Schweizer Empfehlung: Deutschland soll in Europa führen – aber nicht befehlen

Deutschland ist zu ängstlich, obwohl es eine Führungsrolle in Europa einnehmen könnte. Das stellt der Schweizer TV-Journalist Adrian Arnold in seinem Buch „Deutschland – Der ängstliche Riese“ fest. Im Interview erklärt er, warum Angela Merkel international vorangehen könnte und welche Veränderungen die Wahlen im September bringen können.

Adrian Arnold ist seit 2014 Deutschland-Korrespondent des Schweizer Fernsehens SRF. Sein Buch ist soeben im Verlag Orell Füssli erschienen und wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt.

Herr Arnold, Sie haben ein Buch geschrieben über Deutschland als „ängstlichen Riesen“. Warum sehen Sie Deutschland so?

In meinem Buch vertrete ich die These, dass Deutschland eine stärkere Führungsrolle in Europa einnehmen sollte, weil wir im Moment in Europa eine Situation haben, in der viele andere Staaten schwächeln, in der Deutschland ein Riese geworden ist, politisch und ökonomisch. Das Hauptargument für die These ist eigentlich: Deutschland hat seine Geschichte unglaublich aufgearbeitet, hat durch diese dunkle, schreckliche Geschichte, die es sehr gut aufgearbeitet hat, ein so hohes Bewusstsein für diese Friedensunion Europa entwickelt, dass es heute eigentlich prädestiniert ist, um Europa in diesen schwierigen Zeiten wieder in ruhige Gewässer zu führen.

In Ihrem Buch weisen Sie darauf hin, dass die „deutsche Angst“ immer noch das Land beherrscht. Was meinen Sie, woher das kommt, was der Grund dafür ist?

Mit der „German Angst“ meine ich vor allem, dass man auch ängstlich ist, militärpolitisch zu agieren. Wir haben nach den Terroranschlägen von Frankreich gesehen, als sich eine Anti-IS-Koalition gebildet hat, hat Deutschland mitgemacht, aber wahnsinnig gezögert. Deutschland war ängstlich – wegen seiner Geschichte. Deutschland ist immer noch nicht bereit, diesen Schritt zu machen und zu sagen: Wir beteiligen uns auch militärisch, wir können auch militärisch mitführen, mitgestalten, um Konflikte zu lösen. Das meint der Begriff „German Angst“, die immer noch sehr stark vorhanden ist und der sich gerade an diesem Beispiel ausgedrückt hat.

Angst wovor?

Angst vor der Geschichte bzw. Angst davor, dass diese Geschichte wieder hochlebt auch bei den Anderen in Europa, auf der Welt. Aber Deutschland hat, glaube ich, seine Geschichte so sehr aufgearbeitet und so ein Bewusstsein für diesen Exzess der Geschichte entwickelt, dass es reif ist, heute wieder mutiger und anders zu agieren als es das immer noch tut.

Sie haben bei der Buchvorstellung Franz Müntefering zitiert, der an seinen Vater erinnerte: Nie wieder deutsche Soldaten in anderen Ländern! Was Sie sagen, das klingt danach, dass das „Nie wieder!“ quasi verinnerlicht worden ist, so dass ein Einsatz heute von deutschen Soldaten woanders etwas ganz anderes ist als in der Geschichte …

Genau. Ich glaube, wir haben es gesehen eben auch im Syrien-Konflikt. Da hat sich Deutschland komplett rausgehalten. Angela Merkel hat nie irgendwelche Bemerkungen gemacht, wie man militärpolitisch in Syrien agieren sollte. Das ist diese alte Angst, dieser Komplex, den Deutschland immer noch hat, aber eigentlich nicht mehr haben muss, weil es genau weiß, was eben ein falsches militärisches Führen auslösen kann. Deshalb wäre Deutschland auch mit Angela Merkel prädestiniert, im militärischen Bereich, bei einem solchen internationalen Einsatz wichtig politisch mitzureden.

Was sind Ihre anderen Vorschläge, ohne zu sehr dem Buchinhalt vorzugreifen, wie Deutschland diese Angst überwinden und eine andere Rolle spielen kann?

