechte war für den „diplomatischen Arzt“ de Mistura das Lieblingsrezept, wie er in Berlin erzählte – „ich liebte diesen Traum“. Doch das Prinzip habe wegen der „egoistischen Interessen der einzelnen Staaten“ international nicht durchgesetzt werden können,. Der UN-Diplomat will sich aber dafür einsetzen, das Veto-Recht der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates in Fällen von humanitären Katastrophen abzuschaffen, um Blockaden von Resolutionen zu verhindern.
Der Gesandte bezeichnete es als notwendig, die Syrer selbst und die sogenannte Zivilgesellschaft des Landes in die Verhandlungen um ein Ende des Krieges und eine Konfliktlösung mit einzubeziehen, sonst blieben diese nur „Dekoration“. Nur so könne es Frieden geben, bestätigte auf der Veranstaltung der syrische Anwalt und Journalist Mazen Darwish. Er beklagte, dass die zivilen und liberalen Kräfte in Syrien bei ihrem Einsatz für Demokratie und Frieden allein gelassen worden sind und nur die Regierung in Damaskus und deren islamistischen Gegner von außen unterstützt werden. Bei den verschiedenen Verhandlungen werde die innersyrische Opposition nicht beteiligt und die syrische Bevölkerung ausgeschlossen, bemängelte Darwish, der mehrmals für sein Engagement im Gefängnis landete und nur auf internationalen Druck freigelassen worden sei. Er kritisierte immerhin die westliche Politik und stellte klar, dass nicht die Person des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad das Problem des Konfliktes sei. Zugleich hofft er nach seinen Worten auf den Westen, besonders die Europäische Union (EU), allen voran Frankreich und Deutschland, auch wenn diese bisher keine klare Strategie hätten, um den Konflikt zu lösen.
Interessen und Rolle des Westens ausgeblendet
Die Interessen der westlichen Staaten und deren aktive Rolle in dem Krieg in Syrien von Beginn an, kam bei der Veranstaltung nicht zur Sprache, selbst nicht, als Fragen dazu aus dem Publikum kamen. Wenig überraschend ging Volker Perthes, Direktor der von der Bundesregierung finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ebenfalls nicht darauf ein, als er zu Beginn einen kurzen Überblick über den Krieg in Syrien als derzeit zentralen Konflikt im Nahen Osten gab. Perthes, der 2012 des Projekt „The Day After“ für Syrien nach dem angestrebten Regimewechsel mit betreute, ist heute Leiter der internationalen Task Force für Waffenstillstand und militärische Fragen, die de Misturas Arbeit unterstützen soll.
Der Nahostwissenschaftler stellte auf der Kirchentagsveranstaltung fest, „bestehende Ordnungen im Nahen und Mittleren Osten zerfallen“. Diesen seien „unter Druck geraten“, ohne aber die aktive Rolle der westlichen Politik mindestens als Brandbeschleuniger dafür zu nennen. Das hatte er schon in seinem Buch „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“ unterlassen bzw. von „desinteressierten Großmächten“ geschrieben. Alle Konflikte hätten lokale und regionale Ursachen erklärte er stattdessen in Berlin und fügte hinzu, dass die arabischen Revolten von 2011 gescheitert seien. Die sozialen Probleme als Ursachen dafür seien aber weiter ungelöst und angesichts dessen die Religion nur Zeichen einer Flucht in alte Identitäten.
Den Zuhörenden erläuterte Perthes, die geopolitischen Verhältnisse in der Region würden sich ständig verschieben, und riet, „dass Sie nicht glauben sollten, wenn Ihnen im Fernsehen jemand sagt, dieser oder jener Staat ist der Gewinner“. Es gebe keine Machtbalance, nur den bestimmenden Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran, so der Experte, der meinte, dass ohne die äußere Unterstützung die Regierungsseite wie ihre Gegner nicht mehr weiter kämpfen könnten. Er sprach sich für eine „verhandelte politische Lösung“ aus, die einschließen sollte, dass die Macht in Syrien geteilt wird. Das Land selbst dürfe nicht aufgeteilt werden, betonte Perthes wie auch seine Gesprächspartner de Mistura und Darwish. Doch eine solche Lösung sei nur möglich, wenn die äußeren Kräfte das unterstützen. Derzeit gebe es aber kein Konzept dafür, weil sich die meisten Akteure nur mit den Folgen für ihr eigenes Territorium zum Beispiel durch den islamistischen Terrorismus beschäftigten. Das habe auch der jüngste Nato-Gipfel bestätigt, obwohl der Terror vor allem die Menschen in der Region selber bedrohe. Der Experte meinte, der IS müsse militärisch bekämpft werden, aber ohne eine politische Lösung für Syrien und den Irak gebe es keinen Frieden und nur einen „Islamischen Staat 2.0“.