Die EU baut in aller Öffentlichkeit eine eigene Militärstruktur auf, sagt Linkspartei-Vize Tobias Pflüger. Er warnt vor einer „gefährlichen Entwicklung“, die von Deutschland dominiert werde. Der Beitrag eines US-Politikmagazins dazu kann eine Warnung aus Washington sein: „nicht zu weit zu gehen“, meint er wie Friedensforscher Otfried Nassauer.
„Deutschland baut heimlich eine europäische Armee unter seinem Kommando auf“, meldete das US-Politikmagazin „Foreign Policy“ am Montag in seiner Onlineausgabe. Der Beitrag beruft sich dabei auf das von Deutschland angeregte Nato-Programm „Framework Nation Concept“. Nach diesem wird eine Einheit der tschechischen Armee und eine der rumänischen Armee mit jeweils 1.500 bis 5.000 Soldaten der Bundeswehr unterstellt. Die entsprechenden Vereinbarungen wurden im Februar dieses Jahres unterzeichnet, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) damals berichtete.
Das US-Magazin sieht das als „radikalen Schritt“ im Vergleich zu vorherigen ähnlichen Entwicklungen wie beispielsweise dem 1. Deutsch-Niederländischen Korps, das seit 1995 besteht. In dem Beitrag wird Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Bundeswehr-Universität in München, zitiert. Für ihn zeigt Berlin mit dem Schritt, mit der europäischen militärischen Integration fortfahren zu wollen, auch wenn andere Mitglieder der Europäischen Union (EU) noch nicht so weit seien. „Es ist ein Schritt hin zu mehr europäischer militärischer Unabhängigkeit“, so Masala laut dem Beitrag.
„Europäisches Leuchtturmprojekt“
Der Schritt, Einheiten kleiner Nato-Staaten in die „Ankerarmee“ Bundeswehr zu integrieren, bringe solchen Ländern den Vorteil, von den deutschen Ressourcen profitieren zu können. „Foreign Policy“ verwies auf das niederländische Beispiel: Die Niederlande hatten 2011 ihren letzten eigenen Panzer verkauft, dafür kann sie jetzt die deutschen Leopard nutzen. Für die Bundeswehr ergibt sich aus solcher Zusammenarbeit, eigene Lücken füllen zu können. Denn sie wird derzeit erneut umgebaut, „die gesamten Streitkräfte umfassend entlang des gesamten Eskalationsspektrums bis hin zum Kampf in allen Dimensionen auszurichten“. Das schrieb Generalleutnant Erhard Bühler, Abteilungsleiter Planung im Bundesverteidigungsministerium, im März im Onlinemagazin des Bundeswehrverbandes.
„Neue Nato-Planungsziele an alle Mitgliedstaaten ausgehend von der Bündnisverteidigung, werden zu weiteren Veränderungen in der Bundeswehr führen. Diese fordern deutlich intensiviertes Agieren in der Multinationalität. Die europäischen Nationen müssen beim Bereitstellen einsatzbereiter Fähigkeiten noch weiter zusammenwachsen.“
Bühler bezeichnete das „pragmatische Zusammenarbeiten mit derzeit 15 europäischen Nationen im von Deutschland initiierten Framework Nation Concept (FNC)“ als „europäisches Leuchtturmprojekt“.
Alles öffentlich und nicht geheim
Doch es soll sich nicht um eine „europäische Armee“ handeln, die Elisabeth Braw im US-Magazin „Foreign Policy“ im Entstehen sieht. „Vom Aufbau einer europäischen Armee ist nicht im Ansatz die Rede“, kommentierte das ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums auf Sputnik-Nachfrage. Dem widerspricht Tobias Pflüger, Vizevorsitzender der Linkspartei und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) Tübingen, indem er darauf aufmerksam macht, dass nicht der Begriff entscheidend sei. Im Gespräch sagte er, die Bundesregierung erhalte zunehmend Einfluss auf die fortgesetzte Militarisierung der EU, aber auch auf den „europäischen Pfeiler“ der Nato.
Das gehe anders als bisher diskutiert in Richtung einer europäischen Armee, bestätigte Pflüger den Beitrag des US-Magazins in der Tendenz.
„Das Einzige, was falsch ist an dem Artikel, ist dass das geheim abläuft. Die Dokumente sind weitestgehend öffentlich verfügbar. Insofern ist das eine Entwicklung, über die wenige Medien berichten, aber die durchaus bekannt ist.“
Deutschland sei ein „dominanter Faktor“ in den gegenwärtigen militärischen Strukturen innerhalb des europäischen Nato-Teils, der sich auch in der Kooperation der Bundeswehr mit den Armeen der baltischen Staaten zeige.
Der Linkspartei-Politiker und Abrüstungsexperte sieht die Wahl von US-Präsident Donald Trump und den „Brexit“ als „Brandbeschleuniger der EU-Militarisierung“. Auf diese macht die IMI-Gruppe seit Jahren aufmerksam, so jüngst erst wieder mit der Broschüre „Kein Frieden mit der Europäischen Union“. Es werden eigenständige militärische Strukturen geschaffen, was zum Beispiel das beschlossene EU-Hauptquartier zeige. „Wir werden Stück für Stück immer mehr eine Militärmacht Europäische Union bekommen“, beschrieb Pflüger die weitere Entwicklung und betonte mit Blick auf den Lissabon-Vertrag als Grundlage dafür:
„Die Europäische Union ist inzwischen auch ein Militärbündnis.“
So sei zum Beispiel die EU-Beistandsklausel für den Kriegsfall härter als die der Nato. Das gehe allerdings in der Debatte und Berichterstattung über die EU und deren Zukunft unter.
„Gefährliche Entwicklung“
In diesem neuen europäischen Militärbündnis spiele Deutschland und die Bundesregierung „eine ganz zentrale Rolle“. Der neue französische Präsident Emmanuel Macron sei „ein Partner im Geiste, der diese Entwicklung genauso intensiv vorantreiben will“. Es gebe zwar nicht die von Foreign Policy vermutete EU-Armee, so Pflüger, aber „Stück für Stück“ bilde sich in der EU eine Militärstruktur heraus, „die von einzelnen Mitgliedsstaaten deutlicher dominiert ist, insbesondere Deutschland“.
„Ob man das nun europäische Armee nennt oder nicht, ist im Grunde genommen zweitrangig. Es ist eindeutig eine gefährliche Entwicklung.“
Pflüger hält es für möglich, dass der Beitrag des US-Politmagazins ein indirektes Zeichen der US-Politik an die EU ist. Washington habe bisher immer begrüßt, dass die europäischen Nato-Mitglieder mehr Geld für Rüstung ausgeben. Die Herausbildung eigenständiger Militärstrukturen der EU sei aber von jedem US-Präsidenten eher skeptisch gesehen worden, „weil das auch bedeuten kann, dass man in bestimmten Interessengebieten die USA außen vor lässt“. Pflüger erinnerte an den EU-Militäreinsatz im Tschad 2007/2008 unter französischer Führung und mit deutscher Unterstützung ohne die USA. Der Artikel im US-Magazin könne bedeuten:
„Geht da nicht zu weit, treibt es nicht zu bunt in diesem Bereich, aber grundsätzlich ist es nicht falsch, was ihr macht.“
Ähnlich sieht es der Abrüstungsexperte Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS). Er wies auf Nachfrage darauf hin, dass die US-Regierungen seit Ende des Kalten Krieges „ängstlich“ auf jede europäische Zusammenarbeit im Militärbereich reagierten. Zugleich würden die USA aber gegenwärtig parallel zur Nato eigene Übungen mit den baltischen Staaten an der russischen Westgrenze durchführen und selbst eigene Wege gehen. Es bleibt der Eindruck, dass sich da zunehmend auch auf militärischem Gebiet eine Konkurrenzsituation zwischen der EU und den USA entwickelt.
Zunehmend weisen zum Beispiel deutsche Politiker und Transatlantiker daraufhin, dass die EU sich Stück für Stück von den USA abkoppeln müsse. So hatte der SPD-Außenpolitiker Karsten Voigt in einem Vortrag in Berlin im Anfang Mai erklärt, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik müsse dazu beitragen, sich „in kleinen Schritten“ von den USA loszulösen. Das sei auch eines der Projekte der neuen Regierung in Paris und der Bundesregierung.
Im April hatte der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD), bei einer Veranstaltung der transatlantisch orientierten Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) wie andere gefordert, die EU müsse ein internationaler Akteur werden, „auch als militärisches Bündnis“. Er erinnerte daran, dass die „Global Strategy“ der EU von Juni 2016, „noch vor Trump“, das Ziel „strategischer Autonomie für Europa“ beschrieben habe. Damit wurde deutlich, dass die aktuellen europäisch-US-amerikanischen Konflikte nicht erst mit dem neuen US-Präsidenten begannen.