Ich sage ja: Deutschland soll eine Führungsrolle einnehmen. Führen ist natürlich ein Begriff, der in Deutschland, aber auch bei den anderen in Europa alte Ängste hervorruft – berechtigt, wenn man sich die dunkle Geschichte ansieht. Aber ich meine: Führen heißt nicht befehlen. Führen heißt vorangehen, Ideengeber sein, Organisator, um dieses Europa zu reformieren, das im Moment in sich selbst krankt. Das auch nicht so genau weiß, wie es sich in Zukunft gestalten soll. Das im Moment auch sehr viel Druck hat von antieuropäischen Bewegungen. Da ist, glaube ich, ein Land und eine Kanzlerin, die ein Bewusstsein für Europa entwickelt hat wie sonst niemand für diese Friedensunion, in der richtigen Rolle. Aber entscheidend ist, dass man das richtig macht, dass man alle mit einbezieht: demokratisch führen, auch die Kleinen miteinbeziehen, Mehrheiten schaffen, alle Meinungen anhören – nicht nur Deutschland und Frankreich oder zwei, drei Große.

Ich habe in Ihrem Buch geblättert. Sie machen auch einige wirtschaftspolitische Vorschläge. Die klingen für mich wie eine Fortsetzung dessen, was es schon an Reformen gab, die genau zu der Situation geführt haben, dass andere Länder sich wirtschaftlich erdrückt fühlen von der Stärke des „Export-Weltmeisters“ Deutschland. Das klingt nicht wie wirklich etwas Neues.

Ich glaube, entscheidend ist, dass Deutschland wirtschaftlich stark bleibt. Die Frage ist: Was ist der nächste Schritt, was macht man aus dieser wirtschaftlichen Stärke. Die Reformen, die ich beschreibe, führen meiner Meinung nach dazu, dass Deutschland wirtschaftlich stark bleibt. Aber wirtschaftlich stark sein heißt: Einen Haushaltsüberschuss zu erwirtschaften, aber was macht man mit diesem Überschuss? Wie investiert man den? Da gibt es neuen Handlungsspielraum für Deutschland, in die Infrastruktur, wieder die eigene Wirtschaft durch staatliche Förderung anzukurbeln. Das könnte der nächste Schritt sein.

Der Titel des Buches spricht auch von der „verunsicherten Republik“ und Angela Merkel. Sie sind aktiver Beobachter der politischen Entwicklung in Deutschland. Wie wird die Wahl im September ausgehen? Ist dann Deutschland wieder sicherer, wieder mit einer Kanzlerin Angela Merkel?

Es ist jetzt noch schwierig zu sagen, weil noch sehr viel passieren kann in den nächsten vier Monaten. Egal ob Angela Merkel oder Martin Schulz am Schluss diese Regierung führen wird: Deutschland wird ein Mehrparteiensystem haben wie es das so in der Nachkriegszeit noch nicht gehabt hat. Wir werden wahrscheinlich fünf oder sechs Parteien im Bundestag haben und das erschwert das Regieren wahnsinnig. Das heißt, man wird wahrscheinlich nicht mehr so durchregieren können wie bislang. Das kann dazu führen, dass Deutschland innenpolitisch nicht mehr so stabil nach außen wirkt wie bisher. Das ist dann der Punkt, wo man sagt: Das kann auch außenpolitisch gewisse Schwächen zum Ausdruck bringen, die man bislang so von Deutschland eigentlich nicht gewohnt ist.

Eine letzte Frage kurz zur Alternative für Deutschland (AfD): Sie sind Schweizer, die Schweiz hat Erfahrungen mit rechtspopulistischen, rechtskonservativen Kräften und Bewegungen, siehe die Schweizerische Volkspartei (SVP) und Christoph Blocher. Das kennen Sie alles sehr gut. Wie schätzen Sie die AfD und deren Chancen bei der Wahl ein?

Ich bin sicher, dass die AfD ein sehr großes Potenzial in Deutschland hat. Ich würde das bei bis zu 15 Wählerprozent schätzen, weil es auch in Deutschland Menschen gibt, die nicht europaüberzeugt sind, die die Zuwanderungspolitik der Kanzlerin nicht gut finden, die freie Grenzen in Frage stellen. All das bedient die AfD. Ich glaube, sie hat als demokratisch gewählte Partei eine Legitimation in Deutschland. Das Problem der AfD ist aber, dass sie sich im Moment selbst zerfleischt und aus diesem Potenzial wahrscheinlich nicht das schöpfen kann, was sie eigentlich könnte